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Fraiisvestiteii
Untersuchung über den
sehen Verkleidungstrieb
mit umfangreichem casuistischen
und historischen Material
von
Sanitätsrat Dr. med. Magnusj^rschfeld
Arzt in Berlin
Presen ted to the
LIBRARIES of tllC
UNIVERSITY OF TORONTO
hy
Dr. John Hoenig
KOVAI. SOCrETY OF MFDICINF
FÜU.NDKI) lti05
INrOUl'OI! VTI’.I) in' ROYAI. CIIARTF.R 1831
NKW CHARTER l')07
(;rFT TO THE LlHExARY
lMU:SHNTl':n HY
Sir Woldon Dalrymple-Cliampneys
September 1972
Digitized by the Internet Archive
in 2016 with funding from
University of Toronto
https://archive.org/details/dietransvestitenOOhirs
Vorwort
Seit langem ist die erste Auflage der „Transvestiten“ ver-
griffen. Auch auf antiquarischem Wege sind nur vereinzelte
Exemplare erhältlich und diese entsprechend ihrer Seltenheit zu
unverhältnismäßig hohen Preisen. Verleger und Verfasser werden
immer wieder ersucht, eine Neuauflage oder wenigstens einen
Neudruck der „Transvestiten“ herauszubringen. Die Zustände
im Buchgewerbe während des Krieges und in den ersten Nach-
kriegsjahren ließen uns davon Abstand nehmen. Jetzt, wo wir
in etwas ruhigere Zeiten zu kommen scheinen, handelt es sich
nun darum, entweder eine veränderte oder" erweiterte Neuauflage
herauszugeben oder einen unveränderten Abdruck in beschränkter
Zahl herzustellen.
Wir wählten aus folgenden Gründen den letzteren Weg.
Der Verfasser ist für die nächsten Jahre mit literarischen Vei'-
pflichtungen so überlastet, daß es ihm gänzlich unmöglich ist,
neben der Leitung des von ihm inzwischen gegründeten „Instituts
für Sexualwissenschaft“ eine Neuauflage vorzubereiten, dann aber,
und das ist das AVesentlichere, ist in der ersten Auflage das
transvestitische Problem nach allen Seiten so erschöpfend behandelt,
daß außer neuen Beispielen kaum über das Wesen des trans-
vestitischen Mannes und Weibes, die Ursachen und Folgen seiner
merkwürdigen Neigung etwas von Bedeutung hinzuzufügeu wäre.
Die wissenschaftlichen Forschungen seit dem Erscheinen des
Werkes haben vollauf unsere hier niedergelegten Auffassungen
bestätigt, und vor allem haben es die Transvestiten selbst getan,
die, seitdem dieses Buch über sie verbreitet wurde, in sehr großer
Anzahl zu mir gekommen sind. Insbesondere die Arbeiten über
innere Sekretion stellen es außer Zweifel, daß es sich hierum
keine rein seelische Angelegenheit handelt, nicht um eingewurzelte
IV
Gewohnheiten, oder gar, wie immer noch einige meinen, um eine
verkappte Form der Homosexualität, sondern daß bei dem Trans-
vestiten ein sexueller Sondertypus vorliegt, eine psychobio-
logische (körperseelische) Variante der Gattung Mensch. Immer
wieder bekomme ich zum Teil sehr überschwengliche Briefe, in
denen Tranvestiten der großen Freude Ausdruck geben, daß
endlich jemand ihr wahres Wesen erkannt und gewürdigt hat.
Diese Anerkennung erfreut mich, aber noch mehr freue ich mich,
daraus zu ersehen, daß die gewonnenen Erkenntnisse vielen
Menschen Ruhe, Selbstvertrauen, Lebenshoffnung und Lebensglück
gebracht haben.
Berlin, 1. März 1925.
Institut für Sexualwissenschaft In den Zelten 10.
Dr. Magnus Hirschfeld,
Sanitätsrat.
Inhaltsangabe
Seiten
I. Casuistischer Teil 3—186
II. Kritischer Teil 187—304
III. Ethnologisch-historischer Teil*) . . . 305—562
I.
A. Einleitung und Fälle
3—158
FaU I .
Fall II
FaU III
FaU IV
FaU V
FaU VI
FaU VII
FaU VIII
FaU IX
FaU X
FaU XI
6—14
15—18
18—25
26—30
31—54
54-58
58—68
68—70
70—73
73—79
79—86
•) Von vielen, namentlich auch den im ethnologisch-historiBchen Teil
erwähnten Transvestiten (wie den „Frauen als Soldaten“), besitze ich cha-
rakteristische bildliche Darstellungen, die zur Dlustrienmg des gegebenen
Textes geeignet wären. Verlag tind Verfasser kamen aber aus verschiedenen
Gründen, vor allem auch um den Umfang und Preis des Buches nicht noch
mehr erhöhen zu müssen, überein, zunächst von Abbildungen abzusehen.
Sollten tmsere Leser jedoch auf die Illustrationen besonderen Wert legen, so
bitten wir dies gütigst dem Verleger oder Verfasser nützuteilen, da wir uns,
falls solche Wünsche in grösserer Zahl an uns heran treten, zur Publikation
eines IV. illustrativen Teils (möglicherweise auch später einer
illustrierten Ausgabe) entschliessen würden.
VI
Fall XII
Fall XIII
Fall XIV
Fall XV
Fall XVI
Fall XVII
B. Analyse der Fälle (Symptomenkomplex) . .
(u. a. Empfindungen der Trans-
vestiten in der Tracht des
eigenen u. in der des andern
Geschlechts — Zeitpunkt des
ersten Auftretens des Verklei-
dungstriebes — Durchführung
der Verkleidung — Verklei-
dungssurrogate — die sonsti-
gen L e b e n s g e w 0 h n h e i t e n der
Transvestiten — ihre Träume
— körperliche Zeichen — Rich-
tung, Stärke u. Betätigungs-
art ihres G e s c h 1 e c h t s t r i e b e s
— die Ehefrauen der Trans-
vestiten — Ellen zwischen männ-
lichen Frauen u. weiblichen
Männern — der erotische
Grundcharakter des Verklei-
dungstriebes — die Abstam-
mung der Transvestiten.)
II.
Differentialdiagnose
a) Geschlechtsverkleidungstrieb
u. Homosexualität
b) Geschlechtsverkleidungstrieb
u. Monosexualität
Seiten
86-100
100-114
115— 116
116- 127
127—138
138—158
159 186
187—257
187—199
199-202
VII
c) Geschlechtsverkleidungstrieb
u. Fetischismus
(Erklärung von Richard Wagners Briefen an
eine Putzmacherin Seite 212 — 219)
d) Geschlechtsverkleidungstrieb
u. Masochismus
e) Geschlechtsverkleidungstrieb
u. Geschlechtsverwandlungs-
wahn (Paranoia)
f) Geschlechtsverkleidungstrieb
u. Zwangsvorstellung
Die Kleidung als Ausdrucksform seelischer Zu-
stände
Die Zwischenstufentheorie
Name, Begriff, Prognose und Therapie des Trans-
vestitismus
III.
1. Symbole der Geschlechtszuge-
hörigkeit (Ursprung der Kleidung) . .
2. Geschlechtsverkleidung, Bibel
(5. Buch Mos. 22, V. 5) u. R e 1 i g i 0 n . .
3. G e 8 c h 1 e c h t s V e r k 1 e i d u n g bei den
Naturvölkern
4. Geschlechts Verkleidung von
Kindern
5. Verbreitung der Geschlechts-
verkleidung
6. Geschlechtsverkleidung als
Strafe
7. Geschlechts Verkleidung u. Ge-
setz
8. Geschlechtsverkleidung u. Kri-
minalität
Seiten
202—219
220—235
235—252
252—257
257—275
275—299
299—304
305-309
310-313
313-330
330—339
339—341
341—342
343—364
364—392
VIII
(u. a. Falschmeldungen — Deser-
tierungen — Diebstähle — Hei-
ratsschwindel — Erbschafts-
schwindei — Verkleidung von
Verbrechern zur Täuschung von
Kriminalbeamten u. von Krimi-
nalbeamten zur Täuschung von
V erbrechern.)
9. Dauer der Geschlechtsverklei-
dung
10. Geschlechtsentdeckung nach
demTode
11. S e 1 b s t m ö r d e r in Geschlechts-
verkleidung
12. Gelegenheiten der Geschlechts-
entlarvung
13. Geschlechtsentdeckung aus nor-
malsexueller Liebe und Eifer-
sucht
(Geschlechtsverkleidimg des Minnesängers U 1-
rich V. Lichtenstein S. 431 — 436.)
14. Kritik angeblicher Verklei-
dungsmotive
(Lebenslauf des Ritters d’Eon S. 438—451.)
15. Geschlechtsverkleidung auf der
Bühne
(u. a. Geschlechtsverkleidung im
Zirkus u. Spezialitätentheater
— Ella Zoyara — Mario Vacano
— der Marquis von Anglesey —
M ä n n e r - 1 m i t a t 0 r i n n e n — die
Vernet in Paris — Vesta Tilley
in London — Frauen in Tenor-
partieen — Frau C o n t i-G e i s s 1 e r
— Felicitas v. Vestvali — erstes
Auftreten von Frauen auf dem
Theater (1 67 0) — Goethe über die
Seiten
392—401
401—414
414—419
420—429
429-436
436—451
451—475
IX
Darstellung von Frauen durch
Männerim italienischen Theater
(1 79 0) — Gervinusüber Frauen-
darsteller auf der Shakespeare-
bühne — Schüler, Studenten u.
Soldaten in Frauenrollen — die
berühmtesten Darstellerinnen
des Romeo u. Hamlet — die soge-
nannten „Hosenrollen“ — die
Geschlechtsverkleidungs-Oper
„A c h i 1 1 e in S c i r o“ — Komikerais
Frauen.)
16. Zur Komik der Geschlechtsver-
kleidung
(Das Geschlechtsverkleidungs-
motiv in der Literatur u. a. bei
Goethe (das Mignonmotiv); Wie-
land; Grimmelshausen; Körner;
Meliere; Calderon; Boccaccio;
Shakespeare; Byron; Voltaire;
Mark Twain — Geschlechtsver-
kleidung im Carneval.)
17. Transvestiten auf Thronen . .
(u. a. Kaiserin Elisabeth von
Russland — Königin Karoline
Mathilde — Christine von Schwe-
den. — die Päpstin Johanna —
Emil August „der Glückliche“.)
18. Einige seltenere Gründe der Ge-
6 c h 1 e c h t s V e r k 1 e i d u n g
(u. a. transvestitische Volksbal-
laden S. 500 ff.)
19. Geschlechtsverkleidung aus Be-
rufsrücksichten .
(u. a. Rosa Bonheur — Madame
Dieulafoy — Esther Stanhope —
— Arbeiterinnen in männlicher
Seiten
475—490
490-495
495—504
504-513
1
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roler Freiheitskämpferinnen —
die Jungfrau von Orleans —
l’Aniazone chretienne — fran-
zösische Kriegerinnen' — Louise
Michel u. Petrowna Blavatzky
— Angela Postowoitoff — die
Poloniza — Hauptmann Durowa
— weibliche Heiduken u. Kosaken
— MichailownaSmolka — woman-
soldiers in der amerikanischen
u. englischen Armee — weibliche
Militärärzte — h.o lländische
Soldatinnen — Catalina de
Erauso us w.)
Schlussbetrachtungen
Seiten
513—516
516—550
550—562
I. Teil.
Casuistik und Analyse.
A. Einleitung und Fälle.
Motto: Es giebt mehr EmpSimiungen
nnd Erscheinungen als Worte
Jede neue Wahrheit vernichtet eine bisher dafür gehaltene
Die schärfsten Folgerungen stürzen in sich zusammen, wenn
die Grundlagen schwanken, auf die sie sich stützten. In der
Geschichte der menschlichen Kultur und Wissenschaft haben
Anschauungen, die zu ehrwürdigen Dogmen geworden waren,
es mehr als einmal erleben müssen, dass sie eines Tages keine
Gültigkeit mehr besessen. Je tiefer wir in die unzähligen Er-
scheinungsformen der Natur eingedrungen sind, um so mehr
Unvorhergesehenes wurde offenbar, um so häufiger haben
wir umlernen müssen. Das ist unbequem und doppelt unan-
genehm, wenn es eich um Voraussetzungen handelt, die zu
Fundamenten staatlicher und sittlicher, gesellschaftlicher und
religiöser Ordnungen geworden sind. Die Vertreter des Alten
haben ein gutes Recht von dem, der an solchen Meinungs-
pfeilern rüttelt, unantastbare Tatsachen zu verlangen, die
jedermann, für den Ehrlichkeit und Ehre gleichbedeutend ist,
nachprüfen kann. Die Vertreter des Neuen dagegen müssen
sehr zufrieden sein, wenn sie Menschen finden, die sich nicht
nur in der Theorie, sondern auch der Wirklichkeit gegenüber
zu der Ansicht bekennen, dass Wechsel und Wandelbarkeit
von Entwicklung und Fortschritt untrennbar sind, Personen,
die wissen, dass „die Weisen gerne vom Irrtum zur Wahr-
heit reisen.“
Die Trennung der Menschheit in eine männliche und
weibliche Hälfte gehört zu den Lehr- und Leitsätzen, die
jedermann in Fleisch und Blut übergegangen sind. Auch die-
1*
4
jenigen, die sich bemühen, Gegensätze wie Kraft und Stoff,
Gott und Natur, Eins und All, Leib und Seele zu verein-
heitlichen, halten an dem Dualismus der Ge-
schlechter unerschütterlich fest und in der Tat sind
auch an sich das männliche und weibliche Agens Realitäten,
deren Zweiheit keinem Zweifel unterliegt. Ihre Wechselwir-
kung ist uns für das Verständnis der Lehensvorgänge heute
unentbehrlicher denn je. Man kann es fast so formulieren;
M. und W. sind das A. und 0. der höheren Wesenheiten —
in Worten ausgedrückt: sie verdanken dem männlichen
und weiblichen Prinzip Ursprung und Gepräge.
Aber verfehlt ist es, stellt man sich beide als zwei
völlig von einander gesonderte Einheiten vor; im Gegen-
teil, die stets vorhandene Verschmelzung beider in
einem, ihr unendlich variables Mischungsverhältnis,
das damit beginnt, dass bereits der männliche Same
und das weibliche Ei jedes für sich mann-weibliche, herma-
phroditische Gebilde sind, dieser Monismus der Ge-
schlechter ist der Kernpunkt für Entstehung und Wesen
der Persönlichkeit.
Doch ich will nichts voraussetzen imd
nichts vorw'egnehmon, was zu beweisen erst meine Pflicht ist;
ich werde im Verlaufe dieses Buches, das eine neue Seite des
Zwischenstufenproblems beleuchtet, noch eingehend auf diese
meine Grundanschauung, der ich bereits eine grössere Reihe
früherer Arbeiten gewidmet habe, zurückkomraen. Es scheint
mir richtiger, dass ich zunächst einmal ohne viele einleitende
Worte die schlichten Tatbestände für sich
reden lasse, erst dann Schlüsse ziehe, Erläuterungen gebe und
Erwägungen anstelle, ob und inwieweit das Gefundene unsere
Anschauungen zu erweitern und zu verändern geeignet ist.
Ich gestehe, dass auch mir die merkwürdigen Befunde,
die ich hiermit der Oeffentlichkeit übergebe, auf meinem Ar-
heitswege überraschend gekommen sind; zwar musste, wer
sich intensiver mit den sexuellen Varietäten und ihren Ge-
setzen beschäftigt hat, bei objektiver Betrachtung grosser
Unter suchimgsreihen immer wieder neue Mischungsarten, neue
Typen erwarten, er musste gefasst sein, dass er schliesslich
5
auch Männern und Frauen begegnen würde, die trotz völlig
normalsexueller Triebrichtung psychisch starke Einschläge des
anderen Geschlechts aufw'eisen würden, aber, obwohl ich selbst
diese theoretische Möglichkeit hervorgehoben habe, befremdete
es mich doch, als ich bei meinen Zwischenstufenstudien jene
seltsamen Menschen genauer kennen lernte, von denen in dieser
Arbeit die Rede sein soll. Bei den zuerst beobachteten Fällen
(X und XII) glaubte ich noch, dass es sich vielleicht um
Selbsttäuschungen handeln könne, dass beispielsweise bei
einem Manne das eigene Weibgefühl, bei einer Frau das männ-
liche Empfinden so sehr im Vordergründe stehen könne, dass
demgegenüber der eigentliche Sexualtrieb, der bei vielen der ge-
geschilderten Personen tatsächlich nur schwach zu sein scheint,
so zurücktritt, dass seine Richtung nicht deutlich bewusst
wird, aber sehr bald überzeugte ich mich doch, dass hier die
Liebesneigungen dem körperlichen Habitus im wesentlichen
adäquat sind, während der seelische Zustand dem Geschlechts
entspricht, zu dem sich die Betreffenden hingezogen fühlen.
Zu den Fällen selbst sei noch vorbemerkt, dass ich die
meisten von ihnen viele Jahre, einige 10, 12 Jahre und länger
verfolgt habe. Mit Ausnahme von Fall XV, der mir vom Kolle-
gen Lubowski überwiesen wurde und XVII, der sich zunächst
an Kollegen Iwan Bloch gewandt hatte, war bei allen der
Gang so, dass sie mündlich oder schriftlich an mich heran-
getreten waren und dann von mir zu recht eingehenden Auto-
biographien aufgefordert wurden, die sie völlig unbeeinflusst
und unabhängig voneinander verfassten. Diese wurden, soweit
irgend möglich, durch sorgsame Befragungen, Untersuchungen
und vorsichtige Nachforschungen ergänzt. Viele sah ich in
ihrer männlichen und weiblichen Lebensgestaltung, in Männer-
und Frauentracht. Die meisten wurden auch Kollegen zur
Exploration und Nachprüfung vorgestellt.
Die hier veröffentlichten Lebensbeschreibungen sind, wenn
auch in der Schilderung einheitlich erscheinend, aus den ver-
schiedenartigsten zum Teil sehr umfangreichen Aufzeichnungen,
mündlichen Angaben und persönlichen Befunden zusammenge-
stellt, mit möglichster Wahrung des jedesmaligen Original-
gepräges.
6
Fall 1.
Herr A., Kaufmann, ca. 30 Jahre alt, stammt von ge-
sunden Eltern. Anzeichen von Triebabweichungen oder De-
generation in der Verwandtschaft sind nicht nachweisbar. Die
körperliche Kindheicsent Wicklung war normal. Obwohl er an
Knabenspielen teilnahm, zog er doch Häkeln, Stricken und
Puppenspiele vor. Sein Aussehen soll immer etwas mädchen-
haft gewesen sein. In der Schule zeigte er gute Fähigkeiten.
Die Geschlechtsreife trat angeblich erst anfangs der zwan-
ziger Jahre ein. Die Stimme war immer ziemlich hoch, ging
erst Mitte der Zwanziger etwas herab. Bartwuchs stark.
Status praesens: Hüften männlich, Kon-
turen mehr mager, Hände und, Füsse von mittlerer Grosse;
neigt zu Fusstouren, Tauzen. Radfahren und Schwimmen.
Schritte gross und schnell. Hautfarbe weiss, zart, glatt. Eine
Phimose mittleren Grades wurde durch Circumcision beseitigt.
Haupthaar kräftig, Körperbehaarung unbedeutend. Wird leicht
blass. Schmerzempfindlichkeit gross. Ohren klein. Kehl-
kopf wenig hervortretend; Stimme hoch, ungeziert, neigt
zum Sprechen in Fistelstimme, singt So-
pran. Besitzt starke Empfänglichkeit für Affekte. Neigung
zum Weinen, auch zu nervösen Lach- und Weinanf allen;
schreibt sich Zärtlichkeit. Gutmütigkeit und Selbstaufopfe-
rung zu. Ist sehr ordnungsliebend, gemächlichem Leben nicht
abgeneigt; raucht gar nicht, verträgt wenig Alkohol. Hat
etwas Neigung zu Schauspielkunst, Talent fiir Musik. Von
geschichtlichen Persönlichkeiten interessieren ihn besonders
Nero, Napoleon, George Sand, Bismarck, Kaiser Friedrich.
Liest viel Romane und wissenschaftliche Werke; ist Frei-
maurer.
Vita sexualis. Aus seinen Aufzeichnungen sei
folgendes entnommen:
„Aus den Kinderjahren habe ich nur sehr dunkle Erinne-
rungen, als 2 — Sjähriges Kind soll ich in einem blauen Kleid-
chen mit weissem Spitzenbesatz allgemein bewundert worden
sein, weil es zu dem blonden Haar und blauen Augen so gut
stand. Die Schule besuchte ich anfangs, etwa ein Jahr lang,
7
nur mit Widerstreben, oft gab es Schläge, und man brachte
mich fast mit Gewalt hin. Der Grund meiner Abneigung mag
vor allem aus dem mürrischen, barschen Wesen des Lehrers
entsprungen sein, dessen finsteres Gesicht mir Furcht ein-
flösste.
Später wurde ich einer der fleissigsten Schüler, und bin
gern in die Schule gegangen. Ausser Knabenspielzeug habe
ich stets meine Puppe gehabt. Sie wurde an- und ausge-
kleidet, und überhaupt regelrecht mit ihr gespielt. Meine
Mutter und Schwester fertigten viel Handarbeiten, für die
ich reges Interesse bekundete. Ich lernte daher
selbst häkeln, und brachte mit ziemlicher
Geschicklichkeit hübsche Häkelarbeiten
in Wolle und Zwirn zustande. Später
dehnte ich meinen Handarbeitseifer auch
auf Stickereien aus, sodass bald manches
Produkt meiner fleissigen Nadel unser
Heim zierte.
Sonst habe ich an allen Knabenspielen teilgenommen, nur
das „Klettern“ habe ich bis zum heutigen Tag nicht kapieren
können. Pfeifen kann ich sehr gut, darin bin ich ganz Mutters
Sohn, denn meine Mutter konnte ausgezeichnet pfeifen. Seit
meiner frühesten Kindheit hegte ich den
Wunsch, Mädchenkleider anzuziehen. Ich
habe mir im Alter von ungefähr 12 — 13 Jahren gelobt,
diesem Wunsch oder Drang später, sobald es mir meine
pekuniären Verhältnisse gestatten sollten. Genüge zu tun.
Als ich heranwuchs, bin ich oft wegen meiner hohen Stimme
und meines mädchenhaften Aussehens gehänselt worden.
An meine Jugendzeit zurückdenkend, sehe ich mich im
Kreise meiner Spielgefährten, Mädchen und Jungen aus der
Nachbarschaft, wie wir aus Eichenlaub Kränze und Guirlanden
^v•inden und uns damit als Braut und Bräutigam schmücken,
den Brautzug markieren usw. Oft war ich der Bräutigam,
manchmal habe ich mich aber auch als Braut schmücken
lassen. Meine liebsten Spielgefährtinnen waren zwei Mädchen,
Johanna und Maria. Mit ihnen habe ich bis zur Beendigung
der Schulzeit alle Freuden und Leiden getragen, wir sind
8
sozusagen zusammen erzogen worden. Wurde icli oft von den
Jungen als „Mädchenpfist“ (ein in der Heimat gebräuchlicher
Ausdruck) verspottet, so antworteten wir wohl mit dem
Kindervers :
„Mädchen tragen goldene Kränze,
Jungen kriegen Rattenschwänze,
Mädchen kommen ins Himmelreich,
Jungen in den tiefen Teich.“
(Jungen sangen umgekehrt.)
Später machte ich mir aus den illustrierten Katalogen
grosser Firmen, wie Gerson usw., Puppenstuben, schnitt die
Kostümbilder, Möbel, Betten aus, klebte alles in gehöriger
Anordnung in ein Buch, und stellte mir so Salon, Schlaf-
zimmer, Küche usw. zusammen. Die Kostümbilder wurden in
den verschiedenen Zimmern verteilt, zu Bett gebracht, an-
und ausgekleidet, und dergleichen mehr. Nahmen meine Ge-
spielinnen ihre Handarbeiten vor, so holte auch ich meine
Häkelei oder Stickerei herbei.
Unter all’ meinen Spielsachen bevorzugte ich meine
Puppe immer am meisten. Als mir eines Tages von Mutter
und Schwester erklärt wurde: „das ist das letzte Kleid, das
du für deine Puppe bekommet, so ein grosser Junge soll sich
schämen, noch mit Puppen zu spielen“ schlich ich mich aufs
tiefste bekümmert davon.
Im Alter von etwa 13 Jahren hatten die Mädchen von
den Geschlechtsunterschieden gesprochen, auch meine Freun-
dinnen erörterten das Thema mit mir, und wir zeigten ein-
ander unsere Genitalien, doch haben wir wohl keinerseits
irgendwelche Erregung verspürt. Meine Gespielinnen be-
handelten mich ganz als ihresgleichen, wir hatten keine Ge-
heimnisse vor einander. Zu Geburtstagen und
Weihnachten beschenkte ich sie stets
mit selbst angefertigten Handarbeiten,
und bin darauf nicht wenig stolz gewesen.
Nach der Konfirmation wurde ich durch die Lehrjahre
etwas abgelenkt, doch war mein Interesse für weibliche An-
gelegenheiten unvermindert und ich verfolgte die Mode-
zeitungen usw. In dieser Zeit las ich eine Beschreibung über
9
die Toilette einer reichen Römerin, wurde dadurch sehr auf-
geregt (im Gemüt, nicht geschlechtlich) und mein ganzes
„Ich“ drängte mich zu weiblicher Tätigkeit. Ich wollte
so herzlich gern ein Mädchen sein und
träumte oft mit offnen Augen davon,
schmiedete Pläne für die Zukunft usw. Oft sah ich mich
im Traum als Mädchen und heute, nach ca. 14 Jahren sind
mir noch die Gemächer erinnerlich, in denen ich leben wollte,
oder von welchen ich träumte.
Als ich nach vollendeter Lehre in eine andere
Stadt versetzt wurde, brannte ich mir die Haare
(mein Innerstes trieb mich dazu) und zog unbe-
obachtet jedes erreichbare weibliche
Kleidungsstück an; oft bin ich des Nachts
aufgestanden und habe versucht, aus der
Garderobe ein Kleidungsstück der Haus-
wirtstochter zu erlangen.
Wie oft habe ich vor dem Fenster einer schönen Aristo-
kratin gestanden und gewünscht, die Gesellschafterin oder
das Kammermädchen derselben zu sein. Fand ein
Hofball statt, so war ich gewiss zur Stelle, um mein Ideal
abfahren zu sehen und die Toilette zu bewundern. Stunden-
lang bin ich unauffällig feinen Damen gefolgt, habe die-
selben beobachtet, die Bewegungen studiert und mich an deren
Anblick ergötzt. Um meinen Drang einigermassen zu stillen,
kaufte ich meinen dürftigen Kassenverhältnissen entsprechend
ein billiges Korsett (1,50). Ich habe dasselbe tagelang, dann
ab und zu getragen. In dieser Zeit wurde ich im Geschäft
wegen meiner hohen Stimme und meines mädchenhaften Aus-
sehens oft gehänselt. Den Modeblättern wandte
ich meine ganze Aufmerksamkeit zu und
habe vor allen Dingen die Schaufenster
der Damenkonfektions-Geschäfte täglich
besichtigt.
Meinen Angehörigen und meiner sonstigen Umgebung
habe ich meinen Hang, Damenkleider zu tragen, streng
verheimlicht und alles vermieden, was mich verraten
könnte. Bald wurde ich wieder in eine andere Stadt ver-
10
schlagen, wo ich zum ersten ^lal heisse innige Liebe empfand.
Meine Angebetete kannte mein Interesse
für Damenkleider und lieh mir öfters
einige Kleidungsstücke. im Jahre löOO war
ich lest entschlossen, als Dame zu leben, besonders seit
mir der Lebenslauf der schönen Kunstreiterin Ella bekannt
geworden war, doch ging das wegen meiner kleinstädtischen
Unerfahrenheit und meines Geldmangels nicht gut. Ich machte
zwar einige Versuche und schrieb auch an eine bekannte
Künstlerin, offenbarte ihr mein Innerstes und bat dieselbe,
mich als ihre Gefährtin aufzunehmen und mich in ihrer
Kunst zu unterrichten.
Der Brief kam, heute sag' ich Gott sei Dank, denn ich
hätte mich doch blamiert, unbestellbar zurück, und ich ver-
nichtete denselben. Auch schämte ich mich meines Dranges
nach weiblichen Angelegenheiten und versuchte ihn ganz
energisch zu bekämpfen. Ich reiste einige Jahre, verfolgte
zwar auch da alle diesbezüglichen Angelegenheiten, doch hatte
ich nie Gelegenheit, mich praktisch damit zu befassen.
Ais ich meine Kontortätigkeit wieder aufnahm, wurde
mein Wunsch nach Damenkleidern stärker
als je, und ich wandte mich schliesslich an einen in der
Presse lobend erwähnten Damendarsteller mit der Bitte, mir
ein Kostüm abzulassen. Nach längeren Verhand-
lungen erhielt ich einige Monate später
ein Kostüm, und ich konnte mich gerade
an meinem Geburtstage zum ersten Male
von Kopf bis zuFuss vollständig als Dame
ankleide n. Obwohl mir das Kleid nicht auf den Körper
passte, zog ich alle die reizenden Toilettenstücke fast täglich,
später einige Male wöchentlich abends in der Stille meines
Zimmers an, und war selbstverständlich glück-
lich wie nie zuvor. Später Hess ich mir das Kostüm
abändern und konnte mit Lnterstützung einer Schneiderin
einen Maskenball besuchen. Wie überaus selig war
ich, als ich dem Lokal zu fuhr und beim
Eintreffen ganz als Dame behandelt wur de.
Ich tanzte viel, wurde von den Herren beschenkt und ver-
11
lebte einige der glücklichsten Stunden meines Lebens. Später
Hess ich mir noch ein Gesellschaftskleid
machen und zog es ebenfalls in der Stille
meines Zimmers an.
In der Folgezeit bekämpfte ich meinen Drang nach
Damensachen aufs ausserste; ich schloss meine Kleidungsstücke
weg, und habe mich 4 Wochen, ein Vierteljahr, ja sogar noch
länger nicht damit beschäftigt. Kam der Drang, so bin ich
allen möglichen Zerstreuungen nachgegangen und habe in einer
Zeit besonders viel (d. h. für meine verhältnis-
mässig schwache Anlage viel) Geschlechtsver-
kehr gepflegt.
Den ersten Koitus übte ich mit 24 Jahi’en aus, habe
dann aber aus Angst vor Geschlechtskrankheiten kein Ver-
langen darnach gehabt, weil ich mir nämlich gleich das erste
Mal eine Gonorrhoe zuzog. Vier Jahre habe ich
mich jeden Verkehrs enthalten. Eine Phimose
l i e s s ich inzwischen beseitigen.
Den Geschlechtsverkehr übte ich aus, weil ich
glaubte, dadurch von meiner Leiden-
schaft befreit zu werden. Ist dies auch gelegent-
lich gelungen, so kehrte der Drang doch stärker zurück, und
ich habe viel unter wechselnden Stimmungen gelitten. Infolge
aufreibender Tätigkeit wurde ich dann so hochgradig nervös,
dass ich eine längere Erholung nötig hatte. Als ich vom Ur-
laub zurückgekehrt war, drängten geschäftliche Sorgen den
Trieb in den Hintergrund. Weiterhin suchte ich ihn hart-
näckig zu bekämpfen; ichliess mir einen Spitz-
bart stehen, damit ich nie in die Ver-
suchung käme, als Dame auszugehen.
Letzteres war immer mein Wunsch; stets war ich über-
zeugt, dass ich eines schönen Tages alles
Kämpfen aufgeben und nur meinem Drange
leben würde. Endlich packte es mich so heftig, dass
ich mich schliesslich an einen Arzt wandte.“ — —
Soweit der ungefähre Wortlaut des Herrn A. Da er sich
sehr zurückgezogen hält, allem Exzess und allem Auffallendem
abgeneigt ist, da ferner seine Libido so gering ist, dass sie
12
sich nur dreimonatlich einmal äussert, so wurde ihm der
Versuch angeraten, einige Zeit in Frauenkleidern zuzubringen,
um seinen Zustand höchst quälender Unruhe zu
beseitigen.
Nach langer Vorbereitung, nachdem er seine geschäftlichen
Verpflichtungen geregelt und sich eine jener teuren, aber gut-
sitzenden Perücken zugelegt hatte, fuhr er in eine ent-
fernte Stadt und brachte, als Dame ge-
kleidet, einige Wochen in einer Pension
zu, deren Inhaberin von allem unterrich tet
war. Seinen Aufenthalt dort mögen einige Tagebuchnotizen
illustrieren:
„Nach dem Kaffee las ich erst die neuesten Ereignisse,
wurde dann von Frau E. in die Geheimnisse des Wäschelegens
eingeweiht, übernahm dann das Tischdecken und sonstige
kleinere Wirtschaftsarbeiten.“ —
„Ich bedaure immer, dass ich vordem
Schlafengehen die Kleider ablegen muss,
darum schiebe ich die Zeit immer länger
hinaus und empfinde jede Verlängerung
als eine Wohltat, ist es mir doch beim
Tragen der Kleider so wohl und mollig
zu Mute.“ —
„Von heute kann ich nicht viel berichten. Im Laufe des
Vormittags war ich tätig, oder vielmehr, ich suchte mich in
der Küche durch allerlei Handreichungen beliebt zu machen.
Nachmittag erhielt ich einige Briefe, deren Beantwortung
längere Zeit in x\nspruch nahm. Zum Abend hatten wir
meine Gönnerin Frau M. als Gast. Bei Speise und Trank,
und vor allen Dingen bei fröhlichem Geplauder verging die Zeit
wie im Flug; wir hatten uns alle um den Sofatisch im Wohn-
zimmer gruppiert und konnten den reizenden Gesprächen und
Gedichten Frau M.’s, welche eine nicht unbekannte Dichterin
ist, lauschen. Ich knackte den Dam.en die Nüsse auf, und
fühlte mich in deren Mitte so recht von Herzen wohl, so
ganz wie es meinem Wesen entspricht. Ich kann mich nicht
erinnern, jemals als Herr in einer Herrengesellschaft einen der-
artig genussreichen Abend verlebt zu haben.“ —
13
„Nach dem Abendessen schrieb ich einige Briefe, bis Frau
E. und Sch. zuriickkehrten, und für mich eine grosse Ueber-
raschung mitbrachten, nämlich zwei Toiletten von einer Hof-
dame der Prinzessin X. Beide Toiletten aus Seide, Atlas und
Chiffon probierte ich nun und behielt das ausgeschnittene Ge-
sellschaftskleid an, während Frau Sch. die Haustoilette an-
zog. Frau E. als Russin gekleidet kredenzte uns noch Kaffee
und wir verbrachten bei Musik, Gesang und Tanz herrliche
Stunden, es war im Handumdrehen zwölf Uhr geworden. I n
dem herrlichen Kostüm habe ich mich so
recht wohl gefühlt, das feine Parfüm
und das Rauschen der seidenen Unter-
röcke war Musik in meinen Ohren, aber
auch die Damen bewunderten meine ganze
Erscheinung und vor allen Dingen den
Hals und Nacken. Nie wollte ich lieber eine Dame
sein, als heute Abend und darum habe ich mich auch mit so
rechter Innigkeit ausgekleidet. Nachdem ich alle Flammen
des Kronleuchters aufgedreht hatte, stellte ich mich mitten
vor den Spiegel und streifte das herrliche Kleid ab, dann die
Spitzenunterröcke sowie das Korsett. Nach jedem Gegenstand
eine längere Pause, ein Blick auf das Genossene, ein Blick
auf das Kommende. Meine Höschen bauschen sich zierlich um
die Schenkel und ihre hellblauen Schleifchen zwischen den
Spitzen herab. Nun fiel auch das Beinkleid — und ich
streifte mein Nachtgewand über. Kann es für mich noch etwas
Schöneres geben? Wohl nicht! — —
Das Endergebnis dieser harmlosen Probe war für Herrn
A. recht günstig. Die Depression war geschwunden, und er
zehrte noch lange von der nachhaltigen Erinnerung des ver-
lebten Glücks. Lusthandlungen irgend welcher Art sind
während dessen nicht vorgefallen.
Der Eindruck, den er im Kostüm macht, ist verhältnis-
mässig echt. Der bläuliche Schimmer der Rasur macht nur
einen Schleier notwendig. Aufsehen hat er nirgends erlebt,
selbst auf den Hauptstrassen der Gressstadt nicht. Höchstens,
dass ihm „als Fräulein einige Herren nacbstiegen“, was ihm
über die Massen fatal und widerwärtig war.
14
Seine erotische Psyche ist ganz minimal mit Masochis-
mus versetzt. Darauf weist sein oben aus gedrückter Wunsch,
das „Kammermädchen einer schönen Aristokratin“ sein zu
dürfen. Ferner liest er ab und zu gern ein masochistisches
Buch, besonders hat ihn die Novelle „Weiberbeute“ von L.
Fraumann interessiert, welcher Autor in unserer Kasuistik
als Fall III vertreten ist. Ausserdem aber ist ihm bei ein-
gehender Exploration etwa beeinflussender Momente einge-
fallen, er habe in der Schule, als die Passionsgeschichte vor-
getragen wurde, Erektionen verspürt. Dies habe sich zuweilen
wiederholt, wenn von einer Strafe oder Misshandlung ge-
sprochen wurde.
Seine Traumbilder bezogen sich immer
auf „hübsche Damen“. Pollutionen fanden in weiten
Zwischenräumen statt, nach seiner Ansicht besonders, wenn
er abends zuvor gut gegessen und getrunken hatte. Zwischen
22 und 24 Jahren traten sie häufiger auf, d. h. alle 3 bis 4
Wochen. Einmal erblickte er sich selber
als Dame, und in dem Moment, als er
sich den Schleier umbinden wollte, er-
folgte die Pollution.
Zur Kohabitation bevorzugt er Weiber mit gut ent-
wickelter Mamma, überhaupt gut genährte Frauen mit runden
Formen. Etwas Vorliebe besteht für blondes Haar. „Aus-
schweihmgen“ und Perversitäten sind ihm verhasst; doch
macht er in coitu gern den succubus.
Obszöne Reden sind ihm ein Greuel; er hat indessen
unter Freunden oft mit gehalten, um als „ganzer Kerl“ zu er-
scheinen. Beim Anziehen von Kostümstücken erfolgt keine
Erektion, nur zieht ein „molliges Gefühl“ durch seinen Körper.
Sein Interesse richtet sich auf das ganze
Kostüm, ohne Bevorzugung von Einzel-
stücken der Toilette.
15
Fail !1.
Herr B., 35 Jahre alt. verheiratet. Zur Frage der De-
generation lässt sich in Verwandtschaft und Vorfahrenreihe
nichts ermitteln. Da er als Kind sehr schwächlich war und
sämtliche Kinderkrankheiten durchmachte, so lernte er spät
gehen, indessen zeitig sprechen und noch vor Schulbesuch
lesen. War ängstlich und weinerlich. Masturbation vom 11.
Jahre an. Nahm meist an Knabenspielen Teil,, hatte aber
auch Gefallen an mädchenhaftem Benehmen. War geistig
immer sehr rege und eignete sich eine umfassende Bildung an.
Neigte zu Schwärmereien und dichterischer Stimmung.
Status praesens: Figur von mittlerer Grösse
Konturen mehr mager. Hände und Füsse klein. Muskulatur
schwach entwickelt. Liebt Tanzen und Reiten. Haut weiss
und rein. Eine Phimose besteht und macht zeitweilig Be-
schwerden. Haupthaar im Ausgehn begriffen, Körperbehaarung
und Bartwuchs mittelstark. Errötet und erblasst leicht. Kehl-
kopf stark vortretend, Stimme tief. Ist lür wechselnde
Stimmungen zugänglich, neigt zur Bequemlichkeit, betreibt
nur die „Beschäftigungen, die ihm liegen“, da seine Verhältnisse
dies gestatten. Trinkt ziemlich viel, ohne es immer gleich gut
zu vertragen. Raucht 50 — 80, ja 100 Zigaretten täglich. Ge-
dächtnis lässt nach, Phantasie üppig. Hat allerhand künstle-
rische und wissenschaftliche Passionen. Möchte einen Beruf
haben, der ihm das Reiten und das Tragen von Damenkleidern
gleichzeitig gestattet.
Vitasexualis: xkus den Aufzeichnungen des Herrn
B. entnehmen wir folgende Einzelheiten:
„Bereits in meiner zartesten Kindheit,
noch lange vor dem schulpflichtigen Alter, äusserten sich boi
mir die Vorzeichen meines seelischen Dualismus. Und zwar
in der Weise, dass mich weibliche Kleidungsstücke (meist die
Schüi'zen meiner Schwestern) unwiderstehlich verlockten, sie
im Geheimen anzulegen. Später begann ich mich auch für
Ohrringe zu interessieren, trotzdem mir bei andern Männern
sowohl Ohrringe wie Schürzen (z. B. bei Handwerkern) höchst
komisch vorkamen und ich überhaupt eine echt knabenhafte
16
Verachtung alles Weiblichen zur Schau trug, was mich nicht
hinderte, eben dasselbe insgeheim für meine Person zu
wünschen. Ich möchte behaupten, dass dieser Gegensatz nicht
auf Verstellung und Scheinheiligkeit beruhte, sondern , die not-
wendige Folge meines inneren Dualismus war. Nebenbei; ich
war ein sehr aufgeweckter, begabter Junge, der bereits auf
der Volksschule den Pegasus zu besteigen wagte.“
„Ungefähr in meinem 10. oder 11. Lebensjahre verspürte
ich eines Tages, als ich nach Knabenart auf einer Wagen-
deichsel turnte, plötzlich ein heftiges Lustgefühl und die
Onanie war für mich erfunden. Seither wiederholte ich dies
Experiment so oft wie möglich. Stets verband sich
damit die Vorstellung vom Verkleiden.
Diese und später ähnliche Manipulationen waren ursprünglich
sozusagen rein reflektorisch, denn in meiner absoluten Un-
kenntnis von allem, was Geschlechtsleben heisst, wusste ich
lange Jahre nicht, dass ich damit eigentlich Onanie treibe.
„ Als Student empfing ich mehrfach Eindrücke, die
mich weiter auf die Bahn des Puellismus,
wie ich es nannte, hindrängten. So las ich
von Achill in Mädchenkleidern, sah den ersten Damenimitator,
und dergleichen mehr. Ohrringe bei Männern und Frauen,
überhaupt die Damentoilette, übten in diesen Jahren auf mich
eine immer stärkere Wirkung. Ich fand öfters Ge-
legenheit, heimlich Damenkleider anzu-
legen und versuchte, mir die Ohrläpp-
chen zu durchstechen. In meiner Einfalt liess ich
aber den frischgestochenen Wundkanal immer wieder zuheilen;
ich schärfte daher die Haken der Ohrringe an und stiess mir
solchergestalt die Ohrläppchen immer wieder von neuem durch,
was ich wohl einige hundertmal getan haben muss. Weit
entfernt, dies als Schmerz zu empfinden, verspürte ich viel-
mehr stets ein derartiges Wollustgefühl dabei, dass ich mir
sehr oft einzig deswegen die Ohrläppchen durchstach, auch
wenn ich keine Ohrringe zur Hand hatte.“
„Uebrigens verliebte ich mich damals, gleich meinen
Kameraden, nur etwas später als sie; als träumerische Seele
stand ich meinen Kollegen in praktischer Hinsicht überhaupt
17
immer nach. Obwohl ich meine Geliebte (natürlich stets
nur ein Mädchen) mehrfach wechselte, so blieb es doch
immer bloss bei schüchterner Anbetung. Schon damals
mischte sich in meine Liebesträume die
stets wiederkehrende Vorstellung, die
ich so gern auszuspinnen pflegte, dass
ich nämlich gleich dem geliebten Mädchen
auch Mädchenkleider, lange Haare und
Ohrringe trage und wir beide gegenseitig
alle diese schönen Sachen bewunderten.
Ein Traum, der nun endlich in meinem
32. Jahre wenigstens für Augenblicke zur
Wirklichkeit wurde.“
„Als ich mit 16 Jahren das Gymnasium verliess, fand
ich nicht nur im Vaterhause mehr Gelegenheit zur Verklei-
dung, ich konnte mir sogar nach und nach, natürlich heim-
lich, eine komplette Damengarderobe be-
schaffen, Kleider, Mieder, Unterröcke,
Hemden, Höschen, Perücken, Schmuck,
freilich hier in erster Reihe viele Paar
Ohrgehänge. Vorerst behielt ich für Ohrringe die oben
erwähnte Methode des Neueinstechens bei, die manchmal für
mehrere Tage genügte. Endlich kam es dahin, dass die Oeff-
nung nicht mehr zuheilte, und ich konnte die Ohrringe nun
jederzeit einhängen. Anfangs mischte sich bei dieser Wahr-
nehmung in meine Freude ein gut Teil Angst und Scham,
weshalb ich mir lange Zeit noch die Löcher in den Ohrläpp-
chen zu verstopfen pflegte, während ich sie jetzt gewisser-
massen ostentativ zur Schau trage.“
„Ich verkehrte viel mit jungen Damen; am liebsten aber
unterhielt ich mich mit ihnen von weiblichen Angelegenheiten,
besonders von Kleidern und Schmuck, wobei es mir schmei-'
chelte, wenn sie meine Olirlöcher bemerkten und mir manch-
mal ihre Ohrringe hineinhängten. Dies ist für mich einer der
höchsten Wollustmomente.“
„Den Koitus übte ich erst nach meinem 20. Jahre aus:
dazu musste ich noch meine Schüchternheit und meine Ab-
neigung gegen alles Körperlich-Sexuelle
H i r RC h fei rt, Die Transvestiten. 2
18
mit Alkohol betäuben. So blieb es auch in der Folge, bis
ich ein Liebchen fand, bei dem ich manchmal und öfter auch
nüchtern die nötige Anregung verspürte. Doch spielten auch
hierbei Kleider und Ohrringe eine bedeutende Rolle, und mein
Mädchen lernte so sehr den stimulierenden Einfluss der Ohr-
ringe schätzen, dass sie mich jedesmal ante actum zum Ein-
hängen der Ohrringe ermahnte resp. dies selber besorgte.
„Wenn ich nun auch seit Jahren permanent, (d. h. auch
zur Männerkleidung) Mieder, Damenstrümpfe mit Strumpf-
bändern, Armbänder, manchmal auch Damenhemd, Damenhös-
chen, Halsband, event. (in der Fremde) sogar Ohrringe trage,
so wuchs doch stets mein Wunsch, mich einmal öffentlich in
Damenkleidern zu sehn und darin photographieren zu lassen.
Mein Liebchen ermöglichte mir dies, und so besuchte ich mit
ihr 1905 einen und 1906 drei Bälle im Damenkostüm; des-
gleichen Hess ich mich mehrfach photo-
graphieren, für michunvergessliche Stun-
den. Bevor sienoch meine Frau wurde, was
vor kurzem geschah, versprach sie mir
freiwillig, sich meiner Eigenart in der
Ehe nicht zu widersetzen, sondern sie
nach Möglichkeit zu fördern. Sie hält auch
ihr Wort. Sind wir ganz allein in unserer
Behausung, lässt sie mich ihre Kleider an-
ziehn, und auch sonst gibt sie mir täglich
zum Schlafengehn Damenhemd, Nacht-
jacke und Ohrringe.“
„Zu Männern habe ich nie Neigung ver-
spürt; bloss als Dame verkleidet habe ich g e r n mit
ihnen kokettiert und gespasst. Wenn ich für eine Dame
gehalten wurde, schmeichelte es mir sehr. Unter meinen Stu-
diengenossen habe ich einen, der mir seine Vorliebe für Ver-
kleidung eingestand.“
Fall III.
Herr C., zwischen 40 und 50 Jahre alt, ausübender
Künstler. Triebabweichungen oder neuropathische Erschei-
19
nungeii sind in der Familie nicht nachweisbar. Die Eltern
wurden ziemlich alt; unter den Vorfahren heirateten keine
Blutsverwandten. Ein Vetter soll femininen Eindruck machen.
Die Kindheitsentwicklung verlief ohne Besonderheiten,
Merkwürdig ist, dass er bis zu den Schuljahren Mädchen-
kleider trug, ja auch später noch in den Ferien (siehe unten).
Die geistigen Fähigkeiten waren immer gut, Literatur und
Kunst interessierte ihn stets am meisten. Erst mit 20 Jahren
traten sexuelle Regungen auf; auch mutierte damals erst die
Stimme in unerheblichem Masse. Bartwuchs mit 25 Jahren.
Status praesens; Figur schlank, mager; Kon-
turen eckig. Hände und Füsse kräftig. Muskulatur normal
entwickelt, aber weich. Schritte klein und fest mit sicht-
barem Drehen in den Hüften; Haltung etwas vornüber ge-
neigt. Hautfarbe rein, weiss und glatt. Kopfhaar sehr stark
und lockig; Bartwuchs schwach. Schmerzempfindlichkeit ziem-
lich gross. Blick ruhig. Gesichtsausdruck männlich. Kehl-
kopf normal, Sprechstimme einfacher Tenor; Neigung zu
Fistelstimme vorhanden.
Gefühlsleben weich, rührselig, mit wechselnder Stimmung.
Liebt seine Ordnung, ist arbeitsam und anspruchslos, unbestän-
dig, aber doch hartnäckig. Bildung der Tätigkeit entsprechend
vertieft; Phantasie lebhaft. Plato, Wagner, Nietzsche inter-
essieren ihn am meisten.
Vita sexual! s. Sein Geschlechtstrieb
war immer auf das Weib gerichtet; und
der Verkehr ist nur mit dem Weibe mög-
lich. Der Gedanke an homosexuellen Verkehr ist ihm zu-
wider. Er wünscht, als Weib geboren zu
sein. Ging eine Ehe aus Neigung ein, ausserhalb deren er
nie mit Frauen verkehrte. Eine Reihe von gesun-
den und intelligenten Kindern ist ihr
entsprossen. Er hält seinen Zustand für angeboren,
ist vollständig zufrieden mit ihm, nur wünscht er sich ein
entsprechendes ^lilieu. Er hat viel und scharf über seine An-
lage nachgedacht, wie man aus einigen speziellen Aeusserungen
sieht, die hier folgen:
2*
20
Mein Zustand ist so, dass ich mich unter strengster und
gewissenhaftester Selbstheohachtung für einen mit absolut
weiblichen Innenmitteln und Leidenschaften ausgestatteten
Mann halte. *) Meine Sehnsucht beschränkt
sich nicht auf das Frauenkostüm, sondern
erstreckt sich auf ein absolutes Leben als
Frau, mit allen Haupt - und Nebenerschei-
nungen, natürlich ohne Paederastie. Und
zwar ist diese Sehnsucht so intensiv und
ununt erdrückbar in mir, dass mich die Un-
erfüllbarkeit geradezu mit dem Leben in
Konflikt bringt und mich nicht glücklich werden
lässt, trotz aller in der Ehe und meiner Vaterschaft vorhan-
denen Bedingungen zum Glück.
Mit Anlegung des Frauengewandes ändert sich mein
ganzes Verhältnis zur Aussenwelt. Während dieser Meta-
morphose, die sich bis auf die Haarfrisur erstreckt, habe ich
einen vollständig anderen Blick in das Milieu; das Aussen-
leben wirkt anders, feiner und zarter auf mich und provoziert
mich zum Nachempfinden des Feinen und Zarten. Merkwür-
digerweise ist diese Wirkung so universell, dass ich in der
Verkleidung einen Abscheu vor dem Bier und dem Rauchen
habe, trotzdem ich ein Liebhaber von beiden bin. Meine
grösste Sehnsucht geht dahin, ungestört
undunerkannt als Frau leben zu können,
und das Schlimmste, was ich mir für meine Zukunft denke,
ist die Unerfüllbarkeit dieser Sehnsucht.
Der ganze abartige Vorgang in meiner Psyche bewegt
und erledigt sich in der demonstrativen Wahrnehmung des
Weiblichen in mir. Ich bin fest überzeugt, dass
die Sucht nach dem Frauengewand, viel-
mehr nach dem absoluten Aeusseren der
Frau, nichts anderes ist, als das Hinein-
wollen meines weiblichen Teils in seine ur-
•) Wenn derartige Bemerkungen hier reproduziert werden, so soll das
zunächst nur die Psychologie des Aussagenden illustrieren, ganz gleich, ob
das kritische Gesamtergebnis diese Behauptungen annimmt oder verwirft.
21
s p r ü n g 1 1 c h e n Rechte und Formen. Es gibt
Zeiten, wo ich eine direkte Abneigung gegen die männliche
Kleidung habe, wo mir alles Männliche unmittelbar Ekel ver-
ursacht. Ich fühle mich vergewaltigt und
unfrei und flüchte gewissermassen in
meinem eigenen Ich umher, um aus dem Zu-
stand herauszukommen. Je mehr ich aber Macht
über den Zustand gewinne und je mehr ich mich auf mich
selbst zurückkommen fühle, desto intensiver treten meine
männlichen Wahrnehmungen zurück und die weiblichen Ge-
fühle hervor. Wenn ich dann alles vom ^lanne von mir werfe
und das weibliche Aeussere anziehe, kann ich fast physisch
wahrnehmen, wie das Falsche, Gewalttätige aus mir heraus flüch-
tet und sich wie Nebel verteilt. Wenn ich dann vor dem
Spiegel soviel Weibliches an mir erblicke,
werde ich vollständig ruhig. Ich kann die
Ruhe ganz deutlich wahrnehmen: der ganze
Organismus funktioniert gleich mässiger,
es ist wie ein Ausruhn bei grosser Müdig-
keit, wie das Heimatsgefühl derganzen In-
dividualität in der Rolle der Frau.
Hundertmal habe ich bestätigt gefunden, dass mich mein
heller Morgenrock besonders zur Abfassung wissenschaftlicher
Arbeiten disponiert, dass ein anderer blauer Morgenrock
äusserst stark auf den Stil wirkt, dass ein Strassenkostüm
mit weisser Zierschürze sowie eine sogenannte Kabinets-
robe mich ohne weiteres aus der drückendsten Müdigkeit
und Unlust heraus zu einer künstlerischen Arbeitsfähigkeit
treibt, die ich in sonst gar keinem Zustand kenne.
Auffallend ist mir auch immer erschienen, dass ich mich
vergebens gegen die Macht des Weiblichen in mir sträube.
Ich bin oft so ärgerlich und verdrossen über diese Macht, dass
ich mich schämen möchte und mich mit Gewalt zur Arbeit
im männlichen Gewand zwingen will. Aber das ist mit einer
geradezu verblüffenden Unmöglichkeit verbunden. Es kommt
ja vor, dass ich in solchem Zwangszustand etwas leiste, aber
es ist immer so, dass ich nachher daran herumändern muss.
In meiner besten Robe und mitsorgfältig er
22
Haarfrisur bin ich fähig, so unaufhaltsam
und mit solcher Spannkraft künstlerisch
zu schaffen, dass es so leicht keiner glau-
ben möchte, wenn er es nicht selber mit an-
gesehn hat. Diese Fähigkeit entdeckte ich an mir, als ich
aus bestimmtem Grunde eine Zeit lang nur Frauenkleider trug.
Heute ist meine Fähigkeit zum Arbeiten direkt vom Frauen-
kostüm abhängig. Ich bin felsenfest überzeugt, dass ich das
denkbar Künstlerischste leisten könnte, wenn ich einmal in
die Lage versetzt würde, ganz als Frau zu leben und durch
nichts mehr an den Mann erinnert zu werden.
Meine ganzen Nebenneigungen sind auch direkt weiblich.
Ich habe Lust zu allen Arbeiten, die direkt zur Domäne der
Frau gehören, und zwar steht mir diese Arbeit vollständig
zu Gesicht. Meine Frau bestätigt es mir täglich, und es
kommt ja auch in unserm Haushalt deutlich zum Ausdruck,
indem ich mich inKüche undWirtschaft von meiner
Berufsmüdigkeit erhole und mich ablenke. Das alles ist
übrigens bei mir ein so gewohnter, alltäglicher, ich kann
sagen Normalzustand, dass ich erst im Verlaufe der Explo-
ration zu dem Auffälligen komme, das in dieser Rolle liegt.
Zu den besonderen Fragen kann ich noch folgendes aus
sagen. Nach Bestätigungen des gleichen Zustandes bei an-
deren Personen oder in Büchern habe ich nie gesucht; ich
habe überhaupt nicht daran gedacht, da mir alles an mir
selbstverständlich erschien, wenn auch von der Regel ab-
weichend.
Laxe Lektüre mag ich grundsätzlich nicht; ich suche
auch in meinem Nebenzustand, wie ich das Feminine in mir
auffassen will, keine sexuelle, wenigstens keine physisch sexu-
elle Befriedigung. An solche Wirkungen denke ich nicht,
sondern ziehe das Frauenkleid genau so an. wie der Mann
das männliche Habit. Der einzige Unterschied
besteht nur darin, dass ich an mir als Frau
einen äusserst feinen, ästhetischen Ge-
nuss habe, aus dem sich ja auch die Po-
tenzierung meiner Kunstfertigkeit her-
leitet. Ich habe ein sehr ausgeprägtes Geschmacksgefühl
23
dem Frauenkleid gegenüber. Sowohl in der Wahl der Farbe
wie im Schnitt, überhaupt in der spezifischen Wahl eines
Kostümmusters für eine bestimmte Persönlichkeit, im Stoff-
unterschied, Decor usw. bis hinüber zur Haltung und dem
Faltenwurf ist mein Geschmack absolut weiblich und als
solcher immer zutreffend.
Ich habe früher in Bühnenkreisen sehr oft anerkannte
Erfolge mit meinem Geschmack gehabt und wurde von Damen
gern um meine Ansicht gefragt. Wenn meine Mittel
es mir erlaubten, würde ich als Frau einen
fulminanten Luxus treiben, im Gegensatz
zu meiner ^lännlichkeit, wo mir auch das
geringste Decor zuwider ist. Meine persönlichen
Ansprüche erstrecken sich auch auf Dessous. Am sympathisch-
sten sind mir weisse Röcke mit Festons oder feiner gross-
maschiger Spitze.
Einer Perücke bedarf ich nicht. Ich habe sehr schweres,
massiges und gelocktes Haar, dass ich nie kurz schneiden
lasse, sondern stets so halte, dass ich es befestigen und da-
rauf eine Flechtenfrisur anbringen kann. Meine weiblichen
Bewegungen sind ziemlich harmonisch, wenn auch nicht ele-
gant. Letzteres Manko kommt auf Konto meines männlichen
Oberkörpers. Korsett trage ich nur bei der Metamorphose.
Ueberhaupt ist meine weibliche Umklei-
dung stets konsequent, ich bin sonst nicht
zufrieden und fühle immer, dass etwas
fehlt.
Zu der Frage, warum ich bis in die erste Schulzeit hin-
ein Mädchenkleider tragen musste oder tragen durfte, kann
ich noch folgende nähere Angaben machen: Obwohl ich keine
positiven Unterlagen dafür habe, nehme ich an, dass
mein Grossvater oder meine Grossmutter irgendwie abartig
waren; denn sonst könnte ich mir garnicht erklären, was sie
veranlasste, mich so lange in Mädchenkleidern zu belassen.
Mir, dem Kinde fiel das nicht auf, weil ich es nicht anders ge-
wohnt war; ausserdem wohnten meine Grosseltern abseits von
der Kultur auf einem alten Erbhof, wo sie eine Hauderei
mit Landwirtschaft betrieben. Ich erinnere mich, dass ich
24
für das Hofpereonai nur immer die „Hanne“ war; noch später
rief mich der Grossvater mit diesem Namen. Meiner An-
sicht nach kann aber an tliesem, von Kind-
heit an gewohnten Zustande meine Femi-
ninität nicht liegen. Sonst hätte ich sie bei
meinem peinlich proppern, gegen alles Bedenkliche protestie-
renden Zustand längst überwunden, sogar als widerlich
empfunden. Der Gedanke, dass ein wirklicher Mann Frauen-
kleider trägt, ist mir an sich direkt unangenehm. Darum
denke ich, muss die Leidenschaft von Vorfahren stammen, die
analog beanlagt waren.
Mit Frauen habe ich ante matrimonium nie verkehrt;
durch einen Arzt wurde mir bestätigt, dass ich mit 20 Jahren
die Geschlechtsreife erlangt hatte. Pollutionen erfolgten in
den üblichen Zwischenräumen.
Ich habe eine sehr schwere, entbehrungsreiche Jugend und
Studienzeit durchlebt und wurde auf das „Ochsen“ geradezu
trainiert. Sehr deutlich erinnere ich mich noch meines Mies-
gefühls, als ich von den Grosseltern abgeholt, zu einem Oheim
„Professor“ in Erziehung gegeben wurde, und nun das Tragen
der Mädchenkleider, das sich in Intervallen bis ins 13. Jahr
erhalten hatte, ganz aufhörte.
Dass ich in coitu gern succubus sein möchte, ist mir
allerdings selbst schon aufgefallen. Doch habe ich es nie prak-
tisch ausgeübt; es ist etwas, dessen Unebenheit mir zum Be-
wusstsein kommt, also im Gegensatz zum Tragen des Frauen-
kleides, und in solchen Fällen lege ich mir die denkbarsten
selbsterzieherischen Schrauben an. Andererseits muss ich
sagen, dass ich mich als Frau nur ganz konsequent denken
kann. Ich habe sogar das starke Begehren
nach einer Schwangerschaft gehabt, und
konnte mich nur durch die Unebenheit
des Gedankens überzeugen, dass das „ver-
rück t“ sei.
Meine Potenz ist nicht abhängig von meiner Weiblich-
keit oder dem Einfluss derselben auf meine männliche Leiden-
schaft. Auf die Idee der Kompletierung
25
meines idealen Zustandes durch einen
Mann bin ich noch nie gekommen. —
Einige Monate nach der Exploration hatte Herr C. ein
psychisches Erlebnis, das vielleicht in unbewusstem Zu-
sammenhänge mit der Frage des Explorators stand, ob noch
nie (wie in mehreren analogen Fällen) der vorübergehende
Wunsch nach Komplementierung seines idealen Weibzustandes
durch einen männlichen Partner aufgetaucht sei. Herr C., der
in dieser Zeit durch geschäftliche Umstände ziemlich irritiert
war, berichtet darüber ungefähr folgendermassen;
„Ich stand vor einem Gemälde, das ein in absolut gegen-
sätzlichen Charakteren ausgeprägtes Liebespaar darstellte.
Der Mann ein Hüne, und die Frau mir zum Verwechseln ähn-
lich. Das Interieur des Bildes deutete die Uebermacht
des Männlichen über das Weibliche an. Auf
den Gesichtern lag ausgedrückt, bei dem einen das Empfangen
des höchsten sinnlichen Glücks, beim andern das Selbstbe-
wusstsein eigener Machtfülle und das Umsetzen dieses Ge-
fühls in Lust. Seit dem Anblick dieses Bildes befinde ich
mich in einer gewissen L^nruhe; ich glaube fast, ich sehne
mich nach dem ^lann, und zwar nach einer seelisch und kör-
perlich starken Persönlichkeit. Diese Voistellung hat bereits
nächtliche Traumgestalt gewonnen und mich empfindlich auf-
gestört. Merkwürdig ist auch, dass mir meine Frau
jetzt „männlich" vorkommt. Vielleicht trägt
dazu bei, dass sie seit einiger Zeit wegen schmerzhafter Be-
gleiterscheinungen auf die Kohabitation verzichtet, ohne dass
sie im mindesten unter der Abstinenz leidet. Je mehr ich da-
gegen abstinent zu leben gezwungen bin, um so mehr erkenne
ich in dem tätigen und zuweilen hartnäckigen Charakter
meiner Frau, in ihren etwas eckigen Formen das männliche
Element. “ —
Herr C. litt infolge Heses verstärkten Zwiespaltes und
sonstiger nervös machender Angelegenheiten an einer ziem-
lichen Depression. Doch ging diese nach aufklärender Aus-
sprache bald vorüber, und die beunruhigende Sehn-
sucht nach dem Manne entschwand wieder
völlig aus seinem Bewusstsein.
26
Fall IV.
Herr D., Kaufmann, in den Dreissigern. Triebab-
weichungen oder Zeichen von Degeneration in der Verwand-
schaft sind nicht nachweisbar. Die Kindheitsentwdcklung ver-
lief normal; nur wmrde das Sprechen etwas spät erlernt.
Beim Schulunterricht interessierte ihn besonders Zeichnen
und Geographie. Geschlechtsreife mit 141Z Jahren, Stimm-
wechsel mit 16, Bartwuchs mit 20, erste geschlecht-
liche Regung in den Zw'anzigern.
Status praesens; Figur gross, schlank, verhält-
nismässig mager. Hände und Füsse von mittlerer Grösse.
Muskulatur schwach entwickelt; ausser zu Fusstouren besteht
keine sonderliche Neigung zum Sport. Schritte klein, leichtes
Drehen in den Hüften. Haut glatt, weiss. Haupthaar von
mittlerer Stärke, Bartwuchs unbedeutend, geringe Körperbe-
haarung. Schmerzempfindlichkeit,, ziemlich gross, errötet
leicht. Gesamteindruck des Gesichts absolut männ-
lich. Kehlkopf wenig hervor tretend; Stimme laut, Mittel-
lage, Neigung zu Fisteltönen.
Besitzt ein recht gleichmässiges Temperament, ist ord-
nungsliebend, neigt aber zur Bequemlichkeit, raucht gar nicht,
trinkt sehr mässig. Gedächtnis gut, Phantasie lebhaft; sein
Ideal aus der Geschichte ist Schiller. Möchte Konfektionär
oder Damenfriseur sein.
Vita sexualis: Die spät erwachende
Libido war immer auf das Weib gerichtet.
Hat nur koitiert und sich nie homosexuell be-
tätigt ; dennoch erklärt er den Verkehr mit beiden Ge-
schlechtern für möglich; er möchte einen Mann lieben oder
von einem solchen geliebt werden, der so ganz den „Typus
Mann“ vertritt. Der Geschlechtstrieb soll bis zum 26. Jahre
völlig beherrschbar gewesen und Masturbation nie getrieben
worden sein. Er hat geheiratet und führt ein „ziemlich be-
friedigendes“ Eheleben. Hat einen Knaben, an dem bisher
nichts Abnormes bemerkt wurde.
Aus seinen vielfachen biographischen Niederschriften ent-
nehmen wir noch folgende Einzelheiten;
27
„Es war zur Zeit meiner Konfirmation, als ich auf einem
Familienfest etwas hörte, das mein ganzes Denken gefangen
nahm. Eine Freundin meiner Mutter erzählte uns, ihr Sohn,
ein junger Seminarist, sei eines Tages in Damenkleidern an-
gekommen und so unkenntlich gewesen, dass sowohl sie als
ihr Gatte längere Zeit mit ihm sprachen, ohne zu ahnen, wer
er sei.“
„Die Vorstellung von dieser Szene reizte mich so, dass
ich meine Mutter bestürmte, mir ein Aehnliches zu erlauben.
Allein, es wurde nichts daraus. Als jedoch bald darauf meine
Eltern Sonntags ausgingen und ich das Haus zu hüten hatte,
zog ich mir heimlich das cremefarbene
Damastkleid meiner Mutter an. Bei dieser Be-
schäftigung bekam ich zum ersten Mal in meinem Leben eine
Erektion. Ich hatte ein naives Gefühl, dies sei eine „Sünde“
und unterliess in der Folge das Anziehn der Kleider. Dafür
legte ich indessen öfters heimlich Schmuck und Handschuhe
an und sammelte Ausschnitte aus Modejournalen.“
„Eines Tages las ich von einem amerikanischen Offizier,
der die entzückendsten Damentoiletten der ganzen Stadt be-
sässe und sich nur im Dienst als Mann bewegte. Ein ander-
mal stand in der Zeitung, das Tragen von Schmucksachen nehme
in Berlin überhand; man könne Boutons und Dameuringe von
erlesenem Geschmack sogar bei Herren wahrnehmen. In einem
andern Blatt beklagte sich eine Dame über die Mode der Arm-
bänder bei der ^Männerwelt; sie beschrieb sogar ein wunder-
volles Perlenhalsband, das sie am Halse eines Mannes ge-
sehen hätte; ferner trüge ein Herr eine reizende Muffe, um
seine zarten Hände vor der Kälte zu schützen. Solche
Notizen w'aren damals geeignet, mein
ganzes Sein in fiebernde Erregung zu ver-
setzen, wie sie auch heute noch unaus-
löschlich fest in mir haften.“
„Später wurde ich ein begeistertes Mitglied des christ-
lichen .Tünglingsvereins und schlug mir im Verkehr mit Gleich-
altrigen solche Phantasien gewaltsam aus dem Sinn.“
„Im Alter von etwa 21 Jahren lernte ich meine jetzige
Frau kennen. Nie hatte ich vordem zu einem lebenden weih-
28
liehen Wesen eine Zuneigung verspürt; fasste aber, ganz im
Gegensatz zu meinem sonst barschen Wesen, augenblicklich
eine herzliche Liebe zu ihr, sodass der Wunsch aufstieg, ver-
eint mit ihr durchs Leben zu gehn. Aber, teils aus Gründen
meines (ziemlich entschieden zur Schau getragenen) Christen-
tums, teils wegen des Keuschheitsgelübdes, bewahrte ich meiner
Braut gegenüber sechs Jahre hindurch strengste Zurück-
haltung; ja noch mehr, mir kamgarnicht der Gedanke, meiner
Geliebten je so etwas anzubieten.“
.,Wir vermählten uns endlich. Der Koitus, der mir voll-
ständig neu war, gelang während der ersten drei Wochen
nicht, sodass ich einen mir wohlgesinnten Pfarrer aufsuchte,
um seinen Rat in der Angelegenheit zu erfragen. Er erklärte
mir indessen, er selbst sei Junggeselle und wisse mit den
Dingen nicht Bescheid; ich müsse zu einem Arzt gehen.“
„Wir waren, meine Frau und ich, sehr betrübt, dass
unsere allabendlichen Bemühungen, die oft die halbe Nacht
beanspruchten, von so negativem Erfolge gekrönt wurden.
Da blätterten wir eines Abends in Modebildern umher und
besprachen aufs eifrigste die Kostümfrage, die ja für jede
Frau eine wichtige Sorge ist. Ich fühlte mich hierbei seltsam
angeregt, und lenkte meine Gedanken unwillkürlich auch
während des folgenden Koitusversuches auf den Gegenstand
meiner ehemaligen Lieblingsträumerei. Dabei fühlte ich end-
lich eine heftige Ejakulation.“
..Damals begann ich zu ahnen, wie es um mich steht.
Heute weiss ich es: ich weiss, dass mir nicht körperliche
Reize, nicht der Liebeskuss die erste Ejakulation zuzogen,
sondern lediglich der intensive W^’unsch,
W’’eib zu sein, weiblich zu fühlen und zu
denken. Von Freunden hörte ich es hunderte von Malen,
sie brauchten nur ein reizvolles Geschöpf oder auch nur einen
weiblichen Arm oder Busen zu sehn, um sofort ..hingerissen“
zu sein. Nichts von alledem bei mir.“
..Seit dieser Zeit nun kann ich keinen Beischlaf aus-
üben, ohne mich selbst dabei als Weib vorzustellen. Wenn
meine Frau in coitu ihre Nägel in meine Ohrläppchen presst
und so in mir das Gefühl hervorruft, als besässe ich Ohr-
29
gehänge, oder wenn sie ihre Arme um meine Taille legt, und
mich immer stärker an sich drückt, sodass ich das Gefühl
habe, stark geschnürt zu sein: dann bleibt sicher die Erektion
nicht aus.“
„Während ich sonst also meiner Neigung verhältnis-
mässig wenig nachgebe, lebe und webe ich als Weib haupt-
sächlich in der Phantasie während des Koitus. Ich sehe mich
in den mannigfachsten Toiletten, angefangen vom Pagen-
kostüm, das mir noch als das unantastbarste, immerhin
doch noch den Mann darstellende Kleid, erscheint. Als ein Page
mit allen möglichen, mehr ins Weibliche spielenden Nuancen,
möchte ich Konzerte, Theater und erste Restaurants be-
suchen. Ich denke mir einen Gehrock ä la Roccocco mit
Spitzenmanschetten, kurzen, seidenen Beinkleidern, durch-
brochenen Strümpfen und feinen Schuhen; dazu kostbares Ohr-,
Arm- und Fingergeschmeide zum Ausputz des Ganzen. So
für die Oeffentlichkeit. “
..Fürs Haus, sogar zum Besuch bei Be-
kannten, möchte ich ganz Weib sein und
begehre richtige Haus-, Strassen-, Diner-
und Ballkleidung, kurz: alles, was zum
Staat einer richtigen Dame gehört.“
„Mein Empfinden erscheint mir durchaus weiblich.
Rauchen, Trinken, Kartenspielen u. dgl. sind mir verhasst.
Ich mag keine schmutzige Lektüre, keine gemeinen Redens-
arten und geniesse den Ruf, überhaupt kein richtiger Mann
zu sein, da man mich riesig naiv findet und zweitens sich
hüten muss, die unter Herren üblichen „Zotereien“ in
meiner Gegenwart vorzubringen. Im Geschäft heisst’s allge-
mein: an Ihrem Block gehts am alleranständigsten zu, da
Sie jede zweideutige Bemerkung gleich rügen.“
„Mein sexueller Wunsch ist nicht das Weibsein des
Damenimitators, sondern mein Ideal wäre, ein physiologisch
echtes Lieba<;leben als Weib mit einem Manne zusammen zu
führen. Ein Herr, der mich öfter auf der Strassenbahn fixierte,
spielt hier eine bedeutsame Rolle in meinen Gedanken.
Sein Aeusseres faszinierte mich. Er war von meiner Figur,
■? elegant wde ein ehemaliger Offizier, seine feine Kleidung gut
30
anschliessend, sein Schnurrbart wohlgepflegt, sein keineswegs
zu grosses Auge voller Ausdruck.“
„Vor einiger Zeit klärte mich ein Freund über die Art
des homosexuellen Empfindens auf. Ich gestehe offen, die
Welt der unbegrenzten Möglichkeiten, die sich da meiner
Phantasie eröffnete, hat etwas so bezauberndes, wie ich mir
einen heterosexuellen Verkehr garnicht vorstellen könnte. (Hoc
scribens jam sentio erectionem penis mei antea flaccidi.')
Mir kommt es vor, als würde mich keine sexuelle Handlung
mit einem Manne ekeln. Viros nonnunquam mentulam in os
feminarum immittere, quasi ad abluendum, saepius mihi re-
latum est. Ego libenter os meum praebere veilem, si amator
aliquis id me posceret. Equidem femora latissime aperirem,
si amicus libidine vera permotus me futuere vellet. Manch-
mal schon träumte ich so, und es war herrlich, „sein Weib“
zu sein. Er liebte mich, gab mir, woran mein Herz hängt
und machte mich zum ersten Mal in meinem Leben zu einem
glücklichen Geschöpf. Würde er, wie es manche Männer mit
ihren Weibern zu tun pflegen, mich im Zimmer nackt um-
hergehn lassen, auch dies würde ich ihm zu Gefallen tun;
nur müssten meine Füsse in zierlichen
Stiefeletten stecken, und sonst in jeder
Hinsicht das Dekorum einerDame gewahrt
werde n.“
Diese letztere Stelle schrieb Herr D. unter der momen-
tanen Wirkung einer erotischen Phantasie. Später flau-
ten diese Ideen bei ihm völlig ab.
Nachzutragen wäre noch, dass er immer ein goldenes
Armband, zeitweilig auch ein Korsett trägt. Nach seinen
Handarbeiten gefragt, gibt er an, soeben
seien fertig geworden „3 ganze Hemd-
passen mit Achselstücken und 2Paar Bein-
kleidansätze aus feinem Garn.“
31
Fall V
Herr E., im Kunstgewerbe tätig, ca. 40 Jahre alt,
stammt von gesunden Eltern. Abweichende Anlagen oder De-
generationszeichen sind in der Verwandtschaft nicht nach'
zuweisen. Die körperliche Kindheitsentwicklung verlief nor-
mal. Mädchen gegenüber war er schon in frühester Jugend
ungemein schüchtern; hatte zu Mädchenspielen oder Mädchen-
beschäftigung keine bemerkbare Neigung. Im Hause fand
strenge Erziehung statt; von geschlechtlicher Verführung war
keine Eede. In der Schule zeigte er sich als befähigter und
guter Schüler, hielt sich aber von den Kameraden zurück,
weil ihm deren Gebaren wenig zusagte. Geschlechtsreife trat
im 15. Jahre ein, nicht sehr bedeutender Stimmwechsel mit
17 Jahren, Bartwuchs bis zum 25. Jahre sehr spärlich, nach-
her etwas stärker.
Status praesens: Breite der Hüften etwas ge-
ringer, als die der Schultern. Körperlinien rundlich, leichter
Panniculus adiposus. Oberarme und Oberschenkel mehr ge-
rundet als abgeflacht. Füsse von mittlerer Grösse, Hände
von der Arbeit etwas mitgenommen. Muskeln nicht beson-
ders kräftig entwickelt, hat für Gymnastik wenig Interesse.
Schritt fest, beim Gehen leichtes Drehen in den Hüften.
Rumpf wird gerade gehalten. Hautfarbe weiss, Gesicht ge-
bräunt, sonst glatt. Haupthaar kräftig entwickelt, schlicht;
Brust frei von Behaarung, Unterschenkel behaart, Bart-
wuchs mässig. Errötet und erblasst leicht. Adamsapfel tritt
wenig hervor; Stimme in der Mittellage, Fistelstimme
durch Hebung ausgebildet.
Bei starken Gemütseindrücken Neigung zum Weinen, die
aber meist unterdrückbar ist. Gedächtnis und Aufmerksam-
keit gut, Phantasie rege. Fähigkeit und Neigung für lite-
rarische und künstlerische Aufgaben. Weder Abneigung, noch
Drang zu weiblicher Beschäftigung. Sport interessiert gar-
nicht, dagegen Mode, Theater, Pferde. Hunde. Liest viel,
Romane und Wissenschaftliches.
Vita sexualis: Im Alter von 4 Jahren
und später versuchte er zuerst, das Kleid
32
seiner Schwester anzuziehn, und war sehr ge-
niert, wenn man diese Versuche bemerkte.
Er setzte sie dann heimlich fort, mit dem deutlichen AVunsche.
lieber ein Mädchen sein zu wollen. Dasselbe Gefühl trieb
ihn dazu, sich unter Mädchen aufzuhalten und hauptsächlich
nur mit ihnen zu spielen. Mit dem vierzehnten
Jahre trat der Drang nach der Frauen-
kleidung deutlicher ins Bewusstsein. Vom
17. — 19. Jahre verspürte er weniger davon, was er auf die
starke Arbeitstätigkeit in dieser Periode schiebt. Dann be-
gann es von neuem bei Gelegenheit von privaten Bühnen-
spielen, um sich vom 30. Jahre an zu verstärken. In der
Karnevalszeit hat er regelmässig seinen Schnurrbart ge-
opfert, um kostümrecht zu sein, und stets nur mit Be-
dauern die Frauenkleidung wieder abge-
legt. Lange Strümpfe und Korsett trägt
er fast immer unter seiner Männerklei-
dung. ln dieser raucht er gern, was er im Frauen-
kostüm nie tut. Das Kostüm wirkt auf die Arbeitslaune und
allgemeine Stimmung anregend, doch ist die Potenz nicht
davon abhängig. Der Trieb war immer auf den
coitus cum femina gerichtet; erste Betätigung
Anfang der Zwanziger. In actu ist er gern succu-
b u s. Triebstärke: durchschnittlich zwei Ejakulationen in
der Woche. Von Homosexualität ist keine
Spur vorhanden.
Im folgenden geben wir einige biographische Aufzeich-
nungen des Herrn E. fast ohne stilistische Aenderuiig wieder,
weil sie einen guten Einblick in die Irrungen und Wirrungen
gewähren, die das Liebesieben bei dieser Anlage zeitigen kann.
Man sieht, wie „normal“ diese Männer fühlen, trotzdem sie
das weibliche Kostüm bis in die subtilsten Einzelheiten am
eigenen Leibe zu tragen begehren. Gleichzeitig bilden die er-
zählten Vorgänge, von deren W’ahrheitstreue wir uns durch
Photographieen etc. überzeugt haben, einen Beitrag zur
Psychologie einer Frau, die sich wie ein Pro-
teus in alle Situationen zu finden und diese zu eigenem Nutz
und Frommen geschickt auszubeuten versteht:
33
„In grosser 'Vutregung sass die ganze Familie heim
Mittagstisch; meine Schwester, weil abends ihr erster Ball
sein sollte, ich. ein lünizehnjähriger Sekundaner, weil ich zu
dieser Gelegenheit als Kunstschütze auftreten sollte und meine
Mutter, weil alle Vorarbeiten aui ihren Schultern ruhten. Ge-
gessen wurde kaum etwas, denn Mutter und Schwester dachten
an ihre Toiletten und ich wollte meine beiden Gewehre noch
nachsehen und putzen, hatte auch noch meine Schularbeiten
zu machen.
Mein Schwesterlein musste aber doch zur Küche hin-
unter, um Kompott herauf zuholen, da — ein schriller Auf-
schrei, dem sekimdenianges, dumpfes Gepolter folgte, — das
arme Mädchen war oben ausgerutscht und die ganze Treppe
hinuntergefallen. Blutüberströmt schleppte man sie wieder
herauf und bettete sie auf dem Sofa. Schlimm war zum Glück
die Verletzung nicht, das Unglück war aber doch schwer zu
ertragen, denn zwei Zähne fehlten im Prachtgebiss und furcht-
bar schwoll die verletzte Oberlippe an, — mit dem Ball war
es diesmal nichts.
Nun lag sie auf dem Sofa und ächzte und schrie, teils
wegen der Kieferschmerzen, teils wegen der Seelenpein, dass
alle ihre Freundinnen nun abends glänzen würden, sie aber
mit einer Kompresse auf dem Plappermäulchen zu Hause liegen
müsse. Mütterchen allerdings, optimistisch wie alle Mütter,
hoffte noch auf eine Wendung zum Bessern und kühlte und
strich ohne Ermüden, es half aber nichts, die Zähne blieben
fort und die Lippen schwollen mehr und mehr. Dabei lag
der Ballstaat im Schlafzimmer auf den Betten ausgebreitet
und jauchzte förmlich seinen Herrinnen entgegen.
Noch war der laute Jammer nicht zur stillen Ergeben-
heit abgeflaut, da erschien ein befreundeter Herr Vom Ball-
Komitee und hatte mit meiner Mutter eine lange Unterredung,
deren Gegenstand ich war. Wieso, sollte ich gleich darauf
erfahren; mein Mütterchen kam nämlich ungewohnt freund-
lich zu mir, der ich meine Pechen-Exempel machte und fragte
mich kurz und bündig, ob ich Lust hätte, als Mädchen ver-
kleidet heute Abend meine Schiesskünste zu zeigen. Das Pro-
gramm sei leider insofern verdruckt worden, als an Stelle
HirscliTeld. Dio Transvestiten. ^ 3
34
meineö ehrlichen männlichen Vornamens sich ein weiblicher
eingeschlichen habe, neugedruckt könne nicht mehr werden,
also entweder — oder.
Im Innersten meiner Seele war nach der ersten Ueber-
raschung ein namenloser Jubel. Ich als Mäd-
chen verkleidet, in Mädchen-Röcken? So-
lange ich zu denken vermochte, war das
mein verborgener, heisser Wunsch ge-
wesen, um so heisser, je unerfüllbarer er
mir erschien. Im Alter von fünf Jahren, noch ehe ich
zur Schule kam, ehe ich eine Ahnung vom anderen Geschlecht
hatte, machte ich den Gang der Mädchen nach, das Wiegen
in den Hüften und hoffte, die Leute würden glauben, ich sei
ein Mädchen in Knabenhosen. Auch das Kleidchen meiner
Schwester hatte ich mir heimlich angezogen und mein Kinder-
herz pochte vor Freude, dass es sich um meine Glieder
schmiegte. Als Quintaner hätte ich gern mein ganzes Leben
dahingegeben, wenn ich nur drei Tage lang ein Mädchen sein
dürfte, und jetzt sollte sich mein Herzenswunsch so plötz-
lich erfüllen?
'Meine Mutter sah den Kampf in meinen Zügen, fasste
es aber anders auf, legte die Hand auf meine Schulter und
sagte: Lieber Junge, Du brauchst Dich nicht zu schämen
oder zu ängstigen, wir ziehen Dir das Ballkleid von Deiner
Schwester an, Du benimmst Dich recht manierlich und gleich
nach Deinem Auftreten holt Dich Minna ab und bringt Dich
nach Hause, dann bist Du wieder mein lieber Junge und
kein Mensch merkt etwas! Und so redete sie auf mich ein,
denn sie glaubte, auch ich würde es wie andere
Jungen meines Alters als schwerste Be-
leidigung empfinden, in Mädchenkleider
gesteckt zu werden.
Wie glücklich es in luir war, das mochte ich meiner
Mutter doch nicht zeigen, ich schämte mich dessen
und tat sehr geknickt, so dass mir allerlei Vergünstigungen
zugesagt werden mussten, um meine Stimmung zu heben.
Unter Anderem schlug ich als geriebener Geschäftsmann
35
Apfelkuchen mit Sahne zum Kaffee heraus. Dann aber ging
es an die Toilette.
Erstlich wurde ich gründlich mit Wasser und Seife ge-
säubert, denn am Hals hatte ich einen ewigen dunklen
Streifen, vom Kragen herrührend. Dann zog man mir ein
Spitzenhemdchen an, dessen Berührung mir das
Herrlichste auf Erden dünkte. Etwas Mühe
machte das Korsett, die Spitzenhöschen sassen aber wie ange-
gossen und, 0 Wonne, ein kurzes weisses Unterröckchen flog
dann über meinen Kopf und wurde kunstgerecht um die
Taille zugebunden. Noch ein Spitzen-Unterrock von blenden-
dem Weiss kam darüber, dann musste ich mich setzen und
mein Haar wurde als Tituskopf zu Löckchen gebrannt. Heisses
Erröten lohte über mein Gesicht, als man mir einen dis-
kreten kleinen Busen ausstopfte und bald stand ich fertig da
und kam mir wie eine ^lärchenprinzessin vor.
Mein Mütterchen, die Schneiderin, unsere Küchenfee Minna,
alle drei rutschten um mich herum, zupften hier, strichen
dort und stichelten an mir herum; denn so genau wollte das
Kleid doch nicht passen. Mich übermannte bald
die Scham, meinen Angehörigen so gegen-
über zu stehen, bald aber durchtobte mich
ein -Jubel, dass endlich einmal mein sehn-
lichster Wunsch erfüllt war. Zwischen diesen
beiden Gefühlen schwankte ich hin und her.
Als ich versuchsweise die Röcke etwas hob und meine
durchbrochenen weissen Strümpfe imd die zierlichen Atlas-
schuhe sah, da war mir. als sei ich nie anders gegangen, als
komme mir alles das zu. Knabenhosen erschienen
mir greulich und ekelhaft.
Nur mit halber Aufmerksamkeit hörte ich auf mein
Mütterchen, das mir noch Verhaltungsmassregeln gab; wie
aus weiter Ferne schlug die Stimme meiner Schwester an
mein Ohr, die mir nachrief: Pfui, schäme Dich doch, Du bist
ja gar kein Junge, Du bist blos ein Mädchen! Der Kummer,
auf meinem Körper ihr geliebtes Ballkleid sehen zu müssen,
veranlasste sie, ihr eigenes Geschlecht so minderwertig hin-
zustellen. — Dann ging Minna mit mir ab und brachte mich
3*
36
zu Wilkes, die mich in Obhut nehmen wollten, da meine
Mutter nun ebenfalls dem Fest fernblieb.
Ich will nur kurz erwähnen, dass W’’ilkes, Vater, Mutter
und Tochter, mich erst etwas zweifelnd aufnahmen, dann sich
aber am liebsten totgelacht hätten, so aussergewohnlich er-
schien ihnen der Scherz.
Als wir in den Festsaal traten, war alle meine anfäng-
liche Angst von mir gewichen, fest und selbstbewusst schritt
ich an Erna Wilkes Seite durch den Saal und trug meine
Kleider, als hätte ich nie in Knabenhosen gesteckt. Wie
leicht und herrlich ging es sich in den steif gebügelten Röcken,
es war mir, als schwebte ich dahin! WTe im Fluge eilten
die Minuten, und bald stand ich in meinem weissen Kleid
auf der Bühne und zog mit fester Hand mein Gewehr an
die Schulter. Schuss auf Schuss sass mit einer Sicherheit,
wie ich sie noch niemals erreicht hatte,
jedenfalls infolge der Aufregung, die schon von jeher meine
Hand nicht zittern, sondern fester werden liess. —
In meinen Bewegungen hatte ich etwas eckiges, ungraziöses;
das findet man ja bei Backfischen sehr häufig; es fiel darum
bei mir nicht im Entferntesten auf. Originell wirkte es aber,
als ich unter grossem Beifall abtreten wollte, dass ich nicht
den üblichen Knicks machte, sondern mit präsentiertem Ge-
wehr stramm stand, bis der Vorhang endgiltig herunter
war.
Minnas Versuche, mich mitzubekommen, wurden mit Ent-
rüstung abgeschlagen, ich spielte meine Rolle als Balldame
weiter und habe manche recht komische Bemerkung gehört.
Ein alter Major kniff in meine Wrangen und sagte: Sag mal,
mein Töchterchen, Du schiessest so brillant, warum bist Du
kein Junge geworden? Dich hätten wir brauchen können! Der
grösste Teil der Festteilnehmer ahnte garnicht, dass ich ein
Junge war; ich hörte und sah darum mancherlei, was Knaben
meines Alters sonst nicht erfahren. Wenn auch mein Tanzen
etwas holprig ausfiel, still gesessen habe ich nie, sondern
flog von einem Arm in den andern, mit wehenden Röcken
drehte ich mich so gut es ging.
3'
Am folgenden Tage durfte ich noch einmal mein Ball-
kleid anziehen, es ging zum Photographen. [Das Bild hat
uns Vorgelegen.]
Einige Monate später hatte ich in D. meine erste Stellung
angetreten und hauste in einem hübsch möblierten Zimmer.
Meine Photographie als Mädchen schmückte meinen Tisch,
denn eben hatte sie meine Schwester mir in einem Briefe
nachgesandt. Meine Wirtin, eine Redakteurs-Witwe von etwa
vierzig Jahren, brachte das Abendessen und fragte, ob das
das Bild meiner Schwester sei. Ich hatte keine Ursache, die
Wahrheit zu verschweigen und erzählte ihr von meinem Ball-
abend, was bei ihr grosses, etwas ungläubiges Staunen her-
vorrief. Dann bat sie und drängte, ich möchte doch scherzes-
halber die Kleider ihrer Tochter anziehen, sie könne sich
garnicht vorstellen, dass so etwas möglich sei. Ich
schlüpfte mit tausend Freuden in die
weichen Gewänder und was war die Folge?
Sobald da 6 Geschäft seinePforten schloss,
stürzte ich eiligst nach Hause, eins —
zwei — drei! waren die Männer-Kleider ab-
gestreift, und Korsett und weiche Unter-
röcke hüllten meine Glieder ein. So ging es
einen Tag wie den andern. Mit keinem Kollegen verkehrte
ich, kein Freund konnte sich meiner rühmen. Nach Hause,
in meine geliebten Frauenkleider, das war meine einzige
Sehnsucht!
Mein ganzes Gehalt ging für Kleider,
Hüte, Unterröcke und Wäsche darauf. Die
Zeit war aber auch herrlich. Abends ging
ich als Mädchen mit meiner Wirtin
spazieren, hatte bei einer ahnungslosen
Schneiderin Anproben und genoss mit
tiefen Atemzügen die herrliche Luft des
Hofgartens. Morgens sass ich in Unterrock und
spitzenbesetzter Nachtjacke am Kaffeetisch und fuhr jedesmal
mit tiefem Bedauern in die Männerhosen, um zum Geschäft
zu gehen. Sonntags blieb ich überhaupt in den Kleidern,
ging früh mit meiner Wirtin spazieren, oft auch zur Kirche,
38
nachmittags machten wir Besuche bei befreundeten Familien,
die mich für ein wirkliches Mädchen hielten, oder wunderten
in der Umgebung der Stadt. Kurz, es war so schön, wie ich
es in meinen Träumen nicht einmal mir ausgemalt hatte. Da-
bei w'ar, wie ich ausdrücklich bemerken will, meine Wirtin
stets diskret zu mir und hat nie die Grenzen des erlaubten
Verkehrs überschritten.
Diese überaus herrliche Zeit nahm ein jähes Ende; meine
Firma fallierte, und trotz aller ^lühe fand ich in D. keine
zweite Stellung. Mit tiefer Trauer musste ich
scheiden, reich an Mädchen-Kleidern, arm
an Männerkleidern, noch ärmer an Geld. H.
nahm mich in seine Mauern auf, hier setzte ich die Jagd nach
dem Glück fort.
Hart tobte hier der Kampf ums Dasein und dem Elend
kam ich trotz allen Mühens um eine Stellung näher und
näher. Eines Sonnabends, als ich wiederum meine Miete nicht
bezahlen konnte, machte ich mich schweigsam aus dem Staube,
meinen wohlgefüllten Koffer mit den Kleidern der gierigen
Megäre, die sich meine Wirtin nannte, preisgebend. Tm
dunkelsten Winkel der Hafenstadt fand ich ein jammervolles
Loch, das nicht im Voraus bezahlt w'erden brauchte, und von
dieser Verborgenheit aus suchte ich weiter verzweiflungsvoll
nach Beschäftigung.
Ein paar Tage später fiel mir in einem Kaffee-Keller das
„Hamburger Fremdenhlatt“ auf. Darin stand zu lesen, dass
ich (mein voller Name war angegeben) vermisst werde, denn
ich hätte mich heimlich aus meiner Wohnung entfernt, ohne
irgendwelche Nachricht von mir zu geben. Nach meinem Ver-
bleiben hätten meine Wirtsleute meinen Koffer geöffnet, um
vielleicht über meine Herkunft etwas zu erfahren, zu ihrem
Staunen habe sich dadurch eine Vermutung bestätigt, dass
ich nämlich ein verkleidetes Mädchen sei, das
aus irgend einem Gnmde im Männer-Anzug bei ihnen ge-
mietet und gewohnt habe. Aus meinem Aussehen und meinem
Benehmen hätten sie das allerdings schon längst geschlossen,
erst der Inhalt des Koffers habe aber die Gewissheit erbracht.
Zum Schluss fand sich die tröstliche Bemerkung, die Polizei
39
habe sich des Falles angenommen, um Licht in die Geschichte
zu bringen.
Xun war kein Halten mehr, zitternd und bebend wankte
ich zum Telegraphenamt und bat meine Mutter zum ersten
Mal um etwas Geld zur Reise nach C.
Dort traf ich am folgenden Tage bettelarm ein. Das
Glück war mir aber günstig; denn ich fand nicht allein eine
gute Stellung, sondern auch recht netten Anschluss durch
Kollegen in einer literarischen Vereinigung. Dort sollte eines
Abends eine Pantomime aufgeführt werden, deren Damenrolle
man mir übertrug, und das gab Anlass zu einem Erlebnis,
dass ich hier wahrheitsgetreu schildern will.
Zu dieser Pantomime hatte ich mir ein recht ele-
gantes Strassenkostüm von einem Damenschneider
machen lassen, auch eine annehmbare Perücke war mein eigen,
so dass ich eine ganz gute Figur machte. Eines Abends fand
Kostümprobe statt, ich zog mich zu Hause als Dame an und
ging die weite Strecke zum Treffort zu Fuss. Dadurch und
durch das häufige Wiederholen des Zusammenspiels wurde es
später, als man gedacht hatte, und zum Schluss stand ich
vor der Haustür meiner Wohnung und konnte nicht hinein,
weil — ich den Schlüssel vergessen hatte. Dem Portier mochte
ich mich in meinen Frauenkleidern nicht zu erkennen geben;
ich hoffte, es würde noch jemand kommen und ging auf und
ab. Da kam eine Droschke gefahren und heraus stieg eine
Dame, die in ihrem Handtäschchen suchte und — auch keinen
Schlüssel fand. Diese Dame rief mich an und fragte, ob ich
etwa aufschliessen könne. Als ich verneinte, stand sie einen
Augenblick vor mir, als ob sie noch etwas sagen wollte,
ging dann aber auch gleich mir nur der Kälte wegen auf
und ab.
Wir hatten uns einigemale schon gekreuzt, da machte
sie eine gleichgültige Bemerkung, die mich zwang, an ihrer
Seite zu bleiben, obgleich mir das nicht sehr erfreulich schien;
es dauerte aber nicht lange, da waren wir in der schönsten
Unterhaltung. Dabei konnte ich sie beobachten und sehen,
dass sie niedlich und schlank war und vorzüglich über alles
zu plaudern wusste. Wie wir so nebeneinander gingen, waren
40
wir von gleicher Grösse, sie aber trotz der Winterkleidung
weit schlanker in der Taille als ich. Was wir erzählten,
weiss ich nicht mehr, iler Stoff ging uns aber nicht aus, denn
als wir uns trafen, war es zwischen 10 — il Uhr, als wir
endlich durch einen Dritten ins Haus hineinkonnten und uns
darum trennen mussten, schlug es drei LIhr und beide waren
wir erschrocken; denn wir hatten geglaubt, es sei kaum
Mitternacht.
Sie mochte aber Gefallen an mir gefunden haben, denn
sie lud mich zum Abschied ein, am anderen Abend punkt
8 Uhr zum Abendessen bei ihr zu sein. Sie klagte, dass sie
gar keinen Verkehr mit andern Damen habe, ihr Mann sei
schon lange gänzlich gelähmt, und wenn wir zusammen
passten und ich sie recht häufig besuchen könne, sei sie
mir recht dankbar.
Noch nie war ich so unaufmerksam, wie anderen Tags
im Geschäft. Vormittags sagte ich mir. dass es an Wahn-
sinn grenze, wenn ich wirklich hingehen würde. Zum Nach-
mittag meldete sich erst ganz leise, dann immer lauter die
Lust an diesem kühnen Unternehmen und abends um
6 Uhr sass ich im Korsett und kurzemUnter-
röckchen vor dem Spiegel und rasierte mich, ob-
gleich ich hierzu keine Ursache hatte; denn Bartwuchs war
kaum vorhanden trotz meiner 21 Jahre. Um 8 Uhr klingelte
ich an ihrer Wohnung, ein Dienstmädchen nahm mir Jackett,
Hut und Schirm ab und sagte, die Gnädige habe schon mehr-
fach nach mir gefragt. Mit klopfendem Herzen stand ich
einen Augenblick darauf vor ihr und sah, dass sie, eine ele-
gante, schöne Erscheinung, auf einem Divan lag und gelesen
hatte.
Sie erhob sich, reichte mir beide Hände und drückte mich
in einen Sessel, dabei fühlte sie, dass ich vor Aufregung
zitterte. Aber liebstes Fräulein, sagte sie und streichelte
meine Hand, ich bin Ihnen für Ihr Kommen so dankbar und
Sie zittern? Diese Nacht an meiner Seite so mutig und
tapfer und jetzt etwa ängstlich? Dann plauderte sie so lieb
und herzig, dass ich aller Angst vergass und auch auftaute
und hier und da ein Wort riskierte. Meine Sorge war, sie
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könnte etwas merken, ich war darum äusserst vorsichtig, sie
ahnte aber nichts und sprach unbefangen und nett. Dann
klang ein Gong und rief zu Tisch; da legte sie den Arm um
meine Taille und führte mich in den Speisesaal. Zu meinem
grössten Schrecken fand ich hier ihren Mann, der hilflos in
einem Stuhl hereingeschoben wurde.
Sie wollte mich ihrem Mann vorstellen, da fiel ihr ein,
dass sie nicht einmal meinen Namen wusste. In meiner
Fassungslosigkeit sagte ich meinen wirklichen Vor- und
Familien-Namen, nämlich Willi B . . ., das fiel aber nicht
weiter auf und sie nannte mich einfach „Fräulein Willi“, ihr
Mann ebenfalls.
Gegessen habe ich nicht viel, das möge man mir glauben;
auch meine Unterhaltung war recht einsilbig, aber mit tiefer
Freude im Herzen konnte ich konstatieren: Keiner von
beiden merkt, dass ich kein Weib bin.
Nach dem Essen sassen wir in ihrem netten Zimmer zu-
sammen; nun ging die Unterhaltung schon besser. Wie es
unter Damen üblich ist, kam die Rede zuletzt auf Toiletten.
Sie sprang auf: Wollen Sie mein Neuestes sehen? Entzückend,
sage ich Ihnen, o, das müssen Sie sehen! Sie eilte hinaus und
brachte ein Kostüm herein, so zart, so duftig, wie ein in
Spitzen übersetztes Gedicht. Dieses Wunderwerk breitete sie
vor mir aus.
In schweigendem Entzücken betrachteten wir es eine
Weile; dann fragte sie mich, ob ich es anprobieren wolle, wir
hätten doch beide dieselbe Figur und sie möchte zu gern
sehen wie es mir stehe. Mit Entsetzen wehrte ich ab; denn
mir fiel das Luftkissen ein, das meinem Busen seine üppige
Rundung verlieh. Ich mag nicht in Sie dringen, aber wollen
Sie mir behilflich sein, dann zieh ich es mir an — sagte
sie. Dazu war ich gern erbötig; ich half der schönen Frau
Rock und Taille ausziehen und erwies mich durchaus ge-
schickt dabei.
Noch heute, also fast 20 Jahre später, ist es für mich
ein Kunstgenuss, ein hübsches Frauchen im Korsett und nied-
lichem Unterröckchen zu sehen. Damals kochte in meiner
ganzen Phantasie alles über, es war ein Brausen und Drängen
42
in mir, als das schöne Weib so vor mir stand. Dieser süsse
weisse Busen, dieser Nacken, auf den das braunrote Haar
schattierte, das war mir. dem gänzlich unverdorbenen .Jüng-
ling, eine Offenbarung, die mir meine Ueberlegung raubte.
Ich stürzte auf sie zu, riss sie an mich und küsste sie auf
den Mund und auf den Busen, dass jeder Kuss wie ein
brennend roter Fleck sich von der weissen Haut abhob.
Halb ohnmächtig vor Schreck sank sie in die Kniee auf
den Teppich; als ich dort weiterküssen wollte, mochte ihre
Besinnung zurückkehren, denn nun wehrte sie sich verzweifelt
und kam endlich wieder auf die Füsse. Sind Sie wahnsinnig?
rief sie und stiess mich mit beiden Händen zurück, was soll
ich von Ihnen denken? Instinktiv musste aber plötzlich die
Ahnung der Wahrheit in ihr auf dämmern, sie flüchtete hinter
einen Sessel und mit einem Gesichtsausdruck, den ich nie ver-
gessen werde, rief sie: Sie sind kein Mädchen, Sie sind ein
Mann, ein verkleideter Mann! Hochaufgerichtet, mit wogen-
dem Busen, aus dem hellen Gesicht brannten wie Feuer die
schönen, goldbraunen Augen, streckte sie den weissen Arm
zur Tür aus und befahl: Hinaus! —
In der kalten Abendluft kam ich langsam zur Erkenntnis
dessen, was geschehen. Ich wanderte den einsamen Ubier-
Ring entlang dem Rhein zu und starrte innerlich zerrissen
in die Fluten und in die treibenden Eisschollen. Erst als ich
von Leuten angeredet wurde, die in mir eine selbstmord-
lüsterne Dame vermuteten, raffte ich mich soweit auf. dass
ich nach Hause gehen konnte.
Die Nacht zu schildern, möge man mir erlassen. Gegen
Morgen fasste ich einen Plan und der beruhigte mich soweit,
dass ich endlich einschlief. Ich w'olltc meine Miete für den
Monat nicht abwohnen, sondern in aller Frühe mein Zimmer
verlassen, um in eine neue Wohnung fern von ihr überzu-
siedeln. Alles andere, nur nicht etwa sie zufällig treffen!
Morgens, als ich zum Geschäft gehen wollte, traf ich
auf der Treppe den Briefträger, der mir einen Brief gab. Ich
kannte die Handschrift der schönen Frau nicht, aber ich
wusste genau, der Brief ist von ihr. Sehr beunruhigt ging
ich zum Geschäft und hatte keinen Mut, aufzuschneiden und
43
zu lesen. Als ich mich aber endlich dazu auf gerafft hatte,
da wusste ich nicht recht, ob ich wache oder träume, ich
drehte das Blättchen hin und her und las noch einmal und
noch einmal. Schliesslich begriff ich aber doch und zwar
am ersten das eine, dass sie mir nicht mehr böse war, son-
dern mich zum nochmaligen Besuch einlud. Das Schreiben
lautete: Sehr geehrter Herr! Nachdem eine Stunde seit Ihrem
Fortgange verflossen ist, habe ich mich soweit beruhigt, dass
ich die ganze Angelegenheit mit kritischem Auge zu be-
trachten vermag. Leider komme ich zu dem Schluss, dass
ich Ihnen sehr Unrecht getan habe, da ich unedle Motive ver-
mutete. Ich bitte Sie darum inständigst, mein schroffes Auf-
treten mit meinem Schrecken entschuldigen zu wollen und
würde mich sehr freuen, Sie heute Abend in derselben
Verkleidung in meiner Wohnung begrüssen zu können.
Eine Unterschrift fehlte; ich wusste trotzdem Bescheid
;md sehnte nun mit aller Inbrunst den Abend herbei. Wie
gestern, so empfing sie mich auch diesesmal. nur dass sie
nicht so verführerisch auf dem Divan lag. Unsere Unter-
haltung war aber einfach kläglich, denn sie vermied jede
Anrede, sagte weder ..Herr” noch „Fräulein“, und ich empfand
es sehr peinlich, dass sie die Wahrheit über mich wusste.
Nachdem minutenlange Pausen in unserem Gespräch ein-
traten. erhob ich mich, um mich zu verabschieden, sie reichte
mir kaum die Fingerspitzen und ich ging in dem nieder-
drückenden Gefühl zur Eingangstür, dass ich doch eine
jammervolle Rolle gespielt habe. In diesem Empfinden über-
sah ich den Bärenkopf, der an dem grossen Fell auf dem Fuss-
boden lag, ich stolperte, trat mir auf den Rock und fiel
elendiglich lang hin.
Meine Zuschauerin sagte kein Wort, ich merkte aber,
dass sie ihr Taschentuch in den Mund stopfte, um nicht laut zu
lachen, dann platzte sie aber doch heraus, und in aller
Verlegenheit erhob ich mich und lachte mit; was blieb mir
auch weiter übrig? Sie beruhigte sich nur schwmr, meine
Haltung amüsierte sie immer wieder von Neuem. Sie rief
mich zurück und sagte: Kommen Sie, liebes Fräulein, so
können Sie nicht f ortgehen. Vom Rock ist das ganze Futter
44
abgetroten, das müssen wir wieder anstecken! Dann kniete
sie vor mir und heftete mit Stecknadeln das abgerissene Stück
an. Sie müssen den Kleiderrock richtig raffen, erklärte sie
mir und machte es mir vor; da es nicht recht gelingen wollte,
legte sie jeden meiner Finger einzeln in die richtige Lage und
machte es mir recht plausibel. Dann zeigte sie mir, wie
man treten muss, um solches Pech nicht wieder zu haben und
hatte ihre heUe Freude daran, dass ich mir Mühe gab, es
richtig zu machen.
Es blieb nicht bei diesem Besuch, ich kam auch am
folgenden Abend und wurde schliesslich ihr ständiger Gast.
Unsere Exercitien setzten wir fort und mussten über manches
komische Intermezzo häiü’ig recht herzlich lachen.
Mitte Dezember hatte die schöne Frau eine Idee: Wissen
Sie, Willi, Sie kommen immer in denselben Fähnchen zu mir,
wenn Sie eine hübschere Robe hätten, kein Mensch könnte etwas
merken. Ich werde jetzt Mass nehmen und Ihnen ein Kostüm
machen lassen. Stehen Sie mal auf, und nun nahm sie voller
Eifer Mass und iiess bei ihrer Schneiderin richtig ein herr-
liches Kleid machen. Das kam zusammengeheftet zum An-
probieren und ich fand es eines Abends vor, als ich wieder
zu Besuch kam. Nun musste ich ans Anprobieren und zog
etwas bedenklich den Rock aus, so dass ich im Unterrock
dastand. Die Taille musste aber auch aus, recht zögernd
knöpfte ich auf, einen Knopf nach dem andern und nun sah
die schöne Frau, woher mein Busen seine üppige Fülle hatte
und wollte platzen vor Lachen, als das Luftkissen zu Boden
fiel und eine gähnende Leere in meinem Korsett sichtbar
wurde. Mit geheucheltem Gleichmut tat ich es an seine
Stelle zurück und streifte den Futterrock und die Taille über;
voll Eifer und mit hochroten Wangen machte die schöne Frau
hier und dort Kreidestriche, heftete mit Stecknadeln und
und zupfte und zerrte an mir herum. Die Taille, war bald
so weit und Frau Trude nahm den Futterrock vor, der
nun nach allen Regeln der Kunst ebenso behandelt werden
sollte; aber ach, in der Taille war ich etwas zu stark und
in den Hüften zu schlank. Ein seidener Unterrock der Frau
Trude änderte nicht viel an der Sachlage, es blieb nichts
45
übrig, als das Korsett noch enger zu schnüren und in den
Unterrock Watteeinlage einzuheften; dann hatte ich eine
leidliche Figur. Mit Frau Trude war doch ein Vergleich nicht
möglich; sie so schlank, biegsam und graziös, ich etwas
plump und schwerfällig, die Hände gross und rot. Sie freute
sich aber doch und ihre Augen glänzten; an diesem Abend
schlossen wir einen innigen Herzensbund.
Von nun an waren wir täglich zusammen; ich führte da-
durch ein Doppelleben, das seines Gleichen sucht. Tags
über im Geschäft eifrig und fleissig, so
dass meine Vorgesetzten mit mir zufrieden
waren, in männlicher Beharrlichkeit, —
abends umflossen mich die weichenFrauen-
kleider, die mein Ich vollständig aus-
wechselten. Frau Trudes Dienstboten,
ihr Mann, keiner ahnte, dass ein völlig
normaler Mann in diesem eleganten Be-
suchskleide steckte. Hatte mir das Dienstmädchen
auf dem Korridor Mantel und Hut abgenommen, trat ich in
Trudes Zimmer und wortlos sanken wir uns beide in die
Arme und küssten einander wild und leidenschaftlich. Trude
liebte es über alles, meine festen Glieder unter den weichen
Kleidern zu wissen und ich war rasend in dies schöne Weib
verliebt, weil sie sich so weich in meiner Umschlingung an
mich schmiegte; es war, als wollte eins dem andern in Küssen
die Seele austrinken. Wenn wir uns etwas beruhigt hatten,
dann läutete der Gong und rief zu Tisch und dann sass ich
an Trudes Seite als ehrbare junge Dame und vermied es, sie
anzusehen, weil ihre Augen mit verzehrenden Feuer auf mir
ruhten, wie wenn sie mich verschlingen möchten.
Sonntags machten wir Spaziergänge, erst in den menschen-
leeren Gegenden des alten Festungswalles, später, als ich
mich sicherer fühlte, auch in der Altstadt und Domgegend.
Von Sonnabends Nachmittag bis Sonntag
spät abends hatte ich nun Frauenkleider
an und fühlte mich wohl darin, als hätte
ich nie Männerhosen getragen. Schon mehr-
fach war der Wunsch in mir auf getaucht, dass es doch so
46
bleiben möge; dann und wann sagte ich auch Trude davon
Eines schönen Tages brachte sie das Gespräch darauf und
schlug mir vor, meine Stellung aufzugeben und ganz zu ihr
zu kommen, vor der Welt als ihre Gesellschaftsdame.
Besonnen habe ich mich nitht weiter, ich stimmte freudig
zu. Mit meiner Wohnung hatte ich längst Schwierigkeiten,
als Herr kam ich abends nach Hause, als Dame ging ich
kurz darauf fort. Sonntags war ich nie zu sehen und aus
all diesen Gründen wurde viel über mich geklatscht, was mich
mehrfach nötigte, die Wohnung zu wechseln. Mit meiner
neuesten Zimmermutter, einer alten Witwe, traf ich nun ein
Uebereinkommen. Ich erklärte ihr, dass ich auf Monate ver-
reisen müsse, sie solle mein Zimmer stets bereit für mich
halten, meine Miete zahlte ich auf ein Vierteljalir im Vor-
aus und trat, als meine Kündigungszeit im Geschäft abge-
laufen war, eines Abends bei meiner Trude als Gesellschafts-
dame an.
Herrliche Tage rauschten an mir vorüber, wie ein Traum
zogen sie vorbei und machten mich zum Glücklichsten der Sterb-
lichen! Meine kühnsten Wünsche wurden von den Tatsachen weit
übertroffen! Hatte ich mich bisher seelig ge-
fühlt, dass ich abends undSonntags in meine
geliebten Röcke schlüpfen konnte, so war
ich jetzt überglücklich; denn Woche auf
Woche verging, und alle die niedlichen
Sächelchen, die Frauen an sich tragen,
trug auch ich an mir und freute mich täg-
lich aufs Neue, sie anz ulegen. Meine Taille
wurde zierlicher, denn ich gewöhnte mich ans Korsett; nur
die offenen Damenbeinkleider vertrug ich nicht, da ich hef-
tige Schmerzen im Scrotum davon hatte. Die geschlossenen
Beinkleider, die an den Seiten zu knöpfen sind, sind etwas
unbequemer; aber sie boten die gewohnte Stütze und die
Schmerzen Hessen nach. Mein Haar wuchs länger und länger
und als ein wunderbarer, sonniger Frühlingstag über C.
leuchtete und alles in Gold tauchte, wunderte Frau Trude
mit. mir die Ringpromenade entlang mid ich trug zum ersten
Mal mein eigenes Haar nach Frauen art frisiert. Wenn es
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zum Anfang auch verhältnismässig kurz war, eine Perücke
brauchte ich nun doch nicht mehr, das machte mich sehr
stolz. Gegen Mitte April gingen wir auf Reisen und blieben
bis zum Herbst im Süden.
Während dieses halben .Jahres fühlten wir uns sehr sicher.
Mein Haar war lang, leider aber glatt und strähnig und
musste allabendlich eingeflochten werden. Ohrringe trug ich
auch, in meinen Kleidern fühlte ich mich sehr wohl und
wollte um keinen Preis wieder einen Männer-Anzug tragen.
jMein Bartwuchs war gleich Null. Die Hände freilich immer
noch zu gross, aber doch zarter in der Farbe, auch das
Gesicht zeugte von Pflege. Trotz aller Sorgfalt machte ich
immer einen etwas ländlichen Eindruck. Das teilte ich aber
mit mancher wirklichen Dame.
Hier und da kam es doch vor, dass wir Entdeckung
fürchteten. Manchmal fixierten uns Herren, manchmal Damen
aus irgend welchen vielleicht recht unschuldigen Gründen,
immer übermannte uns die Angst. Stellte es sich nachher
heraus, dass die Sorge überflüssig war, nahmen wir uns lachend
vor, das nächste Mal ruhig zu bleiben; es ging uns trotzdem
immer wieder so. In einem Hotel in Meran liess bei der
Table de hote ein Herr kein Auge von mir. Ich wurde unter
seinen Blicken unruhig und verlegen, Trude aber bekam
Zittern und Herzklopfen und musste das Essen unterbrechen.
Zitternd flüchteten wir auf unser Zimmer und fingen schon
an, die Koffer zu packen, da brachte das Zimmermädchen ein
kleines Briefchen, in welchem dieser Herr mich um eine Unter-
redung bat und zwar in einer Form, die deutlich zeigte, dass
er nicht im Entferntesten die Wahrheit ahnte. Die Angst
war wieder einmal mnsonst.
Leider war Trude manchmal furchtbar eifersüchtig und
das bildete eine Gefahr, grösser als alle anderen. Als Dame
kann man beim besten Willen nicht umhin, anderen Damen
ein freundliches Wort zu sagen, man kommt in Unterhaltung
und hat plötzlich eine Freundin. Im einsamen Öchweizer-
dorf spazierte ich durch die Wiesen und traf eine Berlinerin,
ein hübsches junges Mädchen. Wir kamen ins Gespräch und
gingen des holprigen Weges halber so, dass sie ihren Arm
48
in meinen legte, unter Damen doch nichts ungewöhnliches.
Das nahm Trude ungemein krumm, sie war nur schw'er zu
beruhigen und ich musste versprechen, das nicht wieder zu
tun. Auf dem Züricher See machten wir eine Bootfahrt, ich
ruderte, Trude steuerte. Die Ruder führte ich in einer durch-
aus sportmässigen Art und wir kamen hübsch vorwärts. Das
hatte man von einer Dame noch nie gesehen und bei der
Rückkehr ins Hotel drückte eine Französin mir ihr Erstaunen
über meine Kraft aus. Dabei griff sie öfter an meine Arm-
muskeln ohne etwas Böses dabei zu denken und wir unter-
hielten uns ein wenig über Sport. Zufällig schaute ich nach
der Richtung, in welcher Trude stand und sah ihre x\ugen
dunkel und weitgeöffnet auf mir ruhen. Ehe ich sie beruhigen
konnte, setzte ein Anfall von Schreikrämpfen bei ihr ein, der
garnicht enden wollte. Am anderen Morgen reisten \\ir ab.
Eine nette deutsche Familie lernten wir in einem anderen
schweizerischen Erholungsort kennen, dieser schlossen wir
uns etwas mehr an.« Besonders mit den beiden Töchtern stand
ich mich sehr gut, manchmal wälzten wir uns in lauter Ueber-
mut auf der Wiese herum, Trude, die beiden Mädchen und
ich. Da es noch ganz junge Dinger waren, fünfzehn- und
siebzehnjährig, mochte Trude wohl frei von Eifersucht bleiben.
Nach etlichen Tagen zogen noch mehr Erholungsbedürftige
zu und wir bekamen dadurch einen grossen Bekanntenkreis.
Einladungen hagelten nur so, Picknicks, Ausflüge und alles
Mögliche. Machten wir bunte Reihe, so dass ich neben einem
Herrn sass, dann hatte Trude nichts dagegen; das war mir
aber nicht besonders lieb, denn mit einer Dame unterhielt ich
mich weit besser, ln dieser Gesellschaft habe ich interessante Stu-
dien gemacht. Ein junger Mann, der eines organischen Fehlers
halber als Mädchen erzogen vmrde,*) erzählt, dass sich in
seiner Gegenwart Frauen geniert gefühlt hätten. Das habe
ich in meiner Praxis niemals bemerkt, mir gegenüber hat
sich nicht eine geniert; ob das nun die suggestive Wirkung
meiner Kleidung war oder ob die Damen meines Umganges
*) Gemeint ist N. 0. Body; „Aus eines Mannes Mädclienjahren
Berlin, 1907.
49
nicht so feinfühlig waren, vermag ich nicht zu entscheiden,
ich glaube aber an das erstere. Viele Jahre später, wenn ich
gelegentlich aus irgend welchem Grunde weibliche Kleidung
trug, habe ich oft bekannte Herren gefragt: Wirke ich als
Frau auf sie, oder haben sie die Empfindung, als ginge ein
Mann neben ihnen? Immer erklärte man mir, dass man das
absolute Gefühl habe, ich sei eine Frau. Die Kleidung muss
also doch wohl die oben erwähnte suggestive Wirkung
haben, wenn nebenbei nicht andere Faktoren mitwirken, die
diesen Eindruck aufheben.
Die Zeit verrann, wir kehrten im Herbst nach C. zurück
und verlebten einen herrlichen Winter. Konzerte, Theater
und Bälle besuchten wir und gerieten so recht in den Gesell-
schaftstrubel dieser lebenslustigen Stadt. Bald war ein
volles Jahr vergangen, dass ich Frauen-
kleidung trug und immer noch fühlte ich mich wohl
darinnen und hatte keine Sehnsucht nach J^Iännerhosen. Diese
Erkenntnis machte mir viel zu schaffen und brachte mich oft
zu Zweifeln an meiner Männlichkeit. Wenn ich ein absoluter
Mann bin, so sagte ich mir, dann müsste doch mein Inneres,
wenn auch nur ein wenig, nach der Kleidung streben, die
meinem Geschlecht wirklich zukommt! Aber nein, nichts regte
sich in mir, im Gegenteil, immer wieder durchzog mich ein
wohliges Gefühl, wenn mich die seidenen Unterröcke um-
rauschten. Trude sagte, in Männerkleidern könne sie mich
garnicht denken und möchte mich so auch nicht sehen, ich
sei für den Unterrock geboren; das müsse ich schon daraus
sehen, dass mir Niemand den Mann anmerke. Und abends,
wenn ich in ein weiches, bequemes Hauskleid geschlüpft war,
schlang sie heiss und feurig die Arme um mich und versicherte,
sie würde mich nie loslassen, aus den Frauenkleidern dürfe
ich nicht wieder heraus.
Auch das machte mir viel Kopfzerbrechen, denn ich hatte
bemerkt, dass ein normales Weib einen Mann in Frauenklei-
dern nicht leiden mag, sondern Abscheu empfindet. Trude
dagegen war am feurigsten, wenn ich noch Korsett und Unter-
röcke anhatte, dann löste sie mein Haar und wühlte darin,
Hirschlelil, Die Transvestiten. 4
50
bis eine förmliche leiderischaftliciie Raserei sie ergriff, die mit
innigster Umarmung endigte.
In sexueller Hinsicht war sie sehr leidenschaftlich. Ihr
Mann war krank, schwerkrank und musste im Rollstuhl fort-
bewegt werden, er konnte dem jungen Weib nichts bieten.
Ich war ein Jahr älter als Trude und in einer Lebensperiode,
die aus der Fülle heraus wirtschaften lässt. Soviel ich aber
auch zu leisten vermochte, vollkommen zufrieden war Trude
nie, war eine Viertelstunde verflossen, dann tauchte aufs
Neue die heftigste Begierde in ihr auf. Das gab mehrfach
Zank und dem Zank folgte immer eine Versöhnung, die ent-
sprechend besiegelt werden musste. So ging es einen Tag wie
den anderen.
In einer Gesellschaft hatte ich eine Dame kennen gelernt,
eine Witwe, die mich auch gern als Gesellschafterin engagiert
hätte. Sie lauerte mir häufig auf und sprach auf mich ein,
trafen wir zu irgend einer Gelegenheit zusammen, dann sass
sie gern neben mir und unterhielt sich. Das brachte Trude
zur Verzweiflung! Wenn ich ihr hoch und teuer versicherte,
ich hätte nicht die geringste Neigung, den Lockrufen zu
folgen, sie traute mir nicht und liess mich schliesslich nicht
einmal allein auf die Strasse. Diese Eifersucht trübte unser
Zusammenleben sehr, dazu kam ihre eben geschilderte Leiden-
schaftlichkeit auf sexuellem Gebiete, genug, die schönen Tage
waren bald nicht mehr schön.
Ausserdem fiel es mir schwer auf die Seele, dass ich älter
und älter wurde und es doch mit keinem Schritte weiter
brachte. Wohlleben und 5Iüssiggang erzeugen trübe Gedanken
und stundenlang sass ich und brütete mit finsterem Gesicht
und sah vor mir eine schwarze Zukunft. Als Dame war ich
gänzlich ohne Papiere, um nicht aus der Reihe der Lebenden
ganz und gar gelöscht zu sein, schickte ich vierteljährlich an
meine Zimmerwirtin die liliete, denn bei ihr war ich polizei-
lich gemeldet. Einmal brachte ich die Äliete persönlich hin,
ohne dass sie mich in meinen Kleidern erkannte und fand
einen Brief meiner Mutter vor, die sehr verwundert ob meines
Schweigens schrieb.
51
Wenn ich mit Trude heftig erzürnt war, dann empfand
ich meine Lage als Schmach und in mir tobte und gärte es
gewaltig. Das häufigere Auftreten von Zerwüitnissen liess
den Gedanken an heimliche Flucht in mir reifen und als ich
eines morgens einen furch tbai’en Auftritt (allerdings nicht
ohne meine Schuld) hinter mir hatte, der für Trude Wein-
krärapfe zur Folge hatte, zog ich mich reisefertig an, machte
einen Koffer mit den allernotwendigsten an Wäsche etc. zu-
recht und war gerade dabei ihn zuzuschliessen, als Trude
dazu kam. Sie übersah sofort die Sachlage, die sie übrigens
geahnt haben mochte, brachte kein Wort heraus, hob in
schauerlichem Schweigen den rechten Arm und zweimal sab
ich es in ihrer Hand blitzen und ein Rauchwölkchen auf-
steigen: das rasende Weib hatte auf mich geschossen.
Einen Knall habe ich überhaupt nicht gehört, aber von
meinem Ohr tropfte rotes Blut herab auf meine Bluse, von
einem Streifschuss. Eine Kugel hatte in die Fensterscheibe
ein kleines rundes Loch gemacht, die andere war an das
Mauerwerk geschlagen und sprengte etwas Kalkputz heraus.
Ich habe nie in meinem Leben einen Schreck bekommen,
auch bei dieser Gelegenheit nicht, ich fand ihr Vorgehen ganz
natürlich. Als Trude geschossen hatte, liess sie den Revolver
fallen und sank lautlos auf den Teppich. Ich brachte sie ins
Bett und schickte zum Arzt, da sie nicht aus der Ohnmacht
zu erwecken war. Der konstatierte ein Nervenleiden und ver-
ordnete absolute Ruhe. Der Dienerschaft und ihres Mannes
halber blieb ich noch 14 Tage bei ihr, dann ging ich auf
und davon, am anderen Morgen war ich in B.
Hier wohnte ich im Christlichen Hospiz einige Wochen,
denn ich hatte keinerlei Papiere und konnte darum kein
möbliertes Zimmer mieten. Nach allen Richtungen
bemühte ich mich, um die Möglichkeit zu
finden, mein Leben als Dame weiter zw
fristen ; denn ich hatte grosse Abneigung dagegen, wie
früher wieder als junger Mann zu arbeiten. Das Glück war
mir nicht besonders hold und mein Geld wurde immer weniger.
Es würde zu weit führen, alle meine Versuche zu schil-
Ti dem, ich kann nur einiges herausgreifen. Zu einer Stellenver-
4*
mittlerin kam ich, bezahlte das Einschreibegeld und wünschte
Stellung als Gesellschafterin. Ihre Frage, wo ich bisher war,
beantw'ortete ich wahrheitsgemäss, Zeugnisse konnte ich aber
nicht vorlegen. Sie sah an meiner eleganten Kleidung her-
unter und ihr Auge blieb auf meinem Busen haften, dessen
innere Leere sie ja nicht ahnen konnte, da bückte sie sich an
mein Ohr und sagte: „Wollen sie nicht lieber als Amme gehen?
Gute Ammen können wir immer brauchen und sie haben ja
eine kräftige Figur!“
Im Hospiz wurden Einladungen verteilt zu einem Fest
der Stadtmission. Um etwas auf andere Gedanken zu kommen,
ging ich hin und führte auf diese Art ein niedliches Kostüm
spazieren, das mir Trude in letzter Zeit geschenkt hatte. Boi
Tisch sass ich zufällig neben einer jungen Dame, die mir aus-
nehmend gefiel durch ihr sanftes und ruhiges Wesen, mit der
ich in eine nette Unterhaltung kam. Diese junge Dame wurde
bestimmend für mein ferneres Schicksal, denn sie ist jetzt
meine Frau. Dass ich und diese Dame, von der
sie später noch öfter sprach, ein und die-
selbe Person sind, weiss meine Frau heute
noch nicht. Denn als ich einsah, dass es keine Möglich-
keit für mich gebe, als Dame eine Existenz zu erringen, als
ich sogar als Lehrmädchen einige Tage in einer Kravatten-
fabrik gearbeitet hatte und wegen mangelnder Invalidenkarte
aufhören musste, da bot ich alles auf, um aus meiner Frauen-
rolle herauszukommen. Das war schwieriger als ich glaubte.
Im Tiergarten sah ich eines Sonntags nachmittags ein
bekanntes Gesicht, wusste aber nicht, woher diese Bekannt-
schaft rühren könnte und folgte dem Herrn in einiger Ent-
fernung. Nachdem ich ihn nochmals angesehen hatte, wmsste
ich endlich, wer es war, ein Landsmann von mir, ein Archi-
tekt. Entschlossen trat ich auf ihn zu und sprach ihn
mit seinem Namen an. Er war sehr erstaunt, denn er erkannte
mich garnicht. Mit vieler Mühe klärte ich ihn über meine
peinliche Lage auf, denn er war sehr geneigt, meine Angaben
für einen schlechten Scherz zu halten. Als er endlich begriffen
hatte und aus seinem Staunen heraus war, erschien ihm alles
ungeheuer spassig und lustig. „Weisst was? sagte er, heute
53
bleibst noch in deinen Mädelskleidern, morgen auch. Jetzt
gehn wir erstlich mal uns stärken, morgen Abend haben wir
ein kleines Künstlerfest und da kommst du mit und bist
meine Dame. Und übermorgen in der Frühe, da bestellen ivir
den Barbier, der schneidet deine langen Haare ab und du
fährst wieder in deine Hosen. Erst pump ich dir einen Anzug,
dass du wieder nach C. kannst und den schickst mir wieder
und siehst dann selber zu, wie du weiter kommst!“
Mit vieler Wehmut und Trauer liess ich am Montag mein
schönes braunes Haar zum letzten Male frisieren, betrübt zog
ich mein hellgraues Seidenkleid an und gab in der Damen-
garderobe des Festsaales meine Sachen, Mantel. Hut und Boa
ab. Dann bin ich aber krampfhaft lustig geworden und habe
den jungen Künstlern als ein fesches Weib gegolten, das alle
Scherze mitmacht.
Am anderen Morgen in meines Freundes Wohnung schnitt
der Barbier nach etlichem Sträuben mein Haar ab und jeder
Schnitt tat mir weh. Dann zog ich zum erstenmal seit
zwanzig Monaten wieder Männerkleider an und fühlte mich
sehr unglücklich darin. Meine weichen, rauschenden Kleider
aber kamen in den dunklen Koffer und abends fuhr ich nach
C. zurück zu meiner Zimmerwirtin und musste mir eine neue
Existenz schaffen und sehr angestrengt arbeiten.
In meinem Herzenaber erlosch dieSenn-
sucht nicht, wieder Frauenkleider tragen
zu dürfen und als Weib zu gelten, und wo es
nur irgend möglich war, trug ich meine
Röcke, auch daheim im stillen Zimmere hen.
Später kam ich wieder nach B., diesesmal als Mann \ind
als ich eine Existenz hatte, holte ich mir das liebe junge
Mädchen, von dem ich oben schon sprach, als inein Frauchen
und wir beide sind sehr fleissig am Arbeiten gewesen, haben
bisher Glück gehabt und sind vorwärts gekommen. Zwei
liebe Kinder machten unser Glück voll-
kommen.
Die Sehnsucht nach den Frauenkleidern
ist aber trotz alle, dem nicht verschwun den,
sondern ist immer nochübermächtig in mir,
54
und komme ich vom Geschäft nach Hause,
dann ist es das erste, dass ich Unterröcke
und ein bequemes Hauskleid anziehe. Mein
Frauchen sieht es nicht gern, sie ärgert sich etwas darüber,
duldet es aber, denn ich bleibe zu Hause; sie halt es wohl
für eine Marotte. Dass es ein innerer Drang ist, weiss sie
nicht und soll es nicht erfahren.“
Fall VI.
Herr F., Künstler von Ruf, ca. 40 Jahre alt. Inbezug
auf Vorfahren und Verwandtschaft ist nichts Abnormes oder
Degeneratives zu erkunden. Der Altersunterschied zwischen
den Eltern betrug 20 Jahre. Die Kindheitsentwicklung ver-
lief ohne bemerkenswerte Zwischenfälle; obwohl er sich auch
an Mädchenspielen beteiligte, zog er die Knabenspiele doch
vor. Schwärmerische Schulfreundschaften bestanden, aber
ohne geschlechtliche Handlungen. Mit 21 Jahren Hess er sich
auf einer Reise im Orient von Arabern in anu gebrauchen.
Status praesens: Konturen des Körpers mehr
rundlich, Hände und Püsse mittelgross, Schritte rhythmisch,
liebt Tanz und Fusstouren; Teint dunkel und unrein,
Körperbehaarung schwach, Kopfhaar wird gern lang
getragen. Bartwuchs mittelstark. Errötet und erblasst
leicht; Kehlkopf wenig hervortretend, Stimme ziemlich tief.
Uebung zur Fistelstimme. Neigung zum Weinen,
Eitelkeit, Abenteuersucht, Abhängigkeit von Stimmungen,
exzentrisches Benehmen sind hier, wie oft bei Künstlern,
vorhanden. Er trinkt und raucht stark. Bildung oberfläch-
lich, Phantasie lebhaft.
Vita sexualis: Er hat immer viel masturbiert,
so dass ihm Pollutionen unbekannt sind. Die Stärke seiner
Libido unterliegt Schwankungen und drückt sich etwa in der
Zahl von 2 — 14 Ejakulationen pro Woche aus. Hat er
Prauenkleider an, so fällt es ihm leicht, usque ad orgasmum
zu masturbieren, ohne dass er dabei an weibliche oder männ-
55
liehe Personen zu denken brauchte; ja, es passierte ihm,
dass die Ejakulation eintritt, ohne dass er sein niembrum
überhaupt berührt hätte. Als besonders reizend
bezeichnet er eine melodische Stimme, die
weiche Haut des Weibes und Parfüms. In
coitu bevorzugt er die Stellung des succubus. Er
schloss zweimal Liebesheiraten, aus denen
zwei Kinder hervorgingen. Aus seinen autobio-
graphischen Skizzen sei folgendes hervorgehoben:
..Soweit ich zurückdenken kann, wurde
ich immer von dem einen Gedanken gequält,
ich möchte weibliche Kleidung tragen. Erst
waren es die Ohrringe und später die Damenstiefel, deren An-
blick mir jedesmal heftige Wünsche erregte. Im Alter von 10
Jahren träumte ich oft, ich ginge mit richtig eingestochenen
Ohrringen auf der Strasse spazieren, und jedermann fände das
ganz natürlich. Die Vorstellung, dass ich so frank und frei
meinen Wünschen entsprechend mich zeigen dürfe, verursachte
mir ein erotisches Wohlbehagen. Erzählt habe ich niemandem
je von diesen Träumen, sie vielmehr wie ein grosses Geheim-
nis sorgfältig gehütet. Dafür masturbierte ich um so eifriger,
da ich bei dem Gedanken an Ohrringe von den heftigsten
Erektionen geplagt wurde. Einmal bekam ich ein paar zier-
lich benähte Stiefeletten nach damaliger Mode; ich schämte
mich furchtbar, sie anzuziehen und mich darin vor den Leuten
zu zeigen, sodass sie schliesslich umgetauscht werden mussten.“
„Je älter ich wurde, desto schlimmer wurden diese Zu-
stände bei mir. Ich schlich auf den Boden, zog
die Stiefel meiner Mutter an, kramte in
ihren Koffern nach Garderobenstücken
aus den „besser n“ Tagen und kostümierte
mich nach Herzenslust. Endlich wurde ich dreister,
trat mit der Behauptung auf, meine Stiefel drückten mich
beim Schlittschuhlaufen, und veranlasste meine j\Iutter, mir
ihre zu borgen. Dies fiel nicht weiter auf. Ich war damals
so wild, dass ich manche Mädchen, deren Schuhe mit gefielen,
hätte überfallen mögen, um mich ihrer Fussbekleidung zu be-
mächtigen.“
56
„Als ich ungefähr 17 Jahre alt war und die Akademie
besuchte, kam es vor, dass wir Freunde uns untereinander
Modell standen, weil damals weibliche Modelle noch nicht üb-
lich waren ; dies war für mich stets ein gern ge-
suchter Vorwand, Weiberkleidung anzu-
z i e h n.“
„Es kam der Augenblick, wo mir zum erstenmal ein
weibliches Modell nackt posierte. Ich fand die Person scheuss-
lich und bemitleidenswert; malen konnte ich nichts nach ihr.
Der männliche Körper erschien mir bei weitem schöner; be-
sonders fesselten mich Statuen des Apollo, wie er in langen
Gewändern zur Kithara singend einherschreitet. Schliesslich
aber verliebte ich mich doch in ein Modell, das freilich nicht
mehr so „unschuldig“ war, wie ich; ich konnte ihren stillen
Wünschen indessen nicht willfahren, da ich absolut nicht
wusste, was ich mit ihr anfangen sollte.“
,,Inzwischen trieb ich mein geheimes Laster weiter. Als
ein Kollege hei einem Kostümfest mit Geschick eine weib-
liche Rolle spielte, kam ich auf die Idee, das auch zu ver-
suchen. Maske und Allüren gelangen mir so vorzüglich (es
war eine Tanzpantomime im indischen Stil), dass sogar die
Zeitungen lobend davon berichteten. So wohl fühlte
ich mich in den Kleidern, dass ich sie nie
hätte ausziehn mögen. Doch hütete ich mich
wiederum, das jemandem einzugestehn; denn es hing ja mit
der Onanie zusammen.“
„Dann verheiratete ich mich, mit derselben, die „nicht
mehr so unschuldig war wie ich“, aus moralischen oder
irgend welchen Gründen; denn sie hatte inzwischen ein Kind
von mir. Ich schaffte mir dann geschmack-
volle Frauenkleidung an und kostümierte
mich morgens zum Kaffeetisch. Wenn Besuch
kam, oder wenn ich auszugehen hatte, musste ich zu meinem
grössten Bedauern die Kleidung wechseln. Um sexuell mit
meiner Frau verkehren zu können, war es nötig, dass min-
destens sie diejenigen Kleider anzog, die ich gern angehabt
hätte.“
57
Eines schonen Tages verliebte sie sich in einen andern
und lief mir davon. Mein Trost waren die armseligen paar
Kleider; aber die Einsamkeit überfiel mich doch sehr bitter.
Ich war sicher der lasterhafteste Mensch unter der Sonne.
Niemandem durfte ich es wagen, mich anzuvertrauen; also
weiter heucheln! Ich brauchte Gesellschaft: gefallene Mädchen,
womöglich frisch gefallene, die mich gern hatten, weil ich sie
versorgte. Ich zog ihnen an, was mir selber so gut ge-
standen hätte, und lief daneben als „Herr“ (ich war damals
eine Tagesberühmtheit geworden). So war es doch keine
„Selbstbefleckung“ mehr. Meine eigenen Weiberkleider waren
abgeschafft; ich kam mir sehr moralisch vor!“
„Ich benutzte die Mädchen als Modelle, schrieb ihnen
Stellungen vor, die sie mit der Zeit lernten, gewöhnte sie an
meinen Modengeschinack, bis sie — wegliefen, sobald sich ein
passabler Verliebter zeigte. Ich „tyrannisierte“ sie
zu sehr.“
„Meine Einsamkeit nahm zu. Manchmal hatte ich heftige
Sehnsucht nach einer talentvollen Theaterdame; doch diese
Hessen sich nicht „tyrannisieren“. Sowie ich allein war,
brach mein Laster mit verdoppelter Gewalt aus. Ich suchte
meinen Ekel vor mir selbst mit Alkohol zu überwinden.“
„Endlich lernte ich wieder ein mir zusagendes Mädchen
kennen. Kurze Zeit vor der Hochzeit bekam ich das Buch
von Forel in die Hände und erhielt zum erstenmal Aufklärung
über meinen Fall, d. h. eigentlich nur über meinen Stiefel-
fetischismus. Ich vertiefte mich nun weiter in ähnliche Werke
und fand schliesslich den Mut, meiner Frau offen zu gestehn,
was mich bedrückte. Die Erleichterung meines Gemüts machte
mich förmlich delirieren; ich war geblendet, wie ein Gefange-
ner, der aus den unterirdischen Kerkerlöchern des Dogen-
palastes plötzlich auf die sonnige Piazetta in Freiheit ver-
setzt wird. Ich hätte die Welt umarmen und um Verzeihung
bitten mögen für meine kleinliche und scheussliche Heuchelei.
Nur fern im Untergründe fragte eine Stimme: wozu hast
du dich eigentHch verheiratet?“
„Jetzt sehe ich ein, dass ich nun mal so geartet bin. Es
geht auch besser mit der Ehe, als ich ursprünglich fürchtete.
58
Man kommt mir entgegen; selbst meine Schwieger-
eltern haben nichts dagegen, dass ich zu
Haus beständig Weiberkleider trage, wo-
fern ich nur ihre Tochter gut behandle.“
Fall VII.
Herr Q., bis vor kurzem Polizei-Beamter, ca. 40 Jahre
alt. Ein Onkel war Tabiker, seine Eltern Cousin und Cou-
sine. Sonst ist aus der Verwandtschaft nichts zu ermitteln,
was auf Degeneration Bezug haben könnte. Herr G. hat
Aufzeichnungen über sich gemacht vom Umfang eines recht
ansehnlichen Druckbandes in Lex. 8 . Hieraus seien die be-
merkenswertesten Details mitgeteilt:
Inbezug auf die Kindheitsentwicklung heisst es: .,Sah ich
in Märchenbüchern oder auf Bilderbogen Männer mit struppigen
Vollbärten oder von rauhem, rohem Wesen dargestellt, so
konnte ich es mir garnicht vorstellen, dass ich auch einmal ein
Mann werden sollte.“ G. hatte stets Sehnsucht nach Puppen
und Puppenwagen, bekam aber nie derartiges Spielzeug.
Allerhand Puppengeschirr besass er; sein Wunsch, damit
Kochen spielen zu dürfen, wurde ihm von der Mutter abge-
schlagen.
In dem kleinen Jungen entwickelte sich nun sehr bald
eine Zuneigung zu seiner ein paar Jahre alten Schwester, be-
sonders zu ihrem Hals oder Halsausschnitt und zu ihrer ge-
samten Kleidung. Er empfand diese Neigung schon deutlich
als erotisch; denn sie wurde für ihn bald zu einer inneren
Heimlichkeit. „Kam meine Schwester aus der Schule und setzte
sich dann zum Mittagessen nieder, so kletterte ich von hinten
auf ihren Stuhl und bedeckte ihren Nacken mit innigen
Küssen.“
Sehr früh trat auch schon ein Zug auf. den er in seinem
Bericht selber als masochistisch bezeichnet. „Ich empfand eine
sinnliche Befriedigung, wenn ich mich als kleiner Knabe mit
dem Bauch platt auf die Erde legte, und wenn meine Mutter
dann ihren Schuh auszog, mit dem Fuss sanft über meinen
59
Rücken strich und tretende Bewegungen machte. Ich nannte
das „Padde (Frosch) treten" und bat im Alter von 5 — 6
Jahren meine Mutter fast täglich hierum."
Mädchen erschienen ihm wie übernatürliche Wesen. Ob-
wohl er wenig Gelegenheit hatte, an ihren Spielen teilzu-
nehmen, war stets sein höchster Wunsch, als Mädchen sich
unter Mädchen tummeln zu können. Die Raufereien der
Knaben fand er roh und abstossend. Dabei bestand und be-
steht grosse Neigung zum Weinen.
Mit 7 Jahren kam er in die Schule. Seine erste Ent-
täuschung war dort, dass er keine Lehrerinnen bekam. Da-
gegen hatte er das „Vergnügen“, dass ausnahmsweise die
Tochter des Schuldirektors in der gleichen Klasse mitunter-
richtet wurde. Beim Nachhausegehn folgte er ihr oft von
fern. Wieder regte sich der Wunsch, so ein
Mädchen „in duftigem, tief ausgeschnitte-
nen Kleide“ sein zu können.
Schläge von seiten der Eltern und Lehrer gab es öfter.
Sein Ehrgefühl litt ausserordentlich darunter. Bekamen andre
Jungens eins ab. so hatte er dagegen „beim Anblick des
Opferlamms erotische Gefühle“
Im 9. Jahre stellten sich Nacht- und Tagträume ein.
„Ich hatte die Illusion, ald stände eine ganze Reihe der
schönsten Frauen in ausgeschnittenen Gewändern vor mir und
ich küsste und beleckte sie an Hals und Brust nach Herzens-
lust.“
Sentimentale Märchen interessierten ihn ungemein. Er
vergoss bittere Zähren über das Geschick der heiligen Geno-
veva. Die Geschichte der Märtyrer, das Leiden Christi machten
sein Herz klopfen.
Mit 10 Jahren geriet er einmal in eine heftige Erregun
beim Anblick eines .,stark dekolletierten Mädchens von 6 — <
Jahren“. In seinem Bericht vibrierte dieser Eindruck noch so
sehr nach, dass er die Einzelheiten der Kleidung dieses Mäd-
chens genau angibt. „Ich bedauerte, dass ich nicht auch so
frei und luftig um den Hals gehen, nicht auch die Haare so
schön lang wachsen lassen durfte usw.“
bß C
60
„Ein neues Moment: Damals bereits empfand ich in
meinen Brüsten ein wollüstiges Getühl, sodass ich mir mein
Knabenhemd zuweilen öffnete und meine Brüste betastete.
Auch ging ich heimlich ans verschlossene
Küchenspind, nahm mit dem Teelöffel et-
was Milch aus dem Topf und träufelte sie
auf meine Warzen, um mir die Illusion
einer stillendenMutter vorzugaukeln. Hier-
bei hatte ich ein starkes Gefühl, natürlich ohne Eja-
kulation."
Dann verliebte er sich in einen Klassenlehrer, den „Typus
eiues verfeinerten Urgermanen“. Wenn dieser ihm mit der
Hand über das Haar strich, war er wie elektrisiert. „Ich
errötete tief, denn ich spürte das Rieseln des Blutes in meinen
Wangen. Bei einer andern Gelegenheit hatte ich zum ersten-
mal das Gefühl, ich möchte die Frau dieses Mannes sein.“
Im 11. Jahre musste G. wegen einer Luxation Monate
lang das Bett hüten. „Ich las dabei Romane und wurde
durch die Schilderungen von schönen Frauenarmen, zierlichen
Damenhänden und -füssen, Alabasterbusen, schönen, herrlichen
und entzückenden Damenkostümen heftig erregt. Blätterte
ich in Märchenbüchern herum, so küsste ich die Bilder schöner
Prinzessinnen“.
Im 12. Jahre hatte er im Turnsaal beim Stangenklettern
„ungemein schöne Gefühle“. Er wurde in Gartenlokale mit-
genommen und begeisterte sich für Chansonetten in „ihren
niedlichen kurzen Kleidchen“. Ein Damendarsteller
erregte in ihm die lebhafte Begierde,
diesen Beruf zu dem seinen zu machen. Seine
Sexualität wurde nun überhaupt stärker. „Zu dieser Zeit
hatte ich Träume, nach denen ich recht gestärkt erwachte;
wenn ich auch darüber ärgerlich war, dass der Traum nun
aus sei. Mirwar’s, als ginge ich in Mädchen-
kleidern auf der Strasse spazieren oder
sässe in solchen auf der Schulbank. Manch-
mal schien mir’s, als hätten auch andere Knaben, ja selbst
der Lehrer Mädchenkleider an. Dann wieder, als tanzte eine
wunderbare Frauengestalt mit vollen Brüsten und in berückend
61
schönen blauen Gewändern vor mir in den Lüften und Hesse
sich zu mir hernieder, wie Pallas Athene zum Helden
Achill.“
„Im Sommer desselben Jahres konnte ich der Versuchung
nicht länger widerstehn; ich schlich in unbewach-
ten Augenblicken an den Korb mit der
schmutzigen Wäsche, holte mir ein Hemd
meiner Schwester hervor und zog es mir
über. Es roch so schön nach Schweiss. Mein Herz klopfte
zum Zerspringen, Schauer durchrieselten meinen Körper, und
ich zitterte wie Espenlaub. Vor Entzücken biss ich in die
Kanten des Brustausschnitts und schlug klatschend auf meine
Brust, Schultern und Oberarme.“
Derartige Szenen wiederholten sich nun öfter, in aller-
hand Variationen. Nach einer solchen Extase war er dann
eine Zeit lang „ganz ruhig und vernünftig“ und bereute seine
„Schwäche“ ein wenig. Ejakulation war immer noch nicht
vorhanden. Besonders betont muss werden, dass manuelle
Masturbation erst vom 24. Jahre an geübt wurde.
Geschichten von Männern, die längere Zeit in Frauen-
kleidern lebten, bevorzugte er als Lektüre. Achill unter den
Töchtern des Lykomedes erschien ihm „dumm“ in dem Augen-
blick, wo er das Schwert ergreift. Andererseits kam es aber
vor, dass ihm der Hauptmann, der mit gezogenem Degen
unter klingendem Spiel der Truppe reitet, als Ideal vor-
schwebte. Vom Geschlechtsakt und der Entstehung des Men-
schen hatte er damals noch keine Ahnung.
Aus dem 13. Jahre ist folgender Bericht zu erwähnen:
„Es traf sich einmal, dass Eltern und Geschwister auf einige
Stunden abwesend waren. Oh wie jubelte ich innerlich!
Mein Herz war zum Zerspringen voll. Am
ganzen Körper zitternd zog ich mich nackt
aus, holte aus demW äschekorb Hemd, Hose,
Schürze, Strümpfe meiner Schwester her-
vor und kleidete mich damit an. Ihre Stiefel
nahm ich gleichfalls, befestigte an meinem
Haar ein Bukett künstlicher Blumen, band
um den Hals ein schwarzes Samtbändchen
62
und z 0 s Mädchenhandschuhe an. Dann
setzte ich einen altenHut meiner Schwester
auf den Kopf und spannte ihren Sonnen-
schirm auf. Wie glücklich fühlte ich mich
d a ! Und die Kleidungsstücke rochen so wunderbar schön;
wie Balsam kam mir der Geruch vor. Nun trat ich vor den
Spiegel — das sollte ein Knabe sein? Purpurröte bedeckte
mein Antlitz und Wonneschauer gingen durch meinen
Körper.
Im 14. Jahr begannen nächtliche Pollutionen nach denen
er „wie neugeboren“ erwachte. Eine neue Eigenart schildert
er so: „Ich hatte damals die Neigung, auf ein Stück Papier
Sätze zu schreiben wie: „I am a very fine young lady, I am
a beautiful girl.“ Darnach zerriss ich die Zettel wieder. Auch
Sätze in der Gramatik wie: ]e suis une belle fille. je suis ta
tante, ta inere, erregten mich erotisch.“
„Oft bat ich meine Schwester, sie möchte einen oder
zwei Knöpfe an ihrer Taille aufknöpfen; was sie auch manch-
mal tat. Dann langte ich hinten in ihren Nacken und zerrte
den Saum ihres Hemdes hoch. Oder ich bedeckte ihren Hals
mit stürmischen Küssen.“
Mit 15 Jahren hielten ihn die schwierigem Schulaufgaben
oft bis in den späten Abend hinein fest. Es ist bemerkens-
wert, dass er dazu schreibt: „Infolgedessen war ich
sexuell sehr aufgeregt.“ Er schlief damals mit Vater und
Bruder in einem Zimmer. Sobald diese schnarchten, schlich
er leise zum Wäschekorb, nahm Hemd, Hose, Unterrock und
Strümpfe der Schwester heraus und zog sie an. „Ich bekam
dann zu meinem nicht gelinden Schreck Pollutionen und legte
alles wieder in den Korb hinein. Dann erst korinte ich ein-
schlafen. Dies setzte ich eine ganze Zeit hindurch beinahe täg-
lich fort, erwachte aber nie besonders geschwächt.“
Aus dem 16. Jahr sagt der Bericht: ..Die rohen und ge-
meinen Reden meiner Mitschüler waren mir zuwider; denn
sie erhöhten meine Phantasie und erregten mich sexuell in
hohem Masse . . . Jetzt trat wieder eine ganz neue Erschei-
nung auf. Wenn wir Schüler ein Extemporale schrieben und
ich war beim Läuten mit meiner Arbeit noch nicht fertig ge-
63
worden, so ergriff mich die Angst, eine schlechte Note zu er-
halten derart, dass ich plötzlich trotz meines energischen
Sträubens Ejaculation hatte."
Er benutzte nun jede Gelegenheit zur
Verkleidung. Erklemmte sichOhrringe an,
raffte im Zimmer nach Frauenart den Rock
hoch mit hüpfenden und wiegenden Bewe-
gung e n.“ „Dann hatte ich plötzlich Orgasmus, ohne dass
ich masturbiert hatte.“
Das Gymnasium absohderte er glatt und von Quinta an
als Klassenerster. Als Primaner verkleidete er sich seltener.
Geschah es aber, so liebte er die Illusion einer nährenden
Amme. Er band, gleichsam als Kopftuch der Spreewälderinnen,
eine SerGette um den Kopf, formte aus einer andern das
„Kind“ und legte es zum „Stillen“ an, indem er ein Ammen-
liedchen vor sich hin summte. Damals erregte ihn auch der
Anblick eines Damendarstellers so heftig, dass er nur mit
Mühe und mehrmals erfolglos die spontane Ejakulation zu
hemmen versuchte.
Ferner schreibt er: ,,Yon jeher sah ich gern weidende
Kühe und Pferde, die mir in ihrer fessellosen Freiheit höchst
beneidenswert erschienen. Ich wünschte, ich hätte eine Kuh
sein können; namentlich von den milchstrotzenden Eutern
konnte ich keinen Blick wenden. Aufs höchste er-
regte mich das Melken.“ Von dieser Ideenverbindung
wird noch weiter die Rede sein. Er hat sich eine Serie von
Ansichtskarten zugelegt, die das Melken der Kühe zum Gegen-
stand haben und deren Betrachten ihn unfehlbar in Exzitation
versetzt.
Für seine Schüchternheit und PassiGtät ist folgendes be-
merkenswert: Er bekam einen jüngeren Schüler zum Nach-
hilfe-Unterricht. Dieser benahm sich bald sehr ungezogen,
neckte ihn mit Mädchennamen und begann schliesslich, ihn zu
zwicken, zu schlagen und zu treten. Er aber liess alles ruhig
über sich ergehn, ja nahm solche Uebergriffe mit einem ge-
wissen Genuss hin.
Herr G. ergriff nun die Beamtenlaufbahn, hatte aber auch
hier von vornherein mit Spöttereien und Widerwärtigkeiten
64
zu kämpfen, weil seine verschlossene Sonderlingsnatur viel-
fach dazu herausforderte, ln dieser Zeit bemühte er sich nach
Kräften, des Sperma, wie er sagt, in seinem Körper zurück-
zuhalten. Aber gerade dann war er von seinen „weiblichen“
Ideen sehr geplagt, wmhrend er sich nach Ejakulationen frei
und als .,Mann" fühlte. So kam er auf den merkwürdigen Ge-
danken, das Sperma überhaupt für das weibliche Prinzip in
seinem Körper zu halten, „gewissermassen die Rippe, aus der
Gott das Weib schuf.“
Zum Begriff des Obszönen macht er aus dieser Periode
folgende Angaben: Sexuell erregend waren für
ihn die Worte Kuh, Hirschkuh, Stute; die
Karo-Dame im Kartenspiel; das Portrait
des Chevalier d’Eon; aus dem Liede „Nun
danket alle Gott“ der Vers „der uns von
Mutterleib und Kindesbeinen an“; die lite-
rarischen Gestalten der Kriemhild, Pene-
lope. Gudrun, Eboli; der Satz in Imm. er-
manns Oberhof „W enn die Magd die Kuh
melkt, steht ihr immer der Geliebte vor
Augen“ erregte ihnmasslos. Wenn er eine Braut-
kutsche sah, beneidete er die Braut stets „viel, viel mehr als
den Bräutigam“.
Nach dem Tode seiner Eltern gestand er den Geschwistern,
mit denen er die Wohnung teilte, seine Neigung zur weib-
lichen Verkleidung. Er lebte dieser nun offenkundiger nach,
stand ewig vor dem Spiegel und bewunderte „die Inkarnation
des Weibes in sich“. Sein Körper hatte ziemlich Fett ange-
setzt oder, wie er. es nannte, die „Weiberfleischwerdung“ war
bei ihm vollendet; das Spiegelbild seines „Speckhalses“, seiner
„Wurschtarme“ war für ihn berauschend; er küsste es.
Eines Tages begann er Zeitungsausschnitte über „Männer
in Frauenkleidern“ zu sammeln. Da ihm die Spärlichkeit der-
artiger Notizen aber nicht genügte, spielte er seinen eigenen
Redakteur. Er verfasste Lokal-Feuilletons wie folgendes:
„Narcissus redivivus! Ein heiteres Intermezzo gab es gestern
Nachmittag in der Friedrichstadt. Promenierte da zwischen
dem Eisenbahnviadukt und der Strasse Unter den Linden eine
65
bildschöne junge Dame in geradezu reizender Toilette usw.'‘
Die Dame wird auf Veranlassung einiger eifersüchtiger Prosti-
tuierten nach der Polizei gebracht und entpuppt sich hier
als „bildschöner Jüngling“, der unter Tränen versichert, von
Kindheit an den unwiderstehlichen Drang zu Frauenkleidern
gehabt zu haben. Nachdem er sich als der höhere Beamte
Herr G. legitimiert hat, wird er mit der freundlichen Er-
mahnung entlassen, solche Scherze in Zukunft zu vermeiden.“
Derartige Dokumente einer geistigen Masturbation genoss
er dann in tagelang wiederholter Lektüre. Seine Verschlossen-
heit und Sonderlingsmanieren nahmen hierbei begreiflicher-
weise zu. Die Kollegen narrten ihn oder er glaubte von
ihnen genarrt zu werden. Man ■ stichelte ihn, weil man
merkte, dass er nicht mit Weibern verkehrte. Die Folge war
bei ihm eine verstärkte Phantasiearbeit in der Einsamkeit.
Schliesslich verlor er bei seinen erotischen Schrifttibungen ganz
und gar den Massstab und Konnex der Aussenwelt. Er über-
gab dem Briefkasten unfrankierte und nicht oder phantastisch
adressierte Briefe, die zur Aufdeckung seines Treibens, zur
Entlassung und wegen des seltsamen Inhalts, dessen Moti-
vierung er hartnäckig verschwieg, auch zur Entmündigung
führten. Seine Manie begann damit, dass er eine Reihe von
Zetteln ausschrieb, etwa mit folgendem Wortlaut: „Ich möchte
eine Amme sein, die an ihrer blühenden, knospenden Brust
ein Kindchen säugt“. Diese Zettel deponierte er vorsichtig
auf Hausfluren,, in den Sandkästen der Strassenreinigung usw.
Dann ging er zu umfangreicheren Briefen über. Er richtete
sie u. a. an bekannte Molkereien, dann aber auch ganze Se-
rien in Kinderhandschrift als ..Unglücklicher Neffe Felix“ an eine
imaginäre Tante „Frau verwitw. Schulze geb. Müller geschied.
Lehmann separ. Lange in YY“. Er bettelte darin um Mäd-
chenkleider, da er doch eigentlich gar kein Junge sei etc. Es
kamen aber auch sehr obszöne Briefe vor, andererseits solche,
die bedenkliche Folgen haben konnten, wie z. B. der nach-
stehende, an dom natürlich kein wahres Wort ist, der vielmehr
eine geträumte erotische Wunscherfüllung bedeutet:
(Ohne Freimarke und Adresse in den Briefkasten ge-
worfen.) „Ich bin ein junger Mann und Beamter von Beruf.
HirachfeM, Die Transvestiten.
o
66
Wenn ich nachmittags aus dem Bureau ermüdet und ermattet
zu Hause ankomme, zwingt mich meine Schwester unter Fuss-
tritten. Stocksclüägen, Peitschenhieben und Ohrfeigen, dass
ich mich als Dame verkleide. Habe ich dann Mädchenkleider
angelegt, dann muss ich mir immer die Taille öffnen und
meiner Schwester die Brust geben, die dann gierig an meinen
Brüsten herumtutscht, wie ein Säugling an der Mutterbrust.
Auch knetet sie an meinen Brüsten mit den Händen herum,
wie etwa die Magd die Kuh melkt. Sie klopft, befühlt und
betastet meinen Nacken, beisst in meinen Hals und in meine
fleischigen Oberarme hinein und betrachtet mich überhaupt
wie ihre Milchkuh. Dieses Leben halte ich nicht länger aus.
Ist niemand da, der mich befreit?“'
Herr G. war zu dieser Zeit infolge von Differenzen mit
einem Vorgesetzten schon ziemlich irritiert. Nach Expedierung
dieser Briefe glaubte er wahrzunehmen, dass seine Kollegen
absichtlich öfter Ausdrücke wie „Amme“ oder „Milchkuh“ ge-
brauchten, er nahm daher an, es sei alles herausgekommen,
obwohl er die Mehrzahl jener Briefe bei Spaziergängen in
Wäldern zwischen den Holzstapeln versteckt hatte. Also ging
er eines Tages, von Gewissensbissen getrieben, zum Chef seines
Ressorts und bezichtigte sich selber. Die Folgen waren die
oben erwähnten, da das Faktum als solches ohne Kenntnis
des Zusammenhangs ganz unverständlich war und einen Schluss
auf verminderte Zurechnungsfähigkeit nahe legen musste.
Die beharrliche Phantasiebeschäftigung mit dem Vorgang
des Melkens einer vollen Brustdrüse brachte es auch mit sich,
dass Herr G. seinen Ferienurlaub mit Vorliebe im Gebirge
verlebte, wo er viel Gelegenheit hatte, dergleichen Manipu-
lationen zu sehn. Zu Hause in der Gressstadt setzte ei diese
Beschäftigung dann insofern fort, als er systematisch alle
Kuhställe zu den Melkzeiten aufsuchte, unter dem Vorgeben,
er bedürfe zu seiner Gesundheit des regelmässigen Trinkens
kuhwarmer Milch. In Wirklichkeit war es ihm um den ero-
tischen Genuss zu tun, die Kuhmägde bei ihrer Arbeit zu be-
obachten und ein Gespräch darüber zu beginnen, wie gut es
eigentlich so eine Kuh habe, und dass es schön wäre, wenn
man auch eine solche sein könnte etc.
67
Trotz seines Abscheus vor der Prostitution liess er sich
doch zuweilen mit Masseusen ein. Diese erschienen ihm wegen
ihres angeblich „energischen“ Charakters wie „halbe Männer“
und daher in passendem Gegensatz zu seinem „weiblichen“
Wesen; sie mussten ihn manuell behandeln und dabei vom
Melken reden. Er malte sich auch aus, dass ihn eine Masseuse
„schlachte“, ihm mit schnellem Griff den Leib aufschlitze und
die Eingeweide herausreisse. Die Masseusen besuch-
te er oft in Damenkleidern. Einmal überredete ihn
eine solche, im Damen-Unterkostüm dabei zu sein, während
ein dritter mit ihr allerlei Figurae Veneris ausführte. Was
der dritte damit für Ideen verband, ist ihm unbekannt ge-
blieben.
Der Wunsch, ein Weib zu sein, veranlasste ihn auch zu
autocohabitatorischen Gedanken und Handlungen. Er führte
sich stockähnliche Instrumente inter femora et in anum ein.
Ferner brachte ihn seine ewige Unbefriedigtheit zu eigen-
tümlichen Exhibitions Vorgängen. An heissen Sommertagen
spazierte er in der Umgegend auf Waldwegen umher, statt
der Weste nur mit einem Gürtel angetan. An den Hut steckte
er sich Rosen, den Gehrock hängte er über den Arm, Kragen,
Vorhemd und Schlips praktizierte er in die Tasche, .letzt war
das Damenhemd, das er tiaig, und vor allem sein „Schwanen-
hals“, den er zudem noch mit einem schwarzen Samtbändchen
und goldenem Medaillon schmückte, in ganzer „Schönheit“
für jeden zufälligen Passanten sichtbar.
Von seinen auf gezeichneten Träumen seien einige Bei-
spiele wiedergegeben, z. B.t „Mir träumte, es klingle. Ich
öffnete. Ein hässliches altes Weib stand vor der Tür und
wollte mit aller Gewalt in die Wohnung eindringen. Trotz-
dem ich die Tür zudrückte, stand sie doch plötzlich auf dem
Korridor. Unter grosser Depression erwachte ich.“ Oder;
„Ich war eine Ritterdarae in einem geräumigen altdeutschen
Zimmer. Ich hatte ein hellblaues Gretchen-
Kostüm an und einen Knaben an der Brust,
während ein kleines täppisches Mädchen zu meinen Füssen
mit der Puppe spielte. Von der Holzveranda überblickte ich
Wälder, Täler und Höhen. Ich legte das Kind in die Wiege
h*
68
und ging ans Spinnrad. Das kleine Mädchen hielt sich an
meinem Kleide fest und sagte; Mutti! Da küsste ich es auf
die Stirn. Eine Fanfare schmetterte, und mein sieghafter Ge-
mahl trat ein. Seine kräftigen Männerarme umschlangen
mich. “
Im weiblichen Kostüm macht Herr G. den Eindruck einer
gealterten wohlbeleibten Dame der Halbwelt. Das Verzeich-
nis' der Kleidungsstücke, die er bei dieser Vorstellung
trug, ist folgendes: Hemd mit Stickerei, blaue
Strümpfe, dito Strumpfbänder, blaue
Zeugschuhe, hellgraues Korsett, weisses
Beinkleid mit Stickerei, weisse Unter-
röcke, hellblaues Kostüm mit tiefem Aus-
schnitt und entsprechende Zutaten an
Schmucksachen, Bändern, Kämmen in der
auffallenden Frisur etc. Das helle Blau ist bei
diesem Herrn und anderen ähnlicher Neigung die bevorzugte
Farbe.
Fall VIll.
Herr H.. Mitte der zwanziger, Mediziner, korrespondierte
mit uns über die Angelegenheit vom Auslande her.*) Seinen
Ausführungen entnehmen wir folgende Einzelheiten:
„Ich interessiere mich lebhaft für die bisher zu wmnig beach-
teten femininen Züge bei sonst heterosexuellen Männern.
Der Wunsch, sich als Frau zu verkleiden, ist fast immer durch
Erziehung, Sitte usw. gehemmt. Doch haben ihn sicherlich
viel mehr Männer, als ihn betätigen. Ich selbst liebe
es, mich als Frau zu verkleiden; indessen aus
etwas andern Gründen. Ich habe namentlich das
sogen. Prinzesskleid gern, der Aesthetik
wegen, und fühle mich in dieser Kleidung
total Frau, bin auch in den Bewegungen etc.
ganz feminin. Mit abrasiertem Schnurrbart und Perücke
erkennt man mich absolut nicht als Mann. Das Kleid muss
*) Nachträglich lernten wir ihn und seine Frau auch persönlich kennen.
69
neu, die Wäsche irisch gewaschen sein; Parfüms verwende ich
gern, am liebsten Heuduff. Dabei bin ich so hetero-
sexuell wie möglich, war mit 19 Jahren verheiratet
und habe mich, seitdem ich meine Frau vor 2 Jahren verlor,
jetzt von neuem verheiratet. Obwohl ich seit Jahren viel in
homosexuellen Kreisen verkehre, als Wissenschaftler die The-
orie der natürlichen Variabilität, und als Philosoph die Wieder-
aufnahme der hellenistischen Ansichten vertrete, so kann ich
es doch über eine blosse Freundschaft mit Männern hin-
aus beim besten Willen nicht bringen. Der blosse Ge-
danke an gleichgeschlechtlichen Verkehr
ekelt mich direkt an. Im Gegensatz dazu stehn
einige feminine Eigenschaften an mir. Man sagt oft, ich
„ginge wie eine Dame“. Meine Hände sind ziemlich klein, be-
weglich. mit schmalen Fingern. Obwohl es hierorts nicht üb-
lich ist, trug ich längere Zeit hindurch ein Armband und
lange Locken. Ich liebe auch weibliche Hand-
arbeit. sticke gelegentlich besser als die
Damen meiner Bekanntschaft, und webe.“
„Eigentlich hat nun der Reiz der Frauen-
kleidung für mich nichts Erotisches. Es
ist, als wenn zeitweise das Weibliche in meinem Charakter
besonders stark hervortritt; dann liebe ich die Maskerade,
weil sie meinem Seelenzustand entspricht. In Augenblicken,
wo ich mich mehr Mann fühle, ist mir wiederum ein straff
sitzendes Sportkostüm oder eine Studentenuniform fLitewka)
angenehmer.“
„Auf der psychiatrischen Klinik in X., wo ich längere
Zeit arbeitete, wurde ich oft vom Assistenten der Frauen-
abteilung zu Hilfe geholt, weil „ein Weib immer besser mit
Weibern auskommt“. Ich glaube eben, der weiblichen Psyche
besser nachfühlen zu können, als die meisten meiner Freunde.
Dadurch habe ich viele intime Freundschaften mit Frauen ge-
wonnen. ohne dass diese im übrigen einen mehr als plato-
nischen Reiz für mich gehabt hätten.“
„Der Weibtypus, den ich liebe, ist einzig folgender:
Mittelschlank, kräftig, blond, mit sehr üppigem Haar, blau-
grauen Augen, breitem Becken, also körperlich total
Weib; aber geistig stark entwickelt, eine sogen. Intellek-
tuelle.“
^Was meine Libido anlangt, so komme ich beim ein-
fachen Koitus nicht oder schwer zur Befriedigung; er muss
stupnimartig sein, mit gleichzeitig erzwungenem ba-
sium linguarum. Meine Frau war etwas masochistisch ver-
anlagt, sodass sich unsere Bedürfnisse hier ausglichen. Ich
habe bisher nur mit meiner Frau verkehrt; einer puella gegen-
über würde ich aus purem Ekel impotent sein. Wenigstens
war dies Gefühl, als ich einmal ein Bordell besuchte, so
mächtig, dass ich mir von der puella nur ihre Lebensgeschichte
erzählen liess und dann davonging. Uebrigens lässt
mich jedes Weib kalt, das zu willig ist oder
sich mir mit zu deutlichen Absichten
nähert. Gehst du zum Weibe, vergiss die Peitsche nicht!
dies W^’ort aus dem Zarathustra ist mehr nach meinem Sinn.“
Fall IX.
Herr I., 37 Jahre alt, früher Offizier in der amerikanischen
Armee, schreibt: Ich habe zwei Feldzüge mitgemacht und darf
wohl sagen, dass ich mich tapfer gehalten und die militärische
Medaille, die ich erhielt, verdient habe.
Körperlich bin ich durchaus männlich entwickelt; Geni-
talien sind normal gebildet, und ich habe immer den c o i t us
cum f e m i n a geübt. Doch habe ich mich seit meiner Kind-
heit innerlich immer weiblich gefühlt. Schon mdt 14
Jahren reizte es mich merkwürdig, als ich einen Knaben in
Mädchenkleidern sah, und seitdem interessierte ich mich stets
für Männer, die wie Frauen aussahen oder gekleidet waren.
Von Homosexualität hatte ich bis zu meinem 20.
Jahre nie etwas gehört, und auch dann begriff
ich davon nichts. Mein erster coitus cum femina fand
im 20. Jahre statt, und der Gedanke an einen Beischlaf mit
Männern hat mir (mit einer einzigen Ausnahme) immer
Ekel verursacht.
Mehr und mehr ü h e r k a m mich der Drang,
mich als Dame zu verkleiden, bis er un-
widerstehlich wurde. Insgeheim zog ich
so oft wie möglich Frauenröcke oder son-
stige Stücke der Damentoilette an, und nur
mein Schnurrbart hinderte mich daran, ganz im Kostüm auf
die Strasse zu gehn.
Es kommt mir vor, als sei mein Körper im Laufe der
Zeit etwas weiblicher geworden. Ich habe jetzt eine schmale
Taille, starke Hüften, mammae wie ein 15 jähriges Mädchen,
weisse glatte Haut und kleine Füsse.*) Meine Hände sind
von mittlerer Grösse und mein Gesicht ist durchaus männlich.
Und doch, wenn ich Perücke und Kostüm anhabe, den
Schnurrbart verdecke und gepudert und geschminkt bin,
komme ich mir ganz wie ein Mädchen vor. Kokotten sagten
mir öfters: Vous avez un beau corps de femme! Meine Kor-
settweite ist allerdings 68 cm, aber doch einigermassen im
Verhältnis zu meiner ganzen Länge; in seidener Chemise.
Calegon und rosa Unterrock sehe ich ganz wie ein kräftiges
wohlproportioniertes Mädchen aus. Und bin ich derart ange-
zogen, dann fühle ich mich so wohl, so „ä mon aise“, dass
ich mich höchst ungern wieder umziehe. Im Korsett atme ich
immer mit der Brust wie eine Frau.**)
*) Da der in England weilende anonyme Einsender nicht zu erreichen
war, Hessen sich diese Angaben nicht nachkontrollieren und müssen dahinge-
stellt bleiben.
•*) Diese Bemerkung ist interessant genug, um einen Exkurs zu ent-
schuldigen. Der Unterschied zwischen Costal-Atmung der Frau und Abdo-
nünal-Atmung des Mannes ist in unseren Breiten evident, von den Physi-
ologen einmütig konstatiert, und folglich als sekundärer Ge-
schlechtscharakter zu bezeichnen. Um so mehr, als beim Kinde
der Unterschied noch nicht deutlich ist. Dass andrerseits bei heftiger, gewalt-
samer Inspiration der Unterschied sich verwischt, ist erklärlich aus der
Anspannung aller accesso rischer Muskelzüge, die irdengwie eine Volumens-
vorgrösserung des Thora.x herbeizuführen imstande sind. Die geläufigste
Kausaltheorie hierüber besagt, dass ein Zusammenhang bestehe zwischen der
möglichen Gravidität und dem geringeren Herabsteigen des Zwerchfells beim
weiblichen Atomtypus. Soweit schien alles in Ordnung. Neuerdings aber ist
behauptet worden, die Brustatmung des Weibes sei ein Kunstprodukt des
Korsetts, was in den Kreisen der Reform-Hygieniker nicht ungern gehört
72
In der Regel verkleide ich mich nur, wenn meine Freun-
din bei mir weilt; manchmal ist der Trieb aber so stark, dass
ich im Kostüm masturbiere. Die Sehnsucht, mich ganz als
Frau zu fühlen, verleitet mich auch dazu, den Coitus „auf
mich selbst“ zu machen, mit Wachskerzen, Zigarren u. dgl.
(Gemeint ist offenbar eine Bewegung inter femora mit diesen
Gegenständen, als scheinbare äussere Erfüllung des begleiten-
den Phantasiebildes). Ich muss hier auf das zurückkommen,
was ich oben die „einzige Ausnahme“ nannte. Ich sehne mich
mit ganzem Herzen danach, einmal eine Kokotte zu sein und
die Nacht mit einem „strammen Kerl“ zubringen zu dürfen.
Nicht nur die paedicatio, sondern auch die irrumatio müsste
er an mir vornehmen.*)
Der Hauptinhalt meiner Sehnsucht also
ist, vollständig Frau zu sein. Ein ausser-
ordentlicher Reiz wäre es für mich, dürfte
ich mich ganz rasieren, schminken, als
Frau kleiden; allerdings, recht elegant,
„d e r n i e r er i“. doch nicht zu ..c r i a r d“, U n -
wurde. Entscheidend wäre die Beobachtung an korsettlosen oder besser noch
unbekleideten Rassen. Da die Literatur darüber nur wenige und wider-
sprechende Angiben enthalt, wurde die Frage dem Vorstande der Berliner
authropol. Gesellschaft unterbreitet, und es stellte sich heraus, dass in der Tat
kaum ein Forscher auf den Atemtypus der Primitiven geachtet hätte. Das
Beispiel N. 0. Bodys (aus eines Mannes Mädchenjahren, Berlin 1907) scheint
mir indessen beweisend genug, um vorläufig an dei- alten Auffassung vom
sekundären Grschlechtscharakter des Atemtypus festzuhalten. N. 0. Body,
mil Hypospadia peniscrotalis geboren, lebte bis in die zwanziger Jahre als
Weib und schnürte sich sehr stark, um Taille zu erzeugen. Ich untersuchte
ihn kurz vor seinem Personcnstandwcchsel \md fand den ausgebildetsten abdomi-
nalen Atemtypus. Er gab an, er hätte oft gefürchtet, dass hinter ihm
sitzende Personen aus dem mangelnden Heben und Senken seiner Schultern
seine männliche Natur aufdecken würden. Die angebliche Korsettwirkung hat
also in diesem eklatanten Fall völlig versagt. Deshalb, glaube ich auch, kann
man die obige Angabe des Anonymu.s ruhig ins Reich der autosuggestiven
Wirkung erweisen, ebenso wie verschiedene andere Bemerkungen über seine
Körperlichkeit.
*) Aus dem früher geäusserten Ekel gegen den Verkehr mit Männern
geht wohl hervor, dass es sich hierbei nur um eine ausmalende Phantasie
auf dem Grunde des originären heterosexuellen Kostümtriebes handelt.
73
ter wasche fein und seidig, schmale Schuhe,
viel Stickerei, kunstvolle Hüte, kurz wie
eine brillant unterhaltene Kokotte.
Von sonstiger Homosexualität aber ist
keine Spur vorhanden. Urninge und effe-
minierte Männer verachte ich tief. Die Idee
einer Paedicatio, ohne im Kostüm zu stecken, erscheint mir
scheusslich; werde ich aber zur passiven Frau in Kleidung.
Haltung und Sinnesart, so finde ich den Geda-nken natür-
licher, ja sogar reizvoll. Meine „grande passion“ habe ich nie
verwirklichen können; will ich aber die „ejaculatio suprema“
geniessen, so stelle ich sie mir recht eindringlich im Geiste vor.
Ich bin guter sportsman, Schütze, reite gut und habe mich
in Feldzügen bewährt. Dennoch- fühle ich mich in Damenge-
sellschaft freier und wie von einem unsichtbaren Bande ge-
zogen. Sehe ich eine Mutter ihr Kind säugen, so seufze ich;
„Hätf ich doch auch solche Brüste und
könnte Milch abgeben!“ Kinder allein interessieren
mich wenig.
Fall X.
Herr K., 50 Jahre alt, Lehrer. Von den Vorfahren oder der
Verwandtschaft her ist nichts Degeneratives zu ermitteln. Die
Kindheitsentwicklung verlief ohne Besonderheiten. War etwas
schreckhaft. Zog Mädchenspiele vor (Kochen, Häkeln, Stricken).
Schwärmerische Freundschaft zu zwei Mitschülern bestand,
ohne geschlechtliche Handlungen. Geschlechtsreife trat im
Alter von 18 — 20 Jahren ein.
Status praesens: Figur gross und kräftig. Kon-
turen mehr rund und fett. Muskulatur schwach entwickelt.
Für Sport besteht keinerlei Interesse. Haut weise, glatt und
i-ein. Haupthaar kräftig, Körperbehaarung schwach, Bart-
wuchs mittelstark. Errötet und erblasst leicht. Kehlkopf
wenig hervortretend. Ist Stimmungen leicht zugänglich, gibt
Klatschhaftigkeit zu. Möchte Putzmacherin sein.
74
Vita sexualis; Herr N. veröffentlichte bereits im
Jahrouch für sexuelle Zwischentiifen, Bd. 2, 1900, p. 324
bis 344, unter der Ueberschrift „Ein Fall von Effemination mit
Fetischismus“ eine ausführliche Darstellung seines Falles. Er
bezeichnet sich dort irrtümlicherweise als Urning, während
er selbst ausdrücklich angibt, sein Geschlechts-
trieb sei stets auf das Weib gerichtet ge-
wesen. Allerdings behauptet er, Frauen gegenüber gleich-
gütig zu sein, sich vor nackten Weibern zu ekeln und vor
dem Koitus Widerwillen zu haben. Auch habe er einmal ge-
träumt, er sei ein Weib und werde von einem Manne ge-
schwängert; worüber er aufwachte und die ganze Nacht in
grosser Erregung verblieb. Aber alle diese Umstände er-
klären sich zwanglos aus seinem Kostümtrieb.
Den oben erwähnten, sonst sehr präzisen Mitteilungen
fügen wir hier noch folgende neuere Angaben hinzu;
.,Meiner Neigung zu Frauenkleidern entsinne ich mich
schon aus den ersten Schuljahren. Von äusseren Einflüssen,
etwa Maskeraden oder dergl.. ist mir nichts bewusst. Schon
die blossen Namen einzelner Kleidungs-
stücke, wie Damenkleid, Schürze, Schleier,
Unterrock, hatten für mich et wasZa uber-
haft es. Sobald es mir irgend möglich war,
zog ich mir schon als Knabe fremdeDamen-
sachen auf Augenblicke an. Später schaffte
ich mir alles Begehrenswerte selber an.
Es wurden Schränke gekauft, die sich bald
mit den schönstenToiletten füllten. Wohl
20 — 25 Jahrgänge gekaufter Modejournale
wurden Seite für Seite betrachtet, die
schönsten „Kostüme“ herausgeschnitten
und der Schneiderin eingeschickt, damit
diese danach verfahre. Alle möglichen
Stoffe, Samt, Seide, Wolle, fanden Ver-
wendung. Muster zur Auswahl lieferten
die ersten Spezialgeschäfte.“
„Folgendermassen verfuhr ich, wenn ich die Anfertigung
von Kleidern in Auftrag gab. Der Schneiderin wurde eine
75
fertige Taille mitsamt dem neuen Stoff eingesandt und dabei
mitgeteilt, man wolle ein Kostüm zum Geburtstage ver-
schenken; Massnehmen sei daher nicht gut möglich. So
machte sich die Sache. Fand sich nahher ein Mangel in der
Passform, so ging das Kleidungsstück behufs Abänderung zu-
rück, und der Fehler war bald beseitigt. Garnituren, wie
Seidenspitzen, Einsätze und sonstige Kleiderbesätze (Galons,
Posamentborten, Tressen mit Chiffon-Applikation, gestickte
Chiffonbesätze, seidene Fransen, Grelots, Plisse usw.) wurden
persönlich eingekauft und dem zu verarbeitenden Stoffe bei-
gelegt. Mitunter garnierte ich die Kleider selber damit, nähte
auch Zierknöpfe aus Glas oder Gold an. Die Beschaffung
von Unterröcken und dergl. ist natürlich einfacher. Zu Gürteln
kaufe ich Bänder und Schnallen und fertige sie dann selbst
an. Schleier habe ich in grosser Zahl, getupfte und schlichte,
in allen möglichen Farben und den Kostümen entsprechend; eben-
so Hüte, Baretts, Capuzen, Schulterkragen, Jacketts, Woll-
tücher; ferner Schürzen aus Wolle, Seide usw. als Reform-,
Tändel- oder Wirtschaftsschürzen. Die Unterröcke haben
meist die Farbe der Kleider. Armbänder, prachtvolle Hals-
ketten, goldene Broschen und Ohrringe sind zahlreich vor-
handen, auch Perücken. Kleiderstoffmuster, Garnituren,
seidene und Samtbänder in aller Breiten und Farben füllen
ganze Schachteln aus.“
„Sobald ich in einem Schaufenster hübsche Schürzen,
Halsketten, Hüte oder auch nur zierliche Sicherheitsnadeln
sehe, sofort muss ichs kaufen. Ueberhaupt betrachte ich die
Auslagen von Damenkonfektionsgeschäften stets mit dem
grössten Entzücken. Vor Photographenkästen interessieren
mich nur Figuren in reizendem Kostüm. Ansichtskarten mit
kostümierten Damenbildnissen habe ich in Menge. Besondere
Vorliebe besteht bei mir für rote Kleider, jede Art seidenen
und weissen Musselins und für Spitzenunterröcke. Der Ge-
nuss, welchen ich durch die Kleidungsmetamorphose hatte und
noch habe, lässt sich nicht aussprechen.“
„Ich dränge mich gern an schön gekleidete Damen her-
an und wünsche erregt, in ihrer Kleidung zu stecken. Ich
vergleiche ihre Figur mit meiner, ob mir das Kleid wohl
(6
passen würde. Ich sitze auch gern so zwischen
Damen, dass ihre Kleider meine Beine zum
Teil verdecken. Ich betaste gern zarte Stoffe. Habe
ich innerhalb des Hauses Gelegenheit, in einem unbewachten
Augenblick den schönen Hut einer fremden Dame aufzupassen,
so tue ichs sicherlich vor dem Spiegel. Von hübschen Mäd-
chen bin ich ein Freund, besonders wenn sie Kleider
nach meinem Geschmack tragen, ln schlaflosen Nächten, die
zahlreich Vorkommen, beschäftigt meine Phantasie sich ge-
wöhnlich mit hübschen Damentoiletten. Beim Zeitungs-
lesen sehe ich zuerst nach vermischten No-
tizen, ob nicht mitgeteilt wird, dass ein
Mann wieder als Frau gekleidet ging.
Männer in Damenkleidern haben einen un-
gemeinen Reiz für mich."
„Geselligen Vereinigungen bin ich Feind. Ich liebe die
grösste Einsamkeit und verzichte gern auf Festlichkeiten und
Vergnügungen. Mein Genuss ist, für mich in der
Stille angetan mit Korsett, feinen Unter-
röcken, entzückenden Kleidern, Hut,
Schleier, Armbändern und Halsketten vor
dem Spiegel zu stehn, mich zu betrachten,
oder Modejournale zu durchblättern. -Ueber-
glücklich wäre ich, könnte ich einmal des Jahrs mit gleich-
gesinnten oder verständnisvollen Personen in einem einsam
gelegenen Hause für einige Zeit zusammen sein; oder wenn
ich bei hellem Tage, wenn auch nur auf kürzern Wegen, als
Dame gekleidet mit wirklichen Damen promenieren
dürfte. Früher erlaubte ich mir diese Passion manchmal des
Abends auf einsamen Spaziergängen; doch habe ich das auf-
gegeben, weil mir die Sache zu gefährlich war.“
Homosexuell bin ich nicht, im Gegenteil, ich kann
sagen, ich bin ein echter Don Juan gewesen. Ein besonderes
Vergnügen war es mir, hübsche Mädchen zu küssen, ihre weichen
Kleider zu betrachten und zu befühlen; fragte auch gewöhn-
lich nach dem Preise, nach der Schneiderin und wie lange man
wohl ein solches Kleid tragen könnte usw. Modebilder hatten
für mich grossen Reiz. Gelegenheiten, ihrer habhaft zu
werden, liess ich nie unbenutzt vorübergehen. Ich kaufte
mir ganze Jahrgänge Modezeitungen. Im „praktiechen
Wegweiser“ erliess ich einst ein Inserat, laut welches ich ver-
schiedene Jahrgänge Modenjournale suchte; von den zahlreich
eingegangenen Offerten machte ich ausgiebigen Gebrauch. Von
einem Buchhändler in Heidelberg kaufte ich vor Jahren ver-
schiedene Jahrgänge „Pariser Moden“. Auch bin ich Abonnent
von der „Wiener Mode“, der „Moden weit“ sowie der
“Grossen Modenwelt“ gewesen. Schaufenster der Damenkon-
fektions-Geschäfte ziehen mich ungeheuer an, mögen es solche
mit Kleidern, Blusen, Jacken, Schürzen oder Hüten sein, der
Reiz ist immer gross.
Früher glaubte ich, meine eigentümliche Veranlagung
würde mit zunehmendem Alter verblassen oder ganz auf-
hören, aber das Gegenteilige ist der Fall; die Neigung ist
augenblicklich grösser denn je, sie ist angeboren und wird
darum auch wohl nicht nachlassen. So habe ich mir z. B.
in voriger Woche den Modekatalog von AVertheim und noch
einer anderen Firma kommen lassen, ferner das Modealbum
der Schnittmanufaktur in Dresden und „Butterichs Moden-
revue“. Meine Eltern waren ganz normal, dasselbe kann ich
auch von meiner kürzlich verstorbenen Schwester sagen. Ich
habe nur noch einen Bruder, der ebenfalls normal ist. AA’ir
Kinder lebten unter uns und mit den Eltern stets in bestem
Einvernehmen. Für meine vor einigen Jahren verstorbenen
Eltern (sie wurden 81 und 83 Jahre alt) habe ich stets die
grösste Achtung und kindliche Verehrung gehabt.
Ich füge ein Verzeichnis meines Toilettenbestandes bei;
Nr. 1. Kleid aus carminrotem Caschmir mit Samtbesatz
und glitzernden Metallknöpfen.
Nr. 2. Rotes Kleid (etwas andere Nuance als Carmin) mit
Pelzbesatz.
Nr. 3. Ein Kleid aus bordeauxähnlichem Rot mit schwarzem
Samteinsatz und prachtvoller Bordengarnierung.
Nr. 4. Kleid aus scharlachrotem AA''ollstoff, Kragen und
Brusteinsatz aus fleischfarbenem Taffet.
Nr. 5. Schwarzes AVollkleid mit Perlenbesatz.
Xr. 6. Ein kaffeebraunes Kleid von ziemlich einfacher
Machart.
Nr. 7. Ein blaues Kleid mit. schwarzer Borde garniert, die
Taille mit gelbem Brusteinsatz, dazu Gürtel mit
gelber Schleife.
N'r. 8. Dunkelgrünes Kleid mit hellgrünem Samteinsatz.
Nr. 9. Hellgraues Wollkleid mit hellrotem Einsatz und
Kragen.
Nr. 10. Rotseidene Bluse mit schwarzseidenem Rock.
Als Hauskleider;
1. Ein braunmeliertes Prinzesskleid.
2. Ein grün und rot karriertes Kleid mit Samtkragen,
Aermel mit roten Samtaufschlägen.
3. Ein helles Wollkleid mit Samtkragen.
Jacken:
1. Schwarze Krimmerjacke mit Besatz.
2. Braune Tuchjacke sowie einen Schulterkragen aus
schw'arzem Crepp.
Unterröcke;
Ein blau- und weissgestreifter Unterrock mit Volants.
Ein schwarz- und rotgestreifter Unterrock mit Spitze.
Ein braunmelierter Unterrock mit Volants.
Ein Ueberziehrock aus rotem Kaschmir mit Volants.
Schürzen;
Eine chamoisfarbene Trägerschürze mit rotem Besatz.
Eine blaukarrierte Wirtschaftsschürze mit Latz.
2 schwarze, wmllene Tändelschürzen.
Eine blaubunte Schürze mit weisser Spitze garniert.
Eine schw'arze Alpaccaschürze.
Eine weisse Battistschürze mit Stickerei (die schönste).
Sodann besitze ich noch:
Eine weisse Battistunterhose mit Stickerei.
2 Korsetts, Strümpfe, eine braune Haube.
Ein blaues, gehäkeltes Schultertuch.
Ein schw'arz- und weisskarriertes Tuch.
Ein gewöhnliches Wolltuch.
Einen Filzhut mit resedafarbenem Band garniert und mit
2 Flügeln (von Vögeln) versehen.
79
Einen olivfarbenen Hut mit Phantasiefedern.
Ein Samtbarett mit weissen Phantasieiedern.
4 Broschen, teils echt, teils unecht.
2 Paar Ohrringe.
2 Armbänder.
Schleier;
2 schwarze mit Tupfen, 2 weisse mit Tupfen, 2 einfache
weisse.
Eine Kollektion Rüschen, eine Kollektion Spitzen in weiss
und schwarz, teils baumwollene, teils seidene.
2 Gürtel aus rotem Samt, einen schwarzen, einen Silber-
und Goldgürtel mit feinem Schloss.
2 Perücken, 2 Haarpfeile, 2 Haarschmucknadeln mit dicken
Köpfen sowie einen Haarkamm mit 5 blanken Knöpfen.
Ungefähr ein Dutzend Halsschmuckketten in schwarz, weiss,
grün, blau, opalfarbig usw.
Eine grössere Sammlung von Besatzstoffen in allen Farben
und Stoffen.
Eine Sammlung von Seidenbändern in allen Farben und
Breiten.
Eine grosse Sammlung von Damenkleidermustern in Wolle,
Baumwolle und Seide in vielen Webarten und Farben.
Hiermit wäre mein Bestand zu Ende.
Fall Xf.
Herr S., 40 Jahre alt, Techniker, verheiratet. Vater
war Potator; im übrigen ist zur Frage der Degeneration
nichts zu ermitteln. Die Kindheit verlief normal, nur Gehen
erlernte er erst Ende des zweiten Jahres Liebte immer
Knabenspiele. Im 17. Jahre trat die Geschlechtsr^fe ein.
Status praesens; Figur klein, Konturen eckig
und mager. Muskulatur schwach. Wird beim Turnen leicht
schwindlig. Haut unrein und rauh. Haupthaar ausgegangen;
Körperbehaarung stark; Bartwuchs sehr stark. Errötet
leicht. Kehlkopf wenig hervortretend. Stimme laut und tief.
Leidet seit längerer Zeit an seelischen Depressionen, da bei
so -
seiner Frau alle Anzeichen der Paranoia aufgetreten sind.
Ist Autodidakt, geistig sehr regsam.
Vita sexualis: lieber diesen Fall, der sich im
Jahre 1904 an mich wandte, hatte Iwan Bloch (Sexual-
leben unserer Zeit, 4. Aufl. p. 598 — 601) die Güte, bereits
eine ausführliche kasuistische Notiz zu veröffentlichen. Hier
mögen die vollständigeren Aufzeichnungen des Herrn L. vom
Ende des Jahres 1907 folgen.
„In meinem 15. Lebensjahr wurde ein
Verlangen in mir wach, das wie Hunger und
Durst nach Befriedigung heischte, und
dem ich anfangs rein instinktiv folgte.
Zuerst zogen mich alle in den Schaufen-
stern ausgestellten weiblichen Beklei-
dungsstücke mit unwiderstehlicher und
rätselhafter Gewalt an. Ich konnte es nie unter-
lassen, vor solchen Schaufenstern stehn zu bleiben und be-
sonders schöne Spitzenunterröcke und dergleichen längere Zeit
zu betrachten. In Schuhgeschäften hatte ich nur Augen für
Damenschuhwerk. Alle Auslagen, die irgend etwas mit der
Damenwelt zu tun hatten, wurden von mir zunächst darauf-
hin gemustert, ob ein Gegenstand nach meinem Geschmack
dabei wäre. Hatte ich einen solchen entdeckt, der mir gefiel,
so war sofort auch das Verlangen da, ihn nicht nur kaufen,
sondern auch tragen zu können. Eine fast unüber-
windliche Sehnsucht fasste mich, nach
weiblicher Art gekleidet zu gehn; ich
hätte zu gern Damenwäsche angelegt, mich
geschnürt usw.“
„Mein eigentümlicher Hang brachte es mit sich, dass ick
dem weiblichen Geschlecht gegenüber scheu und verlegen
wurde. Ich mied vom 16. Jahre an, so gut es ging, den Um-
gang mit weiblichen Wesen. Ich lernte deshalb auch nicht
tanzen, fühlte mich aber doch beständig zum
Weibe hingezogen und wäre am liebsten schon da-
mals in einer Gesellschaft von gleichaltrigen Mädchen ver-
kehrt.“
81
„Eines Tages wurde mein Drang so stark, dass ich ihm
nicht mehr widerstehn konnte. Ich war damals ungefähr
16)4 Jahr alt. Als niemand zu Haus war, nahm ich ein
Korsett meinerSchwester aus dem Kleider-
schrank und begann mich zu schnüren. Andre
Kleidungsstücke standen mir nicht zur Verfügung. Hier-
bei trat nun die erste Erektion ein. Ich
hatte keine Ahnung, was das bedeutete, und zog halb er-
schrocken das Korsett wieder aus. Ich war über den ganzen
Vorgang innerlich unzufrieden, denn ich hätte das Korsett
viel lieber anbehalten. Nach einigen Tagen wiederholte ich,
einem unklaren Drange folgend, das Schnüren. Hierbei trat
ohne mein Dazutun wiederum Erektion ein, imd ehe ich das
Korsett noch entfernen konnte, auch Ejakulation. Zugleich
empfand ich heftige Sehnsucht nach einem
mir damals bekannten Mädche n.“
„Ich unter liess es nun für lange Zeit, irgend ein weib-
liches Kleidungsstück anzuziehn. Ich begann vielmehr einen
Kampf gegen meinen Drang. Ich lernte zu dem Zweck Zither
spielen, was mir wegen Mangels an musikalischem Gehör sehr
schwer fiel. Auch in einen evangelischen Jünglingsverein trat
ich ein, dem ich wohl an zwei Jahre angehörte. Doch half
dies alles nichts. Je älter ich wurde, um so
mächtiger wurde auch mein Verlangen,
mir Damenkostüme und Wäsche anzu-
schaffen. Ich hatte mir vorgenommen, sobald ich aus-
gelernt, mir ein komplettes Kostüm anzuschaffen, und ich
zerbrach mir schon den Kopf darüber, wie ich das am besten
anstellen sollte, da. brachte mich ein bestimmtes Ereignis von
diesem Vorsatz zunächst wieder ab.“
„In X. war zufällig eine Künstlertruppe anwesend, und
ich bekam ein Billet für den Abend. Ich war bereits
19)4 Jahr alt, und hatte noch nie eine Vorstellung besucht,
wusste auch nichts von Damendarstellern. Durch das Ge-
spräch zweier Herrn, die vor mir sassen, wurde ich erst
darauf aufmerksam, dass die Vortragende Dame männlichen
Geschlechts sei. Einer der Herren liess dabei eine Bemerkimg
fallen über die Neigungen, die derartige Individuen ihrem
Hirsch leid, Die Transvestiten. 6
82
eigenen Geschlecht gegenüber haben sollten. Dem andern
schien das nicht recht glaubhaft, aber der erste versicherte,
er Mvdsse es ganz genau, jedes männliche Individuum, das sich
weiblich kleide, gehöre zu jener Rasse von Menschen. Ich
ging an diesem Abend sehr niedergeschlagen nach Haus und
verbrachte eine schlaflose Nacht. Noch lange klangen mir
diese Worte im Ohr. Wie kam hier jemand dazu, über seine
Mitmenschen ohne weiteres den Stab zu brechen und etwas
zu behaupten, was unmöglich wahr sein konnte! Denn
ich fühlte trotz meiner Sehnsucht nach
Weiberkleidern nicht die Spur von einer
Neigung zum Manne in mi r."
„Es dauerte indes nich^ allzulange, so fing ich wieder
an, unruhig zu werden, trotz dem Gehörten. Mein Interesse
wandte sich Modezeitungen zu; ich beschäftigte mich damit,
erst im Geist, dann auf dem Papier Kostüme zu entwerfen,
wie ich sie gern getragen hätte. Ich traf Ausw'ahl in Farbe,
Stoff, Besatz und Futter usw^ Doch verspürte ich nie die
geringste Neigung, derartige Kleider selbst anzufertigen oder
sonst weibliche Arbeiten auszuführen.“
„Vom 20. Jahr an bis in die Mitte der Dreissiger konnten
mich Kostüme, Unterröcke, Stiefel, Korsetts und Leibwäsche,
die ich in den Schaufenstern ausgelegt sah, durch ihre Mach-
art und Farbe förmlich entzücken. Ich merkte mir bestimmte
Lieblingsgegenstände und sah immer wieder nach, ob sie noch
auslagen.“
„Nicht immer war der Kostümreiz in gleicher Stärke
vorhanden. Erst trat er periodisch auf. und nach dem 20.
Jahre konstant. So kam es, dass ich später den Widerstand
aufgab und darüber nachsann, unter welchen Umständen ich
meine Wünsche wohl am ehesten befriedigen könnte. Endlich,
ich war 24 Jahre alt, fand ich eine Gelegenheit. Zur Wieder-
herstellung meiner angegriffenen Gesundheit bekam ich einen
Urlaub und durfte zu m.einen Eltern reisen. Hier entdeckte
ich nach ca. 8 Tagen in meinem Zimmer einen Koffer, der
ein vollständiges Kostüm nebst Unterkleidern, Schuhen und
Ballkorsett enthielt; alles Sachen, die meine Schwester zu
einem Fest getragen hatte. Ich konnte den Abend nicht er-
83
warten, an dem sich die Eltern zur Ruhe begeben würden,
sondern fing gleich an, vor dem Spiegel Stück für Stück an-
zuprobieren, und konstatierte mit Freuden, dass mir alles
ziemlich gut passte. Ein nie gekanntes Gefühl
des Wohlbehagens durchrieselte mich da-
bei. Am liebsten wäre ich gleich auf die
Strasse geeilt, um mich in dieser Tracht
zu zeigen. Auch befiel mich die Sehnsucht
nach einemWeibe, wie ich es mir wünschte,
von schlanken, aber gut entwickelten
Formen und vollen Haaren. Hätte ich auf die
Strasse eilen dürfen, so wäre es mein erstes gewesen, mich
einem solchen Weibe zu nähern. So lange ich bei meinen Eltern
weilte, unterliess ich es keinen Abend, sobald
ich mich sicher wusste, eine Stunde im Kostüm zu bleiben.
Das Wunderbarste war, dass ich mich jetzt
rasch und in kürzester Frist erholte,
während ich vorher 6 Wochen lang vergeb-
lich ein Sanatorium besucht hatte. In
diesen 14 Tagen, die ich damals meinem
Verkleidungstrieb nachgab, wuchs meine
Sehnsucht nach dem Weibe ausserordent-
lich. Ich wünschte, ein Weib möchte an
mir im Kostüm Gefallen finden; dannhätte
ich ganz glücklich sein können.“
„Abermals begann ich den Kampf gegen den Kostümreiz;
doch vergeblich. Vorübergehende Damen musterte ich inten-
siv auf ihre Kostüme, Hüte, Stiefel und Frisuren hin; war
eine recht chic, so empfand ich eine lebhafte Freude. Manch-
mal erregte schon das Rauschen eines Rockes hinter mir den
Wunsch, auch so gekleidet zu sein. Wenn ich geistig auch
noch so stark von irgend einem Thema absorbiert war, es
genügte der Anblick eines vorbeischwebenden Tailor-raade-
Kostüms, um mich sofort abzulenken. Dagegen waren
nachlässige Kleider, Reform - und Sack
kostüme, sowie traurige weibliche Ge-
stalten überhaupt auf mich vollständig
w i r k u n g s 1 o-s.“
fi»
84
^Natürlich tauchte allmählich auch der Wunsch leben-
diger in mir auf, auch körperlich wenigstens soweit Weib
sein zu können, dass ich mich im Kostüm auf der Strasse
hätte richtig und unauffällig bewegen können. Hieran
hinderte mich vor allem mein starker Vollbart, den ich schon
mit 18 Jahren hatte.“
„Ich sann beständig darauf, wie ich zu weiblicher Klei-
dung kommen könnte. Wäre ich zu einer Schneiderin ge-
gangen. so hätte ich ausser manchem andern befürchten
müssen, dass die Anproben mich erotisch erregten und dass
ich, sobald einmal ein Weib erst meinen Hang kannte, da-
durch in ihre bedingungslose Gewalt geraten würde.“
„Ursprünglich war mein männliches Wiesen mit meiner
femininen Veranlagung durchaus nicht einverstanden, und es
kostete einen harten Kampf, bis ich mich zu dem Selbstbe-
kenntnis entschloss, dass ich ein Mischling beider Geschlechter
sei. Ich fügte mich also ins Unabänderliche.“
„Ich möchte noch ausdrücklich be-
merken, dass meine Sinnlichkeit in erster
Linie auf die Befriedigung meinerKostüm-
sehnsucht gerichtet ist, und dass dem
gegenüber alle andern Wünsche zurück-
treten. Wenn ich aber irgend welche weiblichen Klei-
dungsstücke an mir hatte, so trat sofort sexuelle Erregimg
ein und gleichzeitig das Verlangen nach einem bestimmten
Typus Weib. Niemals in meinem Leben fühlte
ich mich zu einem Manne hingezogen,
auch im Kostüme nicht. Auch minderjährige
weibliche Wesen üben keinen Reiz auf mich aus.
Den Koitus führe ich in normaler Weise aus, lege jedoch
stets vor dem Akt Damenleibwäsche an. Soll der Akt für
mich befriedigend verlaufen, so muss ich die nötige Ruhe
dazu haben. Auch an zarteren manuellen Liebkosungen,
Küssen usw. finde ich dabei viel Gefallen.“
„W'enn ich manchmal sah, wie zwei intime Freundinnen
Arm in Arm miteinander gingen oder sich um die Taille
fassten, hätte ich sofort immer eine der beiden sein mögen.
Später, als ich mehr von den Abarten der Liebe erfahren
85
hatte, erfüllte mich stets Neid, wenn ich mit ansehn musste,
wie zwei Freundinnen zärtlich taten. Dies erregte
mich auch erotisch.“
„Mit 21 Jahren schaffte ich mir eine Braut an; dieser
gegenüber hatte ich nur das Verlangen, ich möchte an ihrer
Seite weiblich gekleidet gehen dürfen. Oft wünschte ich,
ich möchte wie eine Zwillingsschwester
von ihr gekleidet gehn, d. h. absolut gleich
an Farbe, Schnitt usw. Mehr als hundert Mal hatte
ich mir vorgenommen, meiner Braut ein Geständnis über
meinen Zustand abzulegen; doch hielt mich immer folgen-
des davon ab: Ich fürchtete erstens, meine Braut könnte
schon Schlechtes über eine solche Veranlagung gehört haben;
dann hätte ich bei ihr natürlich ausgespielt gehabt. Hätte
sie mir aber nachgegeben und mir die Kostümierung erlaubt,
so wäre ich erotisch erregt geworden und hätte der fleischlichen
Versuchung nicht widerstehen können. So verschob ich die
Lösung des Dilemmas immer von neuem. Liebkoste ich zu-
weilen meine Braut und war in Gedanken bei der Kostüm-
frage, so trat Ejakulation ein. Endlich, ein Jahr vor der
Hochzeit, machte ich meiner Braut Eröffnungen über meinen
Zustand.“
In einem uns zur Verfügung gestellten Gedichte sucht
L. in etwas naiven aber charakteristischen Strophen seiner
Braut seinen Zustand klarzulegen; er sagt, dass sie ihr Ab-
bild doppelt in ihm finden werde, schildert ausführlich die
einzelnen Kleidungsstücke, die e r tragen möchte, weil sie
i h n zu höherem Glücke tragen würden und schliesst mit
folgenden Worten:
„Nun frage ich Dich, Du holde Maid,
Mit der ich will tragen dasselbe Kleid,
Dich, der ich mich jetzt anvertraute.
Die meine Doppelseele schaute,
Liebst Du mich dennoch wie ich bin.
Dann nimm mich für Dein Leben hin!“
Die Frau zeigte jedoch sehr wenig Verständnis und Ent-
gegenkommen. „Später erst brachte ich sie so weit, dass
sie mir ein Kostüm anfertigte; ich schaffte mir dann die da-
86
zu gehörigen Unterkleider nach meinen AVüniächen an. Jetzt
konnte ich das Vei’laiigen, abends weib-
lich gekleidet zu gehn, nicht mehr unter-
drücken; es war um so heftiger, wenn bei Tage irgend
ein Vorkommnis dazu Anlass gegeben hatte. Ich vertröstete
mich dann immer auf den Abend, wo ich Befriedigung er-
hoffte. Wurde aber nichts damit, so geriet ich in Miss-
stimmung, ich war ärgerlich, mir war unbehaglich zu Mute,
und ich konnte mich oft beim besten Willen nicht in eine
be.5sere Stimmung versetzen. Sogar das Essen wollte mir
nicht schmecken. Konnte ich mich aber einige Tage hinter-
einander weiblich kleiden, so wuchs meine Lebensfreudigkeit
und Arbeitslu.'t ungemein.“
„Meine Frau betrachtete die Angelegenheit zuerst als
eine merkwürdige Leidenschaft, später begann sie mit Vor-
würfen. ich sei „pervers“. Nachbarinnen mochten sie aufge-
hetzt haben. Schliesslich nahm das überhand, und sie machte
mir Jahre hindurch das Leben zur Hölle. Es bildete sich bei
ihr der Verfolgungswahnsinn heraus, ich sei ein Sittliclikeits-
verbrecher und vergreife mich an meinen eigenen Kindern.
Was ich in dieser Ehe alles zu leiden hatte, lässt sich über-
haupt nicht wiedererzählen.“
Es sei bemerkt, dass die Frau sich seit ca. 3 Jahren
wegen Paranoia in einer Irrenanstalt befindet.
Fall XII.
Herr M., Jurist, Mitte der Zwanziger. Aus der Vor-
fahrenreihe und Verwandtschaft ist nichts Belastendes zu er-
mitteln. Die Mutter soll nervös sein. Mit 4 Jahren machte
er eine leichte Gehirnerschütterung durch. Von der Muttei
her vererbte sich Schielen auf dem linken Auge, das durch
Operation gehoben wurde. Er litt öfter an Kopfschmerzen,
war etwas schreckhaft, neigte zum AVeinen. Spielte stets
lieber mit Mädchen als mit Knaben.
Status praesens: Figur gross, aber schlank und
zart. Seine Hüften häit er für übermässig breit, doch sind sie
87
es nur in geringem Grade. Konturen mager. Arme und Schenkel
abgeflacht. Hand klein und zart. Muskulatur schwach ent-
wickelt. Neigung zu ruhigen, wiegenden Bewegungen be-
steht; für Sport aber wenig Interesse. Haut rein und glatt.
Haupthaar normal, Körperbehaarung unbedeutend, Bartwuchs
stark. Errötet leicht; Adamsapfel wenig hervortretend.
Stimme tief, männlich; nach seiner Ansicht freilich leise und
hoch. Ist Stimmungsmensch, intelligent, aber verbummelt.
Das Gefühl, Luetiker zu sein, deprimiert ihn und macht ihn zu-
gleich leichtsinnig. Dazu hat er einen Beruf vor sich, der
ihm nicht zusagt. Phantasie sehr produlctiv. In der Ge-
schichte sind Gestalten wie die Dubarry, die Pompadour oder
Ninon de Lenclos sein Ideal. Zu leichten weib-
lichen Handarbeiten, wie Nähen und Putz-
machen, besteht Zuneigung.
Vitasexualis: Es wird am besten sein, wenn wir
M. fast ganz mit eigenen Worten seine Vita schildern
lassen, obwohl die mannigfachen, aus verschiedenen Zeiten
stammenden Aufzeichnungen des Herrn M. jeder Systematik
entbehren und sich vielfach wiederholen. So gut es geht, soll
Ordnung in die Einzelheiten gebracht werden.
..Meine Erinnerung, soweit sie. Se.xuelles betrifft, reicht
ungefähr bis zum 5. Lebensjahr zurück. Vom 6. Jahr an
wird sie ziemlich klar und genau, während aus den früheren
.Tahren nur einige markante Punkte hervorleuchten. Mein
Vater starb, als ich das 6. Jahr vollendete. Ich entsinne mich
genau, von ihm wegen der Onanie, die ich damals scheinbar
offen und ohne böses Bewusstsein trieb, verwarnt worden zu
sein. Ich muss also letztere jedenfalls schon vorher begonnen
haben. Damals war ich in einige junge Damen unseres Be-
kanntenkreises im wahren Sinne des Wortes verliebt, d. h,
ich dachte es mir im Stillen himmlisch, wenn sie mich ent-
führten, mich ganz zu sich nähmen, mich verhätschelten, ver-
weichlichten, in Mädchenkleider steckten und verspotteten,
kurz, wenn sie wie mit einer Puppe mit mir
spielten. Ich genierte mich furchtbar, wenn icb in ihrer
Gesellschaft war, und wurde von meinen Angehörigen sehr da-
mit gehänselt, dass man sie meine Bräute nannte.“
88
„Was die Masturbation angcht, so betrieb ich diese un-
gefähr bis zum 17. Jahre in der Weise, dass ich die Ober-
schenkel fest aneinanderpresste. Dazu kamen immer be-
stimmte Vorstellungen, wie ich sie eben schon skizzierte. Ich
dachte mir ferner auch, dass mich die betreffenden Damen
ganz in weiche Pelze oder in Watte einwickelten, bis ich
völlig wehrlos war; ich musste auch mit ihnen im Bett
Bchlafeu und bekam hie und da Schläge. Wann das erste
Mal eine Ejakulation bei mir eintrat, vermag ich nicht zu
sagen; ich glaube, sie stellte sich allmählich ein. Anfänglich
machte ich aus der Masturbation keinerlei Hehl. Soweit es
sich also um den körperlichen Vorgang handelte, merkten
meine Angehörigen die Sache bald. Zuerst wurde ich ver-
mahnt und erhielt dann später jedesmal Schläge mit der
Rute auf das blosse Gesäss, was doppelt widersinnig war,
weil wir Kinder diese entehrende und schwere Strafe sonst
niemals erhielten. Man bemerkte meine Verfehlungen meist
daran, dass ich angegriffen aussah und stärker als sonst
schielte. In der Schule masturbierte ich meist heimlich
während der Stunde; ferner auch nachts, doch war der Reiz
grösser, wenn ich wenigstens irgend etwas, z. B. die Hose,
zwischen die Beine geklemmt hielt.“
„Ich spielte stets lieber mit Mädchen. Knabenspiele nur,
wenn sie friedlich waren, da mich der leichteste Schmerz zum
Weinen brachte. Sehr gern spielte ich mit Puppen, ferner
Kochen, Ball, Mutter und Kind. Schule u. dgl. Ich lernte
leicht stricken und konnte Stunden lang
neben einem Kinderwagen hergehn und mit
dem kleinen Kinde spielen. Man erklärte mir
öfter, so etwas schicke sich nicht für einen Jungen; auch
schämte ich mich selber dieser Regungen und versuchte, sie
nach Möglichkeit zu unterdrücken. Ich sah mädchenhaft aus
und wurde manchmal auch so genannt.“
„Eine seltsame Episode ist mir im Gedächtnis geblieben.
Eines Mittags, als meine Eltern schliefen, holte ich mir heim-
lich den Morgenrock meiner Mutter, zog ihn an, schwärzte
mir das Gesicht mit gebranntem Kork und betrachtete mich
so im Spiegel; dabei masturbierte ich. Ich wurde dann ent-
89
deckt und schämte mich furchtbar. Hier fällt mir auf; ich
sträubte mich stets dagegen, mit meinen Angehörigen das
Spiel „Schwarzer Peter'‘ (bei welchem dem Verlierer mit ge-
schwärztem Kork ein Bart angemalt wird) zu spielen; mit
dieser scheinbar törichten Schamhaftigkeit hat man mich
immer aufgezogen. Mir scheint es wichtig, diese kleinen Ein-
zelheiten mitzuteilen, weil gerade das, worüber
ich mich öffentlich schämte, in meiner
Phantasie heiss begehrt wurde. Ich stellte
mir auch vor, die von mir geliebten Frauen verwandelten
mich in einen kohlschwarzen Neger oder in einen weissbemalten
buntausstaffierten Clown.“
„Vom Koitus erfuhr ich etwa mit 12 Jahren; er kam
mir im Gegensatz zu meinen Phantasien direkt ekelhaft und
schmutzig vor. Aber der Mensch gewöhnt sich an alles; ich
konnte anfangs auch keinen Kaviar essen. Jedoch spielt der
regelrechte Koitus auch heute noch in meinen Phantasien eine
sehr nebensächliche Rolle.“
„Schon als Kind verspürte ich einen
starkenDrang in ra i r , P r a u e n k 1 e i d e r an-
zuziehn. Als mich ein Kindermädchen
einmal zum Spass verkleidete, regte
mich der Vorgang heftig auf. Doch wagte ich
aus Furcht vor Entdeckung nicht, in dieser Richtung schon
damals eigenmächtig zu handeln.“
„Mit 9 Jahren sah ich einmal gelegentlich einer Auf-
führung, wie eine der von mir angebeteten Damen, in ihren
Pelz gehüllt, vom Friseur geschminkt wurde. Seit jenem
Tage spielen Schminke und Pelz, sowohl an meinem eigenen
Körper wie an dem der Geliebten, eine bedeutsame Rolle in
meinen Vorstellungen. Ich dachte mir später Frauengestalten
nach eigenem Geschmack aus. Sie hatten meist goldblondes
oder schneeweisses Haar, waren stark geschminkt und trugen
einen Pelz. Ich stellte mir vor, ich sei in ihrer Gewalt, sie
spielten mit mir, demütigten mich, Hessen sich von mir be-
dienen, ich musste mit meinen Herrinnen schlafen, ihnen
cunnum lambere etc. Sie steckten mich in die mannig-
faltigsten, möglichst weibisch oder komisch aussehenden Ver-
90
kleidungeii. Aus diesem Grunde interessierte ich mich auch
sehr für Kostüme, historische wie moderne; am meisten ge-
fiel mir aber stets das weibische, weichliche Roccoco mit den
weissen Perücken. Woher meine Vorliebe für weisses Haar
stammt, kann ich nicht sagen. Ich halte aber die z. Z. um
sich greifende Mode des grellblonden unnatürlichen Haares bei
Frauen und ebenso den aufgetürmten Lockenbau für ein Zeichen
einer Perversion, die der m e i n i g e n sehr ähnlich ist,
und die scheinbar zu gewissen Zeiten auftritt; man denke an
das alte Aegypten, an Spät-Rom, an die Roccoco-Zeit. ihre
Haartracht und Sexualität.“ (Diesen Passus Hess ich hier
ausnahmsweise stehn, weil diese Art der Philosophie für
unsere Fälle typisch ist. Es wiederholt sich hier nur. was
auch der ..Normale“ so gern tut, dass er nämlich die ganze
Welt nur aus seinem Gesichtswinkel beschaut.)
„Mit 14 Jahren schaffte ich mir zum ersten Mal Schminke
und Puder an und fertigte mir aus Wolle eine Damenperücke.
Nächte brachte ich damit zu, vor dem
Spiegel zu sitzen und mich mit Hilfe der
Kostüme meiner Mutter als Frau zu ver-
kleiden.“
„Ich machte später einmal den Versuch, mit Freunden
eine Aufführung zu arrangieren, in der ich die Frauenrolle
spielen wollte. Die Sache zerschlug sich, was mir im Grunde
angenehm war, da ich es aufs äusserste scheute, in der
Oeffentlichkeit irgend wie als weibisch aufzufallen.“
„Als ich mit 16 Jahren in eine sehr ungenierte Pension kam.
schaffte ich mir Tricots an und wattierte sie an Brüsten und
Hüften frauenhaft aus; ferner besass ich eine
blonde Frauenperücke, eineweisse Clowns-
perücke. einen Damenpelzmantel, Korse tt,
weibliche Unterwäsche etc. und verbrachte
meine Tage und Nächte damit, dass ich
mich mit Hilfe einer Spitzenbettdecke
oder sonst passender Gegenstände auf
alle mögliche Weise maskierte. Natürlich
stets recht weibisch und geschminkt. Die
Betrachtung meines weibisch entstellten Spiegelbildes regte
91
mich stark auf; wollüstig empfand ich die Berührung des
weichen Pelzes, die Behinderung durch das Korsett und die
schnürende Kleidung, ja sogar das Ziehen der dick auf getra-
genen Schminke erregte mich. Bei alledem stellte ich mir
vor, es müsse viel schöner sein, wenn nicht ich, sondern je-
mand anders, am besten ein Weib, mich in diese Lage
versetze, mich zwänge, darin zu verharren und mich andern
Personen zum Spott oder zur Bevninderung, oder um sic
sexuell zu erregen, so zeigte.“
..Meine Gefühle waren also mehrfacher Art: Erstens sah
ich da im Spiegel ein Wesen, dessen Aeusseres mich sexuell
erregte. Zweitens erregten mich die Kleidungsstücke an
meinem Körper, teils an sich, teils durch das Gefühl, dass es
weibische waren. Drittens versetzte ich mich nach Möglichkeit
in die Situation, als wäre sie von fremden Personen herbei-
geführt und bedeute für mich als Mann eine schmach-
volle Zwangslage.“
..Meines Erachtens will der Masochist 1. in der Gewalt
des geliebten Wesens sein, 2. von ihm gedemütigt werden.
Das erste lässt sich am besten erreichen durch Behinderung
der körperlichen und möglichst auch der geistigen Bewegungs-
freiheit. Ein Mittel hierzu ist äusserer Zwang (Fesselung u.
dergl.); doch bleibt dabei die völlige geistige Bewegungs-
freiheit bestehn. Ausserdem ist die Wirkung gering auf einen
ernstlich widerstrebenden Menschen, der lieber in den Tod
gehn würde, als dass er sich demütigen Hesse. Der Masochist
will aber ernstlich widerstreben; denn seine ganze Kraft soll
ja durch das geliebte Wesen bezwungen werden. Endlich
würde es garnichts Demütigendes oder Erniedrigendes sein,
wenn man durch eine zehnfach stärkere, keinen Widerstand
duldende, brutale üebergewalt bezwrmgen würde; dies wäre
im Gegenteil fast ein Heldenschicksal.“
,,Viel demütigender dagegen ist es. wenn der Mann dau-
ernd in eine für ihn schmachvolle oder lächerliche Rolle hin-
eingezwungen wird, in der er zwar äusserlich scheinbare Be-
wegungsfreiheit besitzt, während es ihm dennoch jeden Augen-
bHck ins Bewusstsein gerufen wird, dass alles, worauf der
Mann sonst stolz ist, seine männlichen Fähigkeiten, seine
92
Stärke, sein Ernst, seine (Jeberlegenheit über das weibliche
Geschlecht, gleichsam lahmgelegx sind. Jeden Augenblick fühlt
er die Demütigung vor den Leuten und vor dem geliebten
Weibe; dies stachelt ihn an, sich aufzulehnen. Aber nicht
grobe, übermächtige Gewalt, sondern der eigene Schwächezu-
stand, in den ihn das Weib klug versetzt hat, wird ihm zum
Hindernis. Hilflos muss er zuschn, wie sie das Netz enger
und enger zieht, wie sie ihn immer mehr schwächt und damit
erniedrigt und demütigt. Gibt es eine grössere
Demütigung, als w-e nn der körperlich
starke Mann gezwungen wird, die Ge-
stalt des Weibes anzunehmen? Für den
echten Mann, der zu den stolzesten seines Geschlechts gehört,
ist die Befriedigung des Geschlechtstriebes nur ein Gebot der
Gcsundheitserhaltung, eine zum Wohlbefinden nötige Körper-
übung; sein grosszügiger, schaffender Geist wandelt sonst in
höheren Bahnen und betrachtet die Frauen bloss als Ver-
gnügungsobjekt. Ein solcher Mann nun wird in die
kleinen Grenzen des Frauengeistes gebannt; er wird ge-
zwungen. das zu sein, was ihm die Frau sein sollte, d. h.
ein Werkzeug zur Befriedigung von Geschlechtstrieb und
Laune. — Der oben beschriebene Zwang wäre wohl am
besten durch Hypnose zu erreichen; doch dabei fehlt dem Be-
zwungenen das Bewusstsein seiner Erniedrigung. Also muss
der scharf denkende Masochist auf andere Mittel sinnen.“ (Die
krausen Pfade dieser ganzen Philosophie sind hier mit Ab-
sicht reproduziert - worden, da sie zum psychologischen Tat-
bestand des Falles gehören.) —
„Ich habe nie von jemandem gehört oder gelesen, der
die Masturbation so stark betrieben hätte wie ich. Noch heute
ist der Durchschnitt für mich dreimal täglich. Ich glaube,
daher stammt meine Magerkeit; auch mein Gedächtnis und
meine Energie scheinen gelitten zu haben. Doch hat mir
niemand je Nervosität oder Aehnliches angemerkt. Ich be-
obachte mich selber scharf, verstelle mich und zeige immer
nur das, was ich gesehen wissen will. Bis jetzt habe ich noch
jeden in sexueller Beziehung über mich hinters Licht führen
können. Natürlich habe ich die Onanie mit Anspannung aller
93
Kräfte zu bekämpfen gesucht; anfangs durch Beten zu Gott
um Beistand; dann durch Versprechungen, die meine Ange-
hörigen (einmal sogar auf Ehrenwort!) von mir verlangten.
Schliesslich durch Vernunftgründe, die mir meine naturwissen-
schaftlichen und philosophischen Studien an die Hand gaben.
Ich habe mir das körperliche und geistige Elend, das früher
oder später einmal über mich hereinbrechen würde, klar vor
Augen gestellt; ich habe mir all die Freuden und das Glück,
die ein massvolles Geniessen krönen würde, aufs lebhafteste
ausgemalt; ich habe mich zur Ehre dressiert und bin
Korpsstudent geworden: es hat alles nicht das
geringste genützt. Nirgends kam mir die Seelenruhe, und
ich bin immer wieder zu meinen Träumen zurückgekehrt.“
„Zum ersten Mal koitierte ich mit 17 Jahren. Es war
eine arge Enttäuschung; schon wegen der Schmerzen, da ich
eine Phimose hatte. Ich habe dann in halbjährigen Zwischen-
räumen etwa den Koitus fortgesetzt, wie es sich zufällig
machte, nur aus Eitelkeit dem Mädchen und der Welt gegen-
über, nicht weil mich die Sache reizte, und meist mit Ko-
kotten. Meiner starken Sinnlichkeit verdanke ich es wohl,
dass mir der Akt meistens gelang; doch musste das betr.
Weib stets selbst etwas aktiv dabei vorgehn. Ich simulierte
meistens den Genuss; einiges Vergnügen hatte ich nur, wenn
ich sah, dass das Weib aufgeregt wurde. Erst nach längerer
Hebung gelang es mir, während des Aktes zur Ejakulation zu
kommen. Gleich bei einem der ersten Male holte ich mir
übrigens eine Lues, die zwar bisher bei sorgfältiger und
wiederholter Behandlung keine erschreckenden Symptome
zeigte, deren Dasein für mich aber doch äusserst nieder-
drückend und entmutigend ist. Ich kann es in meinem Zu-
stand nicht wagen, mich dem Ideal meiner Träume, falls ich
es finden sollte, zu nähern. Dieser Umstand macht mich
mehr als alles andre lebensüberdrüssig. Freilich habe ich die
Hoffnung auf das Ideal auch wegen der Schwierigkeit, es zu
finden, fast aufgegeben. Seit 1)4 Jahren habe ich kein Weib
mehr berührt, eine Tatsache, die meine Bekannten als die
grösste Lüge des Jahrhunderts bezeichnen würden. Trotzdem
^ hatte ich früher immer einiges Glück bei Frauen, weniger auf
94 -
den ersten J31ick hin, als durch freundliches und doch wunsch-
loses Verhalten ihnen gegenüber. Da ich aber in der Liebe
körperlich wie geistig stets der weiblich passive
Teil sein möclite, um ihnen dann allerdings alles hinzu-
geben, alles für sie zu erdulden, so habe ich die Frauen nie
lange mit meiner Schauspielerei bei Zufriedenheit erhalten
können."
..Leber Homosexualität erhielt ich zuerst Aufschluss
durch das Buch; Die Enterbten des Liebesglücks. Hier fesselten
mich manche Stellen ausserordentlich, mehr noch, als in maso-
chistischen Werken, deren ich gleichfalls eine ganze Reihe ge-
lesen habe. Da ich auf mein Weibideal aus obigen Gründen
Verzicht leisten musste, kam ich in Gedanken dazu, mir als
das Kompliment meiner Sehnsucht einen Mann zu wünschen.
Denn auch die stärkste Frau wird in der Liebe dem Manne
stets unterlegen sein wollen. Ich brauche aber einen
Partner, der mich gewissermassen erobert und vergewaltigt.
So sagte ich mir, diese Rolle könne nur einem M a n n e zu-
fallen. Vieles, was ich von der Homose.xualität in den
Büchern las. bestärkte mich in diesen Vorstellungen.“
Eine mehrjährige Beobachtung des
Herrn M. hat ergeben, dass die Schwen-
kung zur Homosexualität nur eine schein-
bare war, ein zufälligesAccidenz zu der
gleichbleibenden Grundfärbung seiner
Libido. Irgend eine homosexuelle Betätigung hat niemals
stattgefunden. Herr M. hat den Teil seines Gefühlslebens, in
dem die Erscheinung eines von ihm geliebten Mannes psy-
chi.sch eindrang, in Form einer novellistischen Skizze festge-
haltcn. die wir nachstehend auszugsweise reproduzieren. Es
geschieht dies aus folgenden gewichtigen Gründen;
Die Skizze stellt einen richtigen Tag träum dar. wie er in
dieser Abgerundetheit (auch in den Arbeiten der Freud’schen
Schule) verhältnismässig selten veröffentlicht worden ist. Dieser
Tagtraum ist zwar im allgemeinen erotisch gehalten; hoch-
erotisch ist er aber (für die Psyche des Träumers) gerade an
den Stellen, die für die Mehrzahl der Menschen garnichts Ero-
(
95
tisches bedeuten, nämlich, wo vom Kostümieren, Schminken,
von der Beschämung durch Zwangsmassregeln die Rede ist.
Die Anomalie des Traumes entspricht also genau der
Anomalie des Träumers.
Wie sehr der Versuch, sich homosexuelle Vorstellungen der
ursprünglichen Reaktionsfähigkeit gefügig zu machen, miss-
lingt, ersieht man daraus, dass sich ganz unwillkürlich
in den Lauf der Begebenheiten ein Weib einschmuggelt,
dessen Gegenwart dem Träumer überhaupt erst das weitere
ermöglicht. Dennoch ist das Ganze in gewisser Hinsicht auch
ein Beweis dafür, dass die Starrheit der Triebanlagen Flexi-
bilität genug besitzt, um fremden Elementen sich wenigstens
temporär zu assimilieren.
Endlich sieht man aufs Vortrefflichste den Zusammenhang
der Erotik mit dem belletristischen (und weiterhin künst-
lerischen) Fabulieren. Viele Werke der Literatur, die ganz
asexuell erscheinen, entstehen trotzdem auf ähnlichem Unter-
gründe.
Es folgt nun einiges aus der Skizze selber;
„Reinhold war ein fröhlicher Student. Er hatte viel Kameraden, und
lebte mit ihnen sorglos in den Tag hinein. Nur in einem konnte er sie nie
so recht verstehen und ihre Gefühle teilen. Das war in der Sucht nach Frauen
und dem geschlechtlichen Verkehr. Auch ihn reizten die Weiber zwar, und
besonders wenn sie chick und elegant waren, aber seltsame Gedanken stiegen
ihm meist bei ihrem Anblick auf, „Ach, könntest du nur ein einziges Mal
auch so eine chicke Toilette anziehen und so reizend aussehen, und so ver-
ehrt werden.“ Schnell aber verbannte er dies weibische Begehren in den
Tiefen seines Herzens und tat, als sei er wie die andern. Vor Männern hatte
er eine eigenartige Scheu, die er nie recht begründen konnte, und ebenso
vor der Berührung mit ihnen.
Eines Tages, als er allein durch den Tiergarten wandelte, bemerkte er,
dass ein vornehmer, älterer Herr ihm folgte. Von einem seltsamen Gefühl ge-
trieben, ging er langsamer. Der Herr holte ihn ein und sprach ihn an. Er
sah ihn mit seinen schönen, lebensemsten Augen so seltsam an, dass Rein-
hold den Blick senken musste. Er hatte Furcht vor ihnen. Sie kamen io’s
Gespräch und verabredeten sich bei der Trennung auf ein ander Mal. So
trafen sie sich öfter, und wurden näher bekannt. Reinhold fasste ein unbe-
grenztes Vertrauen zu dem freundlichen Herrn, er vermeinte ihn mit ganz
anderen Augen anzusehen, als andere Männer. Jener sagte ihm Schmeichleien
96
über seine Schönheit, was ihn jedesmal verwirrt machte, und dennoch hörte
er sie sehr gern. Seinen Kameraden sagte er von setner neuen Bekanntschaft
nichts. Sein Freund, der sich Edmund nannte, besuchte ihn auch einmal. Sie
sassen auf dem Sofa und plauderten, und im Laufe des Gesprächs legte jener
den Arm um seinen Hals. Ein Schauer durchrann seinen ganzen Körper. 0'.
wenn Edmund jetzt seine bärtigen Lippen — er trug einen schön gepflegten
Spitzbart — auf die seinigen drücken würde; er fühlte ein seltsam süsses
Lähmungsgefühl. Aber nein! Entsetzlich, bärtige Lippen aufeinander! und
überhaupt zwei Männer! Pfui! und erschrocken entwand er sich dem Arm
des Freundes, und sprang auf. Jener schien nichts bemerkt zu haben.
Eines Tages, als sie von Vergnügungen sprachen, meinte Edmund;
„Weiset du was! Am Mittwoch findet hier grosser Maskenball
statt. Dort müssten wir eigentlich einmal hingehen!
Ja! aber in welchem Kostüm? meinte Reinhold.
Ich habe eine famose Idee! Du gehst als elegante Kokotte verkleidet,
und ich als dein Kavalier! Du musst entzückend aussehen in Frauenkleidem.
Ja, bitte tu mir den Gefallen! mit flehendem Blick sah er ihn an, seine
Hände fassend.
Reinhold konnte nicht widerstehen. Sein Inneres jauchzte; sein Herzens-
wunsch sollte in Erfüllung gehen.
Ja, aber wie wollen wir denn das machen, wandte er schüchtern ein.
Das lass nur meine Sorge sein' Komm du nur Mittwoch Nachmittag
zu mir. Das andere wir sich finden!
Also gut, ich bin einverstanden, erklärte Reinhold lächelnd.
Pass auf! es wird entzückend werden. Du wirst dich so gut als Mädel
machen, dass man dich nicht erkennt.
Edmund nahm nun einige Masse, und sie trennten sich.
Reinhold befand sich die nächsten Tage in fieberhafter Aufregung. Er
dachte nur an seinen Freund und Mittwoch. Edmund würde ihn als Weib an-
ziehen. Man würde ihn als seine Geliebte ansehn, und Edmund würde ihn
als seine Geliebte behandeln. Er würde sich wie ein Weib ihm gegenüber be-
nehmen müssen, und würde er nicht vielleicht auf Augenblicke seine Männ-
lichkeit ganz vergessen? Himmlischer süsser Gedanke! Er wagte nicht,
ihn auszudenken. Er sah sich bereits als Weib in den Armen des Ge-
liebten! Denn er liebte ihn; das wusste er jetzt; und nicht nur den Freund,
sondern auch den schönen, starken, geistvollen Mann.
Punkt vier stand Reinhold vor Edmunds Wohnung in einem eleganten
Haus einer Berliner Vorstadt. Schüchtern klingelte er. Der Freund öffnete,
und führte ihn sogleich durch einen geschmackvoll eingerichteten Salon in
ein wundervolles Schlafzimmer.
Die Zimmer kannst du dir alle später ansehen, komm nur erst hier
hinein.
Das Zimmer war ganz in weiss und rosa gehalten, aber — Reinhold
stutzte, es schien für ein Ehepaar eingerichtet zu sein. Ein grosses, zwei-
schläfriges Himmelbett, eine doppelte Waschtoilette, ein Toilettentisch wie
für eine Dame.
97
Lächelnd bemerkte Edmund das Erstaunen des Freundes.
Ja, ich war einmal verheiratet, bin aber von meiner Frau geschieden.
Es war nicht meine Schuld, aber ich bin froh, um ihret- und meinetwillen,
fügte er seufzend hinzu.
Dann schellte er. Eine ältere Dame im Hauskleide erschien. Dies ist
mein kleiner Freund, aus dem du mir heute eine kleine Freundin machen
sollst, Brigitte. Und dies ist meine Hausdame Brigitte, die mich schon als
Kind treulich gewartet hat, stellte Edmund vor.
Wird es denn auch gehen? meinte er dann, zu ihr gewandt. Brigitte
sah den Jüngling prüfend an.
Aber, ausgezeichnet! er wird eine reizende Kokotte abgeben; die Männer
werden verrückt nach ihm sein.
Reinhold errötete über und über. Er scliämte sich vor der Frau furcht-
bar der Rolle, zu deren Annahme ihn Edmund überredet hatte, und doch
entzückte ihn ihre Prophezeiung.
Aber dann wollen wir beginnen, meinte Edmund, immer mit demselben
seltsamen Lächeln auf den Lippen.
Reinhold sah ihn flehentlich an.
Nicht hierbleiben, du, bitte!
Nun, du schamhaftes Fräulein, wenn du keine Männer bei deiner
Toilette duldest, muss ich mich wohl oder übel zurückziehen; aber, wart’, ich
räche mich nachher!
Nun begann eine fieberhafte Tätigkeit. Reinhold musste sich ent-
kleiden. Brigitte rasierte seinen kleinen, blonden
Schnurrbart fort, und von den starken Augenbraunen Hess sie nur
einen schmalen, schöngeschwungenen Strich stehen. Aber, wenn man mich
morgen so sieht? wagte er einzu wenden.
Das wmchst ja bald wieder, meinte eie unbeirrt. Dann nahm sie eine
Nadel, und ehe er ihre Absicht ahnte, hatte eie ihm das eine Ohrläppchen
durchstochen.
Oh weh! rief er aus, nein, das geht nicht'
Es muss aber sein, erklärte sie, es wächst ja alles wieder zu. Damit
hing sie ihm zwei grosse, unechte Brillanten ins Ohr.
Das wusste er, in den nächsten Tagen durfte er sich vor niemanden
sehen lassen.
Dann zog sie ihm eine wundervolle, goldblonde Strassenperücke über den
Kopf. Sie war entsetzlich schwer, und wurde seiner Ansicht nach ganz über-
flüssigerweise auch noch mit Klebstoff befestigt.
Die Haare an Armen und Beinen wurden gleichfalls entfernt.
Aber wmzu machen Sie denn das?
WeU eine junge Dame, wie Sie. überall schön aussehen muss.
Den Körper rieb sie ihm mit einer duftenden Flüssigkeit ein.
Das reizt die Männer riesig, meinte sie.
Aber das hat doch für mich keinen Zweck! tief er erschrocken aus;
doch Hess er sich ruhig einreiben, und freudig erregt erhob sich seine Brust,
H Irschfeld, Die Transvestiten. 7
98
Nun folgte das Ankleiden, Schminken und Frisieren, dessen detaillierte
Beschreibung M. förmlich begeistert, hier aber zu weit führen würde. Man
stelle sich das Bild einer eleganten Demimondaine in Gesellschaftstoilette
vor, beladen mit unechten Brillanten, einen riesigen weisseii Straussfederhut,
Boa, über und über parfümiert usw. i
Reinhold betrachtete sich mit halbgeschlossenen Augen, den Kopf
hinüber, im Spiegel. Seide und Spitzen umrauschten seine Knie, das enge
Korsett zwang ihn in eine weibisch-grade Haltung, der zarte Flaum der Boa
im Nacken, das schwere, lästige Haar, die langen, engen Handschuhe, das
alles peitschte seine Sinne zu nie gekannter Lust.
Im Nu hatte er sich die Bewegungen des Weibes angeeignet. Es war,
als sei es eine zweite Natur. Alles andere war für ihn vergessen, er brannte
darauf, von dem Geliebten bewundert zu werden.
Brigitte war entzückt.
0 wie wird sich Edmund freuen! Aber nun will ich das gnädige Fräu-
lein gleich ihrem Kavalier zuführen. Damit öffnete sie die Flügeltür und
führte die verschämt Zögernde in den Salon.
Reinhold errötete unter der Schminke. Da stand lächelnd der Geliebte
elegant wie immer, im Frack, schön wie ein Gott. Er wäre ihm am liebsten
an den Hals geflogen, hätte ihn nicht Brigittes Gegenwart zurückgehalten.
Galant küsste Edmund der Schönen die Hand.
Mein Kompliment! Nun, bist du mit deiner Verwandlung unzufrieden,
mein Kleinchen?
Nein, kam es schüchtern von Reinholds Lippen.
Nicht wahr, ich hatte Recht! Aber wie soll er denn nun heissen?
meinte Brigitte scherzend.
Wir wollen ihn „Lilli“ nennen, unsere süsse Lilli! Der Name gefällt
Ihnen doch, meine Gnädigste? fragte Edmund scherzend.
Reinhold antwortete nicht. Jede Fiber in ihm zitterte vor Aufregung.
Aber, da steh’ ich und gaffe, rief Brigitte plötzlich aüs, und draussen
geht’s drunter und drüber. Damit war sie hinaus und im Nu fühlte LiUi sich
von den Armen des Geliebten umschlungen.
In mädchenhafter Scham wollte sie sich ihm entwinden. Vergebens! das
Rauschen der Röcke, das schwere Haar, der berauschende Duft, das alles
Hess sie vergessen, wer sie eigentlich war. Sie war jetzt nur das verlangende
Weib, das sich nach den Küssen des geliebten Mannes so lange gesehnt hatte.
Willenlos liess er sich auf den Divan legen.
„Du süsser, geliebter Mann! Dank, tausend Dank, dir will ich gehören
für immer — Töte mich — aber lass mich dein Weib sein,
stammelte er, und wild graben sich seine Zähne in die Lippen des Geliebten.
Plötzlich sprang er auf, und sah seine in ihrer Verwirrung reizende
Frauengestalt im Spiegel.
Unseliger, was hast du getan! kam es bestürzt von seinen Lippen, und
voll Scham und Reue eilte er, so schnell es seine Kleidung erlaubte, ins
Nebenzimmer.
99
Himmel, was war geschehen? Er wollte fort von hier; er suchte seine
Sachen, üeberaü vergebens, sie waren verschwunden. Er war ein Ge-
fangener, und so würde er seinem Schicksal nicht entgehen; das fühlte
er genau. In seinem Innern kämpften die wildesten Gewalten miteinander,
und bitterlich weinend warf er sich aufs Bett.
Mit zynischem Lächeln war Edmund ihm gefolgt. Er erschien ihm in
seiner mädchenhaften Verwirrung entzückend. Leise trat er nun zu ihm und
beugte sich über die schluchzende Schöne. Ein sanfter, inniger Kuss auf den
Hals machte die ganze Gestalt durchschauern.
Sanft hob er sein Opfer auf und führte den Willenlosen in kluger Be-
rechnung grade vor den Spiegel.
Was ist dir denn? meine süsse, kleine Lilli! tröstete er liebkosend.
Ich möchte fort, gib mir meine Sachen wieder, bitte, bitte! kam es nur
noch schüchtern von den Lippen Reinholds.
Deine Sachen? Aber Liebling, sieh doch mal! Zu diesen schwellenden
Kirschenlippen, zu diesen süssen, lüsternen Mädchenaugen, gehört da nicht
eine so süsse, duftige Toilette, wie du sie anhast. Merkst du es denn nicht?
du bist ja gar kein Mann, du bist ja ein furchtsames
Mädchen und gehörst darum in den Unterrock, mein
dummes, kleines Frauchen!
Ja, du hast recht, Geliebter, und ich will es immer bleiben! hauchte
ßeinhold iustdurchschauert.
Aber nun, Schatz, wollen wir auch ans Essen denken, meinte EdmunJ
fröhlich. Ich will Brigitte rufen, dass sie dich wieder ein bischen in Ord-
nung bringt.
Nein, nein! rief Reinhold nach; aber gleich darauf erschien Brigitte mit
einem seltsamen Lächeln auf den Lippen, das ihn ärgerte. Er schämte sieb
furchtbar vor ihr.
Dann führte Edmund seine Dame ins Esszimmer, wo der Tisch bereits
reich gedeckt war und der Teekessel dampfte. Man ass zu dritt.
Brigitte unterwies Reinhold oder vielmehr Lilli wie eine Tochter.
Sie musste den Tee servieren, die Butterbrödehen streichen, helfen usw. Lilli
wagte kaum die Augen aufzuschlagen; nur hie und da traf ein verstohlener
Blick den Geliebten.
Wollen udr denn nun noch auf den Ball gehn? fragte Edmund einmal.
Es wird ja zu spät, Kinder! meinte Brigitte, und Lilli schwieg.
Nach Tisch plauderte man ein wenig; zu rauchen bekam Lilli mir eine
ganz kleine Damenzigarette, zu ihrem grossen Bedauern.
Es ärgerte sie überhaupt, dass Brigitte eie so ohne weiteres ganz und
gar als Mädchen behandelte. Aber konnte sie es denn anders verlangen? Auf
einmal meinte sie sogar, es sei Zeit für Lilli, ins Bett zu gehn.
Aber ich muss doch nach Hause! erklärte diese.
Heute nicht! bat Edmund, heute hist du Lilli und hast gar kein
anderes Zuhause als liier.
Wie eine Träumende Hess sie sich von der Hausdame ins Schlafzimmer
führen. Lilli wollte die Perücke abnehmen.
7*
100
Das wird nicht gehen, erklärte Brigitte, die habe ich Ihnen zu fest mit
Ihrem eigenen Haar verklebt, Fräuleinchen. Behalten sie sie nur auf. Sie
sehen ja auch so niedlich damit aus.“
Bis hierher mag es an der Probe aus dem Manuskript
des Herrn M. sein Bewenden haben. Die oben erwähnten Fol-
gerungsmomente sind unschwer zu erkennen.
Fall Xni.
Im Jahre J905 erhielt die Herausgeberin der Zeitschrift
„Mutterschutz“ von einem gewissen John 0. aus S. Francisco
mit der Bitte um Veröffentlichung ein sehr merkwürdiges
Schreiben. Als der von ihm erwartete Abdruck während
längerer Zeit nicht erfolgte, wandte sich 0. an mich; „Er sei
sehr enttäuscht, dass man ihn nicht hätte zu Worte kommen
lassen.“ Der seltsame mir in Abschrift beigefügte Brief, von
dem ich sehr wohl verstehe, dass ihn die Redakteurin, ihrem
Leserkreise nicht zumuten wollte, da sein Inhalt ihnen wohl
kaum verständlich gewesen wäre, hatte in der Hauptsache
folgenden Wortlaut;
„Ihre Zeitschrift Mutterschutz interessiert mich so sehr,
dass ich sie halten muss; ich bin körperlich männlich, geistig
weiblich, deshalb habe ich für alles was weiblich ist, sehr
viel Sympathie. Da Sie für sexuelle Freiheit kämpfen, möchte
ich ein Wort sprechen über die Verfolgung der Effeminierten.
Denn manche Mutter versteht ihren Sohn nicht, weil er mäd-
chenhaft ist. Ich bin der lieber zeugung, dass wenn ein
Knabe einmal 8 oder 10 Jahre ist und er zeigt Vorliebe für
Mädchenkleider, Mädchenarbeit und Mädchenspiele, dass dann
die Mutter zum Wohle des Kindes besser tut, ihn in seinem
Wunsche freie Wahl zu lassen. Der Knabe ist dann, nämlich
nur geschlechtlich männlich, aber geistig Mädchen und wenn
solche Kinder nach ihrem Gefühl erzogen werden, dann sind
sie viel glücklicher als wenn man ihnen durch Strafen, Spott
oder gar Misshandlungen das Knabenhafte beibringeii will.
Wird er aber dann als Mädchen erzoeen, so verliert er allen
Zweifel und wird im weiblichen fester, so dass er dann nie-
101
mals mehr den Wunsch hat ein Mann zu sein; wird er ge-
zwungen sich als Knabe zu bewegen, so fühlt er sich nieder-
geschlagen und sehnt sich nach der Zeit "wo er als Dienst-
mädchen oder ähnliches sein Leben machen kann. Ich bin
nicht mit Dr. Moll in seiner konträren Sexualempfindung
S. 448 einverstanden, wo er sagt; man solle durch Strafen
die Effemination zu beseitigen suchen. Er sagt ja auf S. 157
selbst, „es ist in der Tat auffallend, wie mächtig sich bei
manchen Homosexuellen das weibische Benehmen zeigt. Wenn
man berücksichtigt, dass die Erziehung derartiger Knaben
meistens der der anderen gleich ist, so ist es wunderbar, mit
welcher Stärke trotzdem die weibliche Natur schliesslich bei
ihnen durchbricht.“ Ich will zugeben, dass bis zum 5. Jahre
vielleicht noch manches Kind durch Erziehung zu seinem Ge-
schlecht erzogen werden kann, aber meistens auch dann nicht
und zeigen sich die mädchenartigen Eigenschaften viel stärker
als die knabenartigen, so ist es für das Kind viel besser, es
nach seinem geistigen Geschlecht zu erziehen. Deshalb, liebe
Mütter, erzieht doch solche Söhne als Mädchen, denn gute
Ehemäner werden sie selten, sie haben sogar eine Abneigung
vor dem Verkehr, ausser wenn sie später vielleicht einmal
eine Frau finden, die männlich ist. Auch wäre ich dafür,
dass die Polizei solche weiblichen Männer in Ruhe lässt und
dass sie den Frauen gleich behandelt werden. Ich selbst habe
als Kind jede Gelegenheit benutzt die Kleider meiner Schwester
anzuziehen, wurde oft dafür geschlagen, verspottet und ge-
neckt, spielte mit Mädchen und sehnte mich nach
der Zeit wo ich aus der Schule war, um
als Kindermädel arbeiten zu können.
Schliesslich stahl ich von einem Mädchen die Kleider und
einen Heimatschein und floh in Mädchentracht in die Schweiz,
so dass niemand für Jahre wusste, wo ich war. Das erste
Vierteljahr wünschte ich manchmal noch lieber als Junge zu
arbeiten, denn die Arbeit war hart und die Frau bös, aber
die zweite Frau Meisterin war besser, zu mir, und so vergass
ich bald meine Heimat und mein Geschlecht. Mit 19 Jahren
hatte ich den ersten Liebesakt durch Angriff eines Mädchens
gehabt, und während des Aktes wünschte ich auch Mädchen
102
zu sein. Ich weinte manchmal, dass ich kein Weib war und
nicht Mutter werden konnte. Als ich in die 20 kam, liefen
mir die jungen Leute nach, zumal ihre Mütter mich ihnen
lobten, ich würde eine gute Hausfrau werden. Aber was
für Leiden hatte ich, dass ich das andere
Geschlecht hatte, o wie schmerzlich war es mir.
wenn ich ein Liebespaar mit einander tändeln sah, wie neidisch
war ich auf jene Mädchen und bin es heute noch. Mein
Liebesideal waren stets starke männ-
liche Frauen, solchen gegenüber will ich
mich als Weib fühlen. Nur der Polizeiwillkür
halber trage ich ausser Hause die männliche Tracht. D i e
Unterröcke sind mir ein Heiligtum und
würde am liebsten ganz und gar die Frauentracht behalten,
wenn es auf der Strasse erlaubt wäre. Seit längerer Zeit habe
ich den Vorsatz, sobald ich eine sichere Stellung als Kinder-
frau oder ähnliches finde, sie anzunehmen, damit ich bestän-
dig und frei in weiblicher Toilette gehen kann. Ich bin jetzt
43 .Jahre alt und ledig, seit 6 Jahren aller Liebesumarmung
frei, öfters habe ich Träume als Weib,
von Kindbett und Kinderstillen, und freue
mich noch beim Erwachen, bis ich mich dann überzeuge, ob
es wirklich wahr ist und ich dann zu meinem Bedauern das
Gegenteil ausfinde. So, liebe Frauen, könnt Ihr Euch ein
Bild machen, wie unglücklich Euer Kind sich fühlt, wenn ihr
versucht seine Angeborenheit zu unterdrücken. Ein solcher
Knabe schämt sich nicht als Mädchen aufzutreten, im Gegen-
teil. er ist ja geistig ein Mädchen und will es auch sein. Ich
habe \üele Weibmänner gesprochen, die meisten hatten
w'enig Geschlechtstrieb und von Männerfreund-
schaften hatten sie keine Ahnung, solange sie sich in Gesell-
schaft von Frauen und Kindern bewegen konnten. Wenn sie
auch nicht in Frauenkleidung waren, so hatten sie doch die
Vorliebe für die w'eiblichen Sachen und wohnten lieber bei
einer Familie, wo Kinder waren. Wenn einmal volle Kleider-
freiheit aufkommen wird, so werden sich die Effeminierten der
weiblichen Gesellschaft anschliessen, grade so wie die Mann-
weiber sich dem sogenannten stärkeren Geschlecht zugesellen
103
werden; wenn der Modezwang nicht mehr besteht, so wächst
der AVeibmann ins weibliche hinein und wird von einem Mann-
weib angezogen, denn beide fühlen sich von Natur für einander
bestimmt, e r a 1 s AA^ e i b und sie als Mann und sie
werden so glücklich leben als die normalen Ehegatten von heute
Das gewöhnliche Weib reizt den Weib-
mann nicht und der männliche Mann zieht
das männische Weib nicht an. Viele Erauen
haben sich über mich gewundert, wenn sie durch Zufall mein
Geschlecht erfuhren, dass sie keine männlichen Eigenschaften
bei mir hatten sehen können; wie oft sagten sie dann; „Jo-
hanna, du hättest besser ein Mädchen abgegeben“. Alles, was
ich hier sage, gilt umgekehrt für Mädchen mit knabenartigen
Anlagen. Wie manche würde als Techniker, Erfinder oder
ähnliches grosses leisten wenn sie frei als Mann geduldet
würde, so wie sie es sein will. Beide würden ihr Geschlecht
vergessen und wären glücklich. Die Menschheit würde des-
wegen nicht aussterben, dafür sorgt schon die Natur genügend,
und zudem würde es vor mancher unglücklichen Ehe schützen,
denn ein AVeibmann ist ein schlechter Bettgemahl für eine
normale Frau und umgekehrt. Aber heiraten sich zwei, von
denen eins ein AA^eibmann und eins ein Mannweib ist, so ist
er der weibliche und sie der männliche Teil, und sie werden
glücklich sein; denn wenn auch das Geschlecht anders ist, i n
geistiger Beziehung sind sie ja doch vom
entgegengesetzten Geschlecht, so wie sie
die Natur begabt hat. Deshalb, liebe Mütter, warum nicht
dieses Thema in die öffentliche Diskussion bringen, handelt es
sich doch um das AA'ohl Eurer Kinder? Wenn einmal die
Menschen duldsamer und vernünftiger werden, wird mancher
Effeminierter und manche Alasculierte sich zu dem bekennen,
wozu sie geschaffen ist. Blickt nur einmal hinein in das
menschliche Leben, ihr werdet ausfinden, dass sich etwas so
Hineingeborenes nicht verdrängen lässt. Ist es doch auch ge-
schichtlich erwiesen, dass manche Weibmänner grosse Kinder-
erzieher waren und in vielen weiblichen Fächern gutes ge-
leistet haben. Bei so manchem ist sein wahres Geschlecht
nur durch Zufall oder Unglück entdeckt worden zum Erstaunen
104
der Umgebung, welche so etwas nicht ahnte. Ich selbst
bin vom 14. bis 2 0. .Jahr beständig als
Mädchen aufgetreten und später auch
noch sehr oft 6 Monate und länger und
wenn ich als Mann arbeitete, so war nach Feierabend der
Mann gleich wieder in ein Weib gekleidet und hatte keine
Ruhe ausser in den Unterrocken. Aber weil man sich schämt
vor Entdeckung und vor Polizei, so fügt man sich unter
Qualen diesen Gewaltmassregeln. Ich habe schon viel ge-
grübelt über männliche Vorteile und weibliche Nachteile, aber
am Ende wünschte ich stets ein Weib zu sein, selbst Mutter
wäre ich gern gewesen, und alle meine Träume sind als
Weib und Mutter. Deshalb, liebe Mütter, lasst euren Kindern
doch die Freiheit und stillt ihr Verlangen, sie werden es
euch danken; wenn sich beide nach ihrer Na-
tur bewegen können, so finden sie sich
als Paare zusammen und die gleichge-
schlechtliche Liebe verschwindet von
selbst mehr und mehr. Durch die heutige Unduld-
samkeit werden in Wirklichkeit sittliche Menschen in unmo-
ralische Handlungen hineingezogen, deshalb sollten alle mensch-
lichen Fragen und auch diese offen besprochen werden, damit
jeder über seine Natur aufgeklärt wird. Ueber die Homo-
sexuellen ist doch so viel geschrieben, über uns Effeminierte
aber fast garnichts. Schenkt doch diesem Thema, werte
Frauen, etwas Aufmerksamkeit, damit die nächste Generation
glücklicher werde als wir es sind.
Mit Gruss
John 0.“
Nachdem ich diesen Brief gelesen hatte, trat ich mit 0.
in schriftlichen Verkehr und fand meine Vermutung, dass es
sich um einen typischen Vertreter der hier behandelten
Gruppe handelt, vollauf bestätigt. Aus seinen recht ausführ-
lichen Mitteilungen, die vielfach dasselbe in immer neuen Wen-
dungen und Beleuchtungen wiederholen, extrahiere ich das Be-
merkenswerteste.
„Ich bin — so schreibt 0. — 1862 geboren. Mein Vater
war 10 oder mehr Jahre Tyroler Kaiserjäger, Hornist und
105
machte 59 und 66 mit. Drei Brüder sind kinderlos, meine
einzige Schwester hat zwei. Ein Bruder ist verheiratet mit
einer Norwegerin in Amerika, der andere lebt mit einer Witwe.
Von Mutterseite haben wir eine sehr grosse Verwandtschaft,
Grossvater zeugte 13 Kinder mit zwei Frauen, mit der ersten
3 und 10 mit der zweiten, die hochbejahrt 1886 starb. Gross-
vater starb 1873 an Lungenentzündung mit 63 Jahren. Alle
Tanten und Onkel von Mutterseite haben viele Kinder. Mein
Vater und meine Mutter waren beide in H., Vorarlberg, ge-
boren, BO auch wir. Vater starb 67 an der Auszehrung, er
soll viel getrunken haben. Mutter starb 1% Jahre später,
sie soll sich am kranken Vater angesteckt haben. Ich soll das
Ebenbild der Mutter sein. Wie ich später erfuhr habe ich noch
Mädchenkleider getragen, als mein 2 Jahre jüngerer Bruder
schon Hosen hatte. Mutter erzählte, ich hätte
keine Hosen haben wollen und mich so
sehr dagegen gewehrt, deshalb behielt ich die
Röcke; und da meine Schwester ein Jahr älter war, konnte
ich ihre Kleider auf tragen, bis Mutter 1868 starb. Die Tanten
zwangen mich dann zu Knabenkleidern, meine Schwester kam
zu einer Tante, welche mehrere Kilometer von uns entfernt
wohnte. Mutter soll sich vor meiner Geburt ein Mädchen ge-
wünscht haben. Grossvater hätte mir die Mädchenkleider ge-
lassen, wenn die Tanten nicht so sehr dagegen gewesen wären.
Der Arzt soll gesagt haben, ich werde ein fester Junge
werden. Ich erinnere mich aber ganz deut-
lich, ich wollte immer nur Mädchen sein,
und von Verwandten und Bekannten wurde ich mit Worten
wie „Madli“, „Mädchengesicht“ oder „Johanna“ geneckt. Auch
sollen manche gefragt haben, warum denn das Mädchen Kna-
benkleider trägt. Lange vorher freute ich mich schon auf
Fastnacht, indem es den Tag erlaubt war, als Mädchen her-
umzubummeln. Stets war ich, wenn ich meine Tante sich an-
kleiden sah, neidisch, dass ich nicht mich auch als Mädchen
kleiden konnte. Da Tante und Onkel viel frommer waren als
mein Grossvater und Vater, so brachten sie mich bald in
ein katholisches Waisenhaus zu den Barmherzigen Schwestern.
Nach einiger Zeit wurde ich dort der Liebling der Schwester
106
Oberin Joachima, sass oft auf ihrem Schoss. Sie küsste mich
viel und mir wurde vieles erlaubt, was andere Kinder nicht
durften. Auch war ich ausersehen alle Gänge zum Herrn
Pfarrer in den Ort zu machen, selbst in der- Nacht wurde ich
geweckt, um den Priester zu einem Sterbenden zu holen. Die
Oberin sagte, der Hansel führt alles am besten aus, ohne zu
fragen, behält auch alles für sich oder vergisst es nachher.
Meine Schwester hat mir später, als ich schon in Amerika
war, oft Grüsse von der Schwester Oberin geschrieben; sie
erinnere sich heute noch, dass ich ein so verständliches Kind
gewesen wäre und zu allem zu gebrauchen. Auch ich habe
mich im späteren Leben oft an die Oberin erinnert, mehr wie
an irgend jemand anders, und oft gedacht, dass jene Oberin
eine gute Mutter geworden wäre. Mädchenkleider
wollte sie mir aber nicht erlauben, im
Gegenteil sie redete mir diesen Gedanken stets aus und ar-
beitete darauf hin, dass ich nach Brixen in Tyrol ins bischöf-
liche Knabenseminar gehen sollte, aber ich wollte ins Lehrer-
seminar nach Bregenz, weil ich dachte später, wenn ich das
Lehrerseminar absolviert habe, würde ich als Gouver-
nante oder Kindererzieherin gehen. Ich
hatte schon damals fest vor, wenn ich
einmal selbständig werde, als Frau auf-
zutreten. Aber da ich einsah, dass mein Vormund das
väterliche Vermögen nicht anders hergeben würde, als wenn
ich nach Brixen ging, so sann ich auf Mittel, dies zu ver-
eiteln. Die Oberin erzählte mir immer, wie schön ich es als
Priester haben würde, wenn die Eltern aus dem Feg-
feuer erlöst werden, sobald ich einmal die erste heilige Messe
gelesen hätte und vieles mehr. Aber ich betete schon damals
nur deshalb, weil es die Oberin wünschte. Auch nahm mich
die Oberin oft mit, wenn sie in die anderen Orte ging, um die
dortigen Schwestern zu besuchen, ich war dort mit ihr immer
unter den barmherzigen Schwestern, die mich gut behandelten
und als Beispiel den Kindern vorstellten. Sonst war es
Sitte, dass das beste Mädchen als Be-
gl.eiterin mitkam. aber die Oberin zog
mich vor. Einmal nahm sie mich sogar mit ins Mutter-
107
haus bei Feldkirch, und ich hörte, als die dortige Oberin,
welche ihre Vorgesetzte war. sie fragte, warum sie denn einen
Knaben als Begleiter habe, sagte sie; ., Hochwürdige Schwester
Oberin, der Hansel ist das artigste, aufrichtigste und schweig-
samste Kind in meiner Obhut und ersetzt in vieler
Beziehung manches Mädchen." Da ich nun sah.
dass man mir das Lehrerstudium nicht gestattete, so ging
mir trotz der frommen Erziehung immer wieder der Gedanke
durch den Kopf, wie ich heimlich einen Mädchenanzug bei-
seite schaffen konnte, um in ihm fortzulaufen. Und als ich
nun bei einem reichen Gutsbesitzer, der viel Land, Kühe und
Alphütten besass, als allgemeiner Bursche eingetreten war,
stahl ich bei Gelegenheit einem Mädchen, deren Beschreibung
auf mich passte, den Heimatschein, zog ihre Sachen an und
verbrannte in der Nacht meine Knabenkleider. Alles Knaben-
artige liess ich in Voralberg und ging nach der Schweiz, so
dass die Verwandten von mir nichts wussten. Ich hatte Angst
zu schreiben und fürchtete auch, man könnte mich wieder
zwingen, als Knabe zu gehen. Ich arbeitete nun zuerst als
Kindermädchen und in der allgemeinen Hausarbeit, nebenbei
lernte ich in einer Stickerei. Die erste Meisterin gefiel mir
nicht, aber später bekam ich eine bessere und auch mehr Lohn.
Sie fand aber leider heraus, dass ich kein richtiges Mädchen
war, doch machte sie nicht viel davon, weil sie meinte, sie
hätte noch nie eine so gute Arbeiterin gehabt. Inzwischen
wurde ich stark und nicht übel, so dass mir die Jungen nach-
stellten. Die Meisterin gab mir manchen guten Rat, ich
folgte ihr und ging auch nicht mehr tanzen und abends in
Knabengesellschaften. Ich fühlte mich damals ganz als Mäd-
chen, nur wenn die Buben zu frech wurden, da fiel mir ein.
dass ich leider keines war. Am meisten freute ich
mich auf Sonntag, wo ich mit den Kin-
dern spazieren konnte im gestärkten
Unterrock, weisser Schürze und Häub-
chen, dann fühlte ich mich wie im Himmel-
reich; nur wenn mir ein schöner Mann freundlich nach-
blickte, ärgerte ich mich, dass ich keine besseren Brüste und
Hüften hatte. Wie manchmal, wenn ich ein Mädchen baden
108
sah, wünschte ich ihren Körperbau zu besitzen, hätte ihnen
gerne meinen dafür gelassen. Als ich noch religiös war, betete
ich, ,,Lieber Gott mache mich doch zum Mädchen". Mit 16^2
Jahren überwältigte mich ein Mann, jedoch ich wehrte mich,
er aber verschrie mich als Zwitter, so hatte ich keine Ruhe
mehr, ich musste in eine andere Gegend und zog nach Frank-
reich, wo ich in Luneville als Stickerin anfing. Ich hielt dort
Freundschaft mit einem Mädchen, die entgegengesetzt wie ich
war, nämlich männisch, und als sie in die Stickerei nach
St. Quentin ging, folgte ich ihr. Nicht lange darauf lockte
micb ein Sticker nach Paris, wo ich mehr verdienen würde.
Dort hatte ich Gelegenheit zuerst mit Frauen zusammen zu
kommen, die ndt anderen Frauen zusammen lebten in ehe-
artigem Bund, wie es eine in Frankreich ziemlich verbreitete
Sitte ist.
Da ich nun eine gute Arbeiterin auf Seide war, so ersuchten
manchmal Sticker meinem Arbeitgeber, mich ihnen für einige
Zeit abzutreten, da ihre Stickerinnen nicht so geschickt waren
als ich. So kam es einmal, dass ich gezwungen war mit einem
gleich alten Mädchen zusammen zu schlafen. Ich hatte stets
die Gewohnheit das Hemd so zwischen die Beine zu legen,
dass niemand meine Organe sehen konnte. Mitten in der Nacht
aber weckte mich meine Bettgenossin auf und sagte mir, dass
ich nicht richtig geschaffen sei. Ich schämte mich zuerst und
frug, wie sie das behaupten könne, sie sagte: „ich berühre
stets meine Schlafgenossinnen und fand so, dass du anders
bist“. Ich bat sie nichts zu verraten, sonst müsste ich so-
gleich verschwinden. Sie sagte, du brauchst dich nicht zu
schämen, es gibt noch andere Mädchen, die sind wie du, und
bat mich ich solle nichts sagen, dass sie mich berührt hätte.
Jedoch am Morgen liess sie mir keine Ruhe, ich sollte mich
ihr zeigen, sie könne mir vielleicht einen Rat geben; und
durch ihr vertrauliches Reden erlaubte ich ihr schliesslich,
mich zu untersuchen. Dieses Mädchen war die erste mit der
ich in geschlechtliche Beziehungen trat, wobei ich
succubus war. Ich hatte den sehnlichen Wunsch von
ihr Mutter zu werden. Sie heiratete aber bald wegen Geld,
wollte jedoch haben, ich sollte zu ihr ziehen. ' Aber ich merkte,
109
dass auch ihr Mann mir nicht abhold war, und so traute ich
dem Frieden nicht. Doch besuchte ich sie öfter; einmal war
der Mann allein zu Hause, er lud mich ein zu w'arten bis die
Frau käme, Hess mich viel trinken und plötzlich umfasste er
mich, wollte mich küssen und gewaltsam gebrauchen, wobei
er herausfand, dass ich kein Mädchen war. Da bedrohte er
mich mit der Polizei, wenn ich nicht die Gegend verlasse. Da
entschloss ich mich wieder als Mann zu gehen, und fand als
solcher Arbeit bei Claparede, St. Denis an der Seine, trug
aber die Mannestracht nur während der Arbeit, zu Hause
legte ich sofort die Frauengewänder an
und hielt mich von allem so fern wie möglich. Es gefiel mir
aber garnicht unter den Männern zu arbeiten, noch weniger
behagte mir die Kleidung und immer befürchtete ich noch,
dass der Mann meiner Freundin mich anzeigen würde. Der
Zufall gab es, dass ich dieser eines Abends begegnete, sie
drang in mich, doch wieder mit ihr zu leben, sie sei ihres
Mannes über, er wäre zu leidenschaftlich, auch hätte sie sich
die Ehe besser vorgestellt. Ihr Mann hätte ihr alles viel
schöner versprochen, sie sagte, ich solle doch ihre Freundin
werden, sie würde nie wieder mit einem anderen Mann Zu-
sammengehen. Ich wollte nicht, indem ich damals selbst an
mir zweifelte; wenn ich damals die Erfahrungen und Kenntnisse
gehabt hätte, die ich heute habe, ich hätte ihr die Frau er-
setzt. Damals aber betrachtete ich es als Schlechtigkeit, litt
sehr viel unter Selbstmordgedanken, und hatte keine Freude
mehr an einem Leben wie ich es führte. So verliess ich 1882
Frankreich und ging nach New York. Fand auch hier bald
Arbeit als Stickerin, wurde aber entdeckt und nahm dann
eine Stellung als Magd auf einem Bauerngut im Staate New
York an, denn ich dachte, ich würde dort unbehelligt leben
können. Die Bauern hatten damals grosse Not Mägde zu
bekommen. Eine Weile ging es auch ganz gut, aber eines
Tages wurde der Bauer in Abwesenheit seiner Frau zudring-
lich, ich fürchtete Entdeckung und als ich las, dass in Jersey-
City Stickerinnen gesucht wurden, verliess ich den Platz und
bekam in Jersey C. gute Arbeit. Damals kaufte ich mir die
modernste Damentoilette, so dass ich reizend aussah, gab
110
meine ganzen Ersparnisse dafür aus, denn ich dachte, hier
lange zu arbeiten und viel Geld zu verdienen; jedoch die
anderen Mädchen machten mir die Arbeit sauer, deshalb gab
ich sie auf. Einige Wochen konnte ich noch gut leben. In-
zwischen lernte ich einen Sticker kennen, der mich nicht aus
den Augen liess und mir überall nachging. In einer Sauf-
nacht fand er heraus, dass ich kein Mädchen war, ich
wollte nichts mit ihm zu tun haben, aber er liess nicht ‘locker
und der Trunk lieferte mich ihm aus; unter seiner Drohung
er würde der Polizei anzeigen, dass ich Maskerade treibe» er-
gab ich mich seinem Wüllen. Er trieb mit mir paedicatio
und fellatio und behandelte mich vollkommen als Frau, kaufte
mir sogar schöne Toiletten, so dass ich damals ganz kokett
war. Es ging einige Monate in denen ich mich je-
doch von Tag zu Tag elender und un-
glücklicher fühlte und eines Morgens packte ich
alles zusammen, verkaufte als er fort war alles, was W^ert
hatte, schickte meine Frauenkleider fort, zog mich als Mann
an und fuhr nach ^^lilwaukee. Hier arbeitete ich als Mann
auf einem Holzplatz, dann im Winter als Koch; da ich nun
aber doch viel lieber Frauensachen trug, ging ich im Früh-
jahr als Köchin nach Montana. Dort aber wieder verraten
machte ich mich nach S. Francisco auf, wo ich im Februar
1Ö85 eintraf und heute noch wohne. Bald nachdem ich dort
angekommen war, wurde der Frau, bei der ich wohnte und
boardete, ein Mädchen geboren. Jetzt begannen für mich
glückliche Stunden, indem ich das liebe kleine Wesen pflegen
und abwarten durfte. W’er war froher als ich, wenn die Frau
sagte: ,, Jenny — die weibliche Anrede war mir, wenn wir
allein waren, lieber — Rieh, und ich wollen ausgehen oder
gar verreisen, versehen sie das Kind“. Mit welcher Freude und
Sorgfalt nahm ich es aus seinem Bettchen, machte es sauber,
warf das nasse Zeug in die Wasch, zog es wieder an, herzte
und koste es und ging spielend mit ihm auf und ab. Ich
WTisste genau, wie es eine Mutter zu besorgen hatte und war
glücklich wenn die Frau mich lobte und meinte, ich wäre eine
gute Mutter geworden, ln den vier Jahren, wo
ich das Kind hatte und ihm alle freie
111
Zeit widmete, habe ich nur ein einziges
Mal geschlechtlichen Verkehr gehabt.
Ich dachte überhauptnicht daran, denn
das Kind war mir viel zu lieb. Lizzie hing
sehr an mir und wollte bald nur von mir bedient sein. So
wie sie aufwachte, rief sie meinen Namen. Der Vater war
sogar ärgerlich, weil sie mich viel lieber hatte, als ihn, und
dies auch aussprach. Das Kind wuchs mir ans Herz, als
wäre es mein eigen, und nie wieder habe ich ein Kind so lieb
haben können wie dieses. Und das war auch gut, denn als
Lizzie mit ihren Eltern fortzog, war ich ganz verzweifelt, so
gerne hatte ich es. Um den älteren Knaben gab ich nicht so
viel, tat allerdings auch für ihn alles, wenn die Mutter fort
war, küsste ihn aber viel seltener. Noch heute über-
lege ich mir oft, ob ich nicht meinen
Buchhandel auf geben und lieber als Kinds-
magd gehen soll. Die Erziehung und Pflege der
Kleinen ist mein höchstes, sie im Sinne von Eröbel, Pesta-
lozzi und anderen grossen Kinderlehrern heranzubilden meine
ganze Freude. Ich lese alles was ich über Kindererziehung be-
kommen kann und glaube bestimmt, wenn ich mich
der Kinderpflege ganz hätte hingeben
können, mein G e s c h 1 e c h t s s i n n überhaupt
abgestorben wäre. Allerdings habe ich bemerkt,
dass mir fremde Kinder nicht so lieb sind wie die, welche
zum Haus gehören. Inzwischen hatte ich in S. Francisco an-
gefangen als Kolporteur zu handeln, ich suchte mit Schund-
literatur die Tanzkeller auf, nebenbei mit sozialistischen
Schriften und nahm auch selbst an der Arbeiterbewegung teil,
da ich mich jetzt wieder ausserhalb der Wohnung als Mann
bewegte. Durch die Tanzmädchen bekam ich später auch am
Tage Arbeit, wie Reinigung ihrer Zimmer, musste ihnen auch
manchmal kochen und wurde mit ihnen sehr vertraut. Sie
gaben mir oft die Kleider, welche sie nicht mehr trugen, so
dass mich viele Besucher auch für eine Prostituierte hielten.
Damals trank ich auch viel, es war mir jetzt alles gleich,
durch die Gesellschaft gewöhnte ich mich an viel Schlechtes,
wovor ich allerdings im nüchternen Zustand Abscheu hatte.
112
Ich musste aber doch das Leben machen, und entsprach es
mir damals so noch am besten, denn die Tänzerinnen, unter
denen manche Gebildete waren, die einst in ihrer Heimat
bessere Tage gesehen hatten, nahmen mich so, wie ich nun
einmal von der Natur war. Schliesslich richtete ich mir mit
Hülfe von einigen dieser Mädchen eine Wohnung ein und wurde
ihre Logierfrau, kochte wenn sie ihre Freundinnen einluden
und machte nebenbei auch noch mein Geschäft als Kolporteur.
Nur als Solcher brauchte ich den Mann
zu spielen. Leicht hätte ich damals der Liebhaber von
einem dieser Mädchen werden können, aber ich hatte keine
Lust dazu und arbeitete lieber als dass ich mich von solchen
Mädchen ernähren liess. So bald ich nun Geld erspart hatte,
kaufte ich mir ein kleines Grundstück, baute mir ein Haus
und gab die Tanzmädchenarbeit ganz auf. In jener Zeit hatte
ich mich in ein Mädchen von männlichem Wesen sehr stark
verliebt, jedoch sie verstand mich nicht und ich konnte sie
wohl nicht richtig nehmen, kurz sie heiratete einen andern
und soll nie glücklich gewesen sein. In den 90er Jahren fing
ich dann an für deutsche Zeitungen zu reisen, bereiste Kali-
fornien. Oregon und Washington, alle drei Staaten abwech-
selnd und betrieb noch dabei in S. Francisco den Kolportage-
buchhandel. Ich hoffte, ich würde bei den Reisen meine
weibische Natur vergessen, aber vergebens, sie kam erst recht
zum Vorschein. Eigentlich glücklich fühlte
ich mich nur im Traum. Da träumte ich, „ich
wäre ein Mädchen und ein junger Mann stellte mir nach, den
ich auch liebte, ich dachte, wenn er sich doch an meine Seite
legen würde, aber als Mädchen hatte ich ein zurückhaltendes
Benehmen, doch mein Wehren war nur Schein“
und dann träumte ich wieder, „ich sei guter Hoffnung und
schämte mich nicht eine uneheliche Mutter zu werden, nur
der Gedanke beschäftigte mich, wird der Liebhaber mir auch
helfen das Kind zu ernähren? Die Mutterwehen setzten ein
und kaum w'ar das Kind geboren und gewaschen, so verküsste
ich es und liess meinen\ Schatz von der Geburt wissen und
als er an das Bett kam, streckte ich ihm das Kind entgegen,
worauf er mich küsste und ich vor Freude weinend fragte,
113
ob wir beide nun nicht auch das Kind erziehen könnten, ich
legte das Kleine dann an meine Brust und spielte mit ihm“;
noch wmnn ich erwachte suchte ich es neben mir, da
immer noch das Muttergefühl da war. Aber dann begriff ich
zu meinem Leid, dass es nur ein Traum war und beim Fühlen
meines Leibes merkte ich, dass ich eine Pollution gehabt
hatte. Ich aber fühlte mich sehr befriedigt und habe manch-
mal schon jahrelang keinen Verkehr gehabt, da mich diese
und ähnliche Träume, wie ich sie seit ungefähr 1881 oft hatte,
glücklich und zufrieden machten. Heute träume ich schon,
ich sei eine ältere Frau, die zehn und mehr Kinder um sich
hat, manchmal sind es auch Grosskinder und wir sprechen
über Handarbeiten, neue Moden, Schleier, Kindererziehung und
vieles andere, so dass ich mich im Traum ganz als Weib be-
tätige. 1904 habe ich in einigen Heirats-
zeitungen angezeigt, dass ein effemi-
nierter Mann eine männische Frau sucht ,
ich könnte kochen, nähen, waschen, bügeln etc. Ich bekam
viele Antworten, aber meistens waren es raffinierte Weiber,
denen es nur um das Geld zu tun war. Im März 1906 kam
eine entfernte Verwandte von mir zu Besuch aus Dakota, sie
verleitete mich zum Verkehr, aber es gelang nicht, so dass
sie mich nachher neckte ich wäre nichts wmrt. Sie war recht
weiblich, aber im Juni desselben Jahres wohnte in meiner
Nähe eine Amerikanerin mit starkem männlichem Charakter,
gut geschult, wir wurden befreundet und sprachen viel mit
einander. Ich liebte sie sehr und wäre gern ihr Weib ge-
wmrden, aber sie bot es mir nicht an und mich selbst anzu-
tragen bringe ich nicht fertig. Vom Weibe erwarte
ich den Angriff und die Reizung, doch muss es ein
energisches, starkes Weib sein, die mir imponiert
geistig und körperlich, auch ein ganz klein
wenig Schnurrbart habe ich bei ihr gern, ich würde sie auch
die Männertracht tragen lassen, so lange sie bei mir die Un-
terröcke duldet und will ganz und gar die Frauenrolle durch-
führen, wenn sie sich als Mann bewähren würde. In der weib-
lichen Garderobe bin ich ganz wie die Frauen; was andere
tragen, muss ich auch haben nur darf die weibliche Kleidung
Hl rschfeld, Die Transvestiten. 8
114
keinen männlichen Schnitt haben oder sonst männlichen An-
zügen ähnlich sein, mein Geschmack ist ganz weiblich. Ich
selbst glaube, ich hätte der Menschheit als Weib mehr ge-
nützt als ich es so konnte. Meine früheste Neigung war die
Kindererziehung und so lange ich unter Kindern war kamen
mir nie sinnliche Gedanken. Wie kann man denn behaupten,
alles das sei nur eine launische Einbildung, wenn man doch
die Neigung stets wieder vor sich hat, so sehr man sie auch
mit bester Absicht zurückzudrängen sucht. Ich bin jetzt 47
Jahre alt, in Oesterreich geboren, habe in der Schweiz und
in Frankreich gearbeitet, seit 25 Jahren in Amerika, seit
1885 in Kalifornien, bin für eine der grössten deutschen Zei-
tungen Milwaukees gereist und war stets überall ein will-
kommener Gast und kann in jedes Haus wieder eintreten, wo
ich einmal gewesen bin, bin noch nie eines Vergehens ange-
klagt gewiesen und heute noch ist es meine höchste Glück-
seligkeit ein neues Prinzesskleid, einen neuen Blumenhut und
Spitzenunterröcke zu tragen, auch Handarbeiten würde ich
noch gerne machen, habe aber keine Zeit mehr dazu und
wenn ich eine energische Männin als Frau fände, dann würde
ich ihr zu Liebe mich allen Arbeiten unterziehen wie sie nach
heutiger Ordnung der Frau zustehen, ohne mich zu scheuen,
im Gegenteil würde ich die höchste Wonne geniessen
als Weib zu leben wenn ich nur die verhassten Mannskleider
nicht mehr tragen brauchte. Heute trage ich auf meinem
Grundstück schon seit Jahren nur die Frauentracht, schreibe
auch dieses darin mit weissem Häubchen und weisser Schürze,
schmücke mein Schlafzimmer nach Frauenart und betritt
selten ein Mann mein Zimmer, denn ein Männer-
freund bin ich nicht. Frauengespräche befriedigen
mich mehr und gebildeten Frauen neige ich mich stets, i n -
dem ich solche als höherstehend be-
trachte.
Deshalb agitiere ich stets für Gleichberechtigung und
ich glaube, wenn einmal ganz und gar Freiheit wäre, manche
Frau besser die Waffen führte als der Effeminierte, der je-
doch anders seine Pflicht tun würde. Wenn sich die Effcmi-
nierten mehr offen bekennen würden, wäre es um ihre Sache
115
besser bestellt, warum sollen wir uns denn schämen! Ziemt
uns denn das Weibliche nacht besser als manchem gelehrten
Weibe? Ludwig Büchner „Am Sterbelager des Jahrhunderts''
S. 327 sagt: „Umgekehrt hat es zu keiner Zeit an Männern
gefehlt und fehlt es auch heute nicht, welche mehr Weib als
Mann sind und besser verdient hätten hinter dem Strick-
strumpf oder an den Spinnrocken zu sitzen.“ Ich kann es
nicht begreifen, dass sich die Wissenschaft nicht mit den Effe-
minierten abgibt, wo es doch etwas alltägliches und natür-
liches ist; und leider werden wir fälschlich auch noch oft für
Päder asten gehalten.“
Fall XIV.
Ein amerikanischer Journalist, 33 Jahre alt, schreibt: Von
frühester Jugend her hatte ich einen Drang, in weiblicher Klei-
dung zu erscheinen, und wenn immer sich eine Gelegenheit bot,
schaffte ich mir elegante Wäschestücke, seidene Unterröcke amd
was immer in der Mode war, an. Schon als Knabe
entwendete ich meiner Schwester Kleidungsstücke und trug
sie heimlich, bis ich später, als meine Mutter starb, in die
Lage kam, meinen Wünschen vollen Lauf zu lassen und so
kam ich bald in den Besitz einer Garderobe, die der der ele-
gantesten Modedame gleichkam. Obwohl tagsüber gezwungen,
als Mann zu erscheinen, trage ich doch unter dieser Kleidung
vollständige Damenunterwäsche, Korsett, durchbrochene
Strümpfe und was sonst noch einer Frau zukommt, selbst
ein Armband und Frauenlackstiefeletten mit zierlichen hohen
Hacken. Wenn es Abend wird, atme ich er-
leichtert auf, denn dann fällt die lästige
Maske und ich fühle mich ganz Weib. Einge-
hüllt in ein Tea Gown (Hauskleid) von eleganter Ausstattung
und rauschenden Seidenunterröcken bin ich befähigt, erst recht
meinen Liebhabereien^ daromter die Erforschung der Prähistorie,
einem ernsten Studium oder mit Routine Geschäften nachzu-
gehen. Ein Gefühl der Ruhe umfängt mich,
•? das mir bei Tag in männlicher Kleidung unmöglich ist. Ob-
8*
116
wohl völlig ein Weib, empfinde ich doch nicht das Bedürfnis,
mich einem Manne hinzugebeu. Wohl schmeichelt es mir,
wenn ich in Frauenkleidung Gefallen errege, aber irgend
welche Wünsche meinem eigenen Geschlecht gegenüber hege
ich nicht. Im Gegenteil. Trotz meiner ausgesprochenen
weibischen Gewohnheiten, heiratete ich eine Dame und bin
Vater eines kräftigen, schönen Mädchens, welches keine ' den
meinen im entferntesten ähnliche Neigungen hegt. Meine
Frau, eine energische, gebildete Dame,
wusste genau von meiner Leidenschaft, glaubte aber im Laufe
der Zeit mich davon abzubringen, was aber nicht gelang,
sondern ich gab mich zwar meinen ehelichen Pflichten, noch
mehr aber meinen Gewohnheiten hin. Einer angebotenen
Scheidung wich meine Frau aus und ist jetzt, soweit es ihr
möglich ist, einverstanden und gegenwärtig, wo ich diese
Zeilen schreibe, schwanger. Mein Habitus ist durchaus männ-
lich, mit Ausnahme des Beckens und der Waden, die
weibische Formen auf weisen. Resümee: Aenssere Erscheinung
männlich, wenn in Frauenkleidern vollständig die ent-
sprechende Figur, Taille 20 Zoll, Brust 34 Zoll, Figur hoch
176 cm, Gewicht 125 Pfund, Hände lang und schmal, Gefühl
Weib. Wenn in Männerkleidung ein gewisses Unbehagen.
Wenn ich eine elegante Frau oder Schauspielerin sehe, denke
ich, wie ich wohl in deren Kleidung aussehen würde. Ohr-
ringe, Perlen, Kollier und ähnlichen Schmuck habe ich in
Fülle und auf Bällen schwelge ich in dem Gedanken, mich in
Frauenkleidern zeigen zu dürfen. Wenn möglich, werde ich
männliche Kleidung vollständig ablegen.“*)
Fall XV.
Vor einer Reihe von Jahren wurde auf einem Bau im
Osten Berlins ein junger Anstreicher sistiert; es war gegen
ihn eine Anzeige von einem Manne eingegangen, der be-
nauptete, dass seine Gattin mit diesem Maler die Ehe breche.
Zur grossen Ueberraschung nicht am wenigsten des eifer-
•) Dieser Fall wurde bereits von Dr. Iwan Bloch im „Sexualleben unserer
Zeit“ publiziert.
117
süchtigen Ehemannes und seiner Frau ergab sich auf der
Polizei, dass der Verdächtige überhaupt nicht dem männ-
lichen, sondern dem weiblichen Geschlecht angehörte, worauf
dann ihre Entlassung erfolgte. Der Fall ging damals durch
die Berliner Zeitungen. Mein verstorbener Kollege Dr. med.
Lubowski in Charlottenburg, hatte diese Person in seiner
Praxis kennen gelernt, nahm an ihrem Geschick lebhaften
Anteil und führte sie mir zu. Leider entschwand sie nach
einigen Monaten wieder unseren Blicken. Ihren Erzählungen
und Aufzeichnungen, welche im Wesentlichen auf uns einen
durchaus glaubwürdigen Eindruck machten, von ihr unter
anderem auch durch ein Gruppenbild bestätigt wurden, das
sie als Matrose auf Deck eines Schiffes zeigt, entnehmen wir
folgendes:
Helene N. wurde im April 1880 zu Berlin geboren. Als
wir sie kennen lernten, war sie 27 Jahre. Ihr Vater war an
Blinddarmentzündung gestorben, ihre Mutter lebt und ist
gesund. Sie hat zwei Brüder, der ältere 29, der jüngere
25 Jahre alt, beide gesund und anscheinend normal. Als
Kind war sie sehr wild, beteiligte sich lebhaft an den
Indianer- und Soldatenspielen der Knaben. Wir lassen sie
nun selbst berichten: „Aus meiner Kinderzeit kann ich nicht
viel von Bedeutung mitteil en, nur dass ich immer
den einen sehnlichsten Wunsch hatte, dass
ich doch ein Junge wäre, ich habe meinem seligen
Vater oft Vorwürfe gemacht, dass ich kein Junge bin, aber
was kann der arme Mann dafür, meine lieben Eltern haben
sich ja mit mir die grösste und erdenklichste Mühe gegeben,
um aus mir ein sanftes ruhiges Wesen zu machen. Mit
14 Jahren schickten sie mich zu einem Pfarrer in Pension,
damit ich häuslich, wirtschaftlich, kurzum ein geduldiges
Schaf werden soll; es misslang aber gänzlich, da ich schon
nach einem Vierteljahr durch das Fenster verschwand. Nicht
etwa, dass ich irgend etwas verbrochen hätte, sondern weil
der Pfarrer die Keckheit gehabt hatte, mir eine Ohrfeige zu
geben und warum? Nim weil wir uns ein bischen lustig
machten und wenn er über Land war, tanzten. Freilich war
ich der Anstifter, wir waren nämlich neun Pensionärinnen
118
und sollten alle kuschen lernen, aber was hat solcher Land-
pfarrer für eine Ahnung von Berliner Blut, ich habe es ihm
auch deutlich genug gesagt, er solle sich zum Schlagen keinen
Berliner aussuchen, sondern seine Landpommeranzen nehmen.
So bin ich denn bei Xacht und Nebel zum Fenster heraus,
habe mich an der Dachrinne von der ersten Etage herunter-
gelassen, vorher hatte ich meine Sachen einem Müllerknecht
gegeben und nun fing mein Leben an, denn endlich war ich
frank und frei. Die Welt lag offen vor mir, ich dachte sie
mir ordentlich anzusehen und da mir meine Mäd-
chenkleidung unbequem war, zog ich mir
Männerkleider an. Mein sehnlichster Wunsch war er-
füllt, wenn auch nicht in dem l\Iasse wie mein Verlangen war,
aber es wusste doch niemand ausser mir, dass ich ein Mäd-
chen war. Zuerst zog ich in den Harz, von einem Ort zum
andern, habe mich schlecht und recht dimchgeschlagen, ver-
schiedene Arbeiten gemacht, was mir ]a zuerst etwas schwer
fiel; da ich aber gross und kräftig war, wurde ich es bald
gewöhnt. Schliesslich nahm ich eine Stelle in einem
Kohlenbergwerk an. Das bergmännische Leben ge-
fiel mir ganz gut, aber ich merkte bald, dass es für meine
Gesundheit doch ein gefährliches Arbeiten ist, deshalb musste
icb nach 6 Wochen .meine Beschäftigung niederlegen, was mir
sehr- leid tat, da ich gern ein bischen mehr vom Bergmanns-
leben erfahren hätte. Aber es ging nicht, da meine Kollegen
es sonst gewahr geworden wären, dass ich ein Weib bin,
denn ich fürchtete immer in der stickigen Luft einmal ohn-
mächtig zu werden, dann wäre es zu spät gewesen, dann
hätten sie wunder gedacht, was ich getan habe und mir
nicht geglaubt, dass ich nur aus Abenteuerlust als Mann
verkleidet ging. Dann wäre das schöne Leben vorbei ge-
wesen und es sollte doch erst anfangen. Von Mägdesprung
ging es nach Nordhausen, nachdem sämtliche Orte durchge-
walzt waren,, dort machte ich Station und arbeitete bei
einem Schlosser. Ich hatte zwar von diesem Hand-
werk keine Ahnung, aber Not bricht Eisen, ich gab mich
einfach für einen Schlosser aus, da gerade Saison und Nach-
frage nach Arbeitern war. Der Meister frug auch nicht nach
119
den Papieren und schickte mich zur Aushilfe mit auf Bauten;
ich fand mich sehr gut in allem zurecht und blieb 3 Monate
dort. Es passte mir nur nicht, dass ich mich meinen Kollegen
anschliessen und vieles mitmachen musste, auch mit tanzen
gehen sollte. Die anderen wunderten sich, dass ich mir keine
Braut wie sie, anschaffte und schliesslich halfen sie mir, dass
ich eine bekam. Es war ja ein ganz niedliches Mädchen, aber
im stillen dachte ich, was soll ich mit ihr anfangen, denn
ein Mädchen will doch auch einmal einen Kuss haben und
das getraute ich mir damals doch noch nicht. Es blieb
mir aber nichts übrig und nun kommt das Schlimmste; sie
fing nämlich vom Verloben an zu sprechen, da wusste ich.
hier hat deine letzte Stunde geschlagen, also kurz und gut,
ich verliess plötzlich meine sehr gut bezahlte Arbeit um weiter
zu wandern. Gewiss war es unrecht, dass ich das arme Mäd-
chen sitzen liess, aber es half doch nichts, heiraten hätte
ich sie doch nicht können und so ging ich w'eiter, bis ich
endlich nach Kassel kam. Ich hatte noch so viel Geld mir
einen ordentlichen Gasthof auszusuchen, bis ich etwas ge-
eignetes gefunden hatte. Zuerst bekam ich eine Stelle, auf
der ich mit einem Handwagen herumfahren musste, das gefiel
mir nicht, so arbeitete ich dort bloss 3 Wochen, dann ver-
suchte ich es als Hausdiener, hatte aber das Pech
mit einem anderen das Logis zu teilen, so dass auch hier
meines Bleibens nicht länger als einen Monat war; dann nahm
ich eine Stelle als Einseifer bei einem Friseur an, wo
ich 2 Monate blieb, länger hielt ich es nicht aus, denn meine
Hände waren durch die Feuchtigkeit ganz aufgesprungen. Als
ich sah, dass ich in Kassel kein Glück hatte, schrieb ich an
meine Mutter, dass ich nach Hause kommen würde, packte
meine sieben Sachen und verschwand, nachdem ich mir vor-
her meine weiblichen Kleider aus Ballenstedt schicken liess,
wo ich sie in Aufbewahrung gegeben hatte. Vor der Abreise
zog ich mir nun nach langer Zeit zum ersten Mal wieder
die Mädchenkleider an, da meine Eltern doch nichts wissen
sollten. Kaum aber war ich acht Tage zu Hause, da fing
ich an, mich wieder sehr zu langweilen. Ich quälte meine
Mutter, sie solle mich Maschinen- und Handplätten lernen
120
laßsen, was sie auch tat, denn sie dachte mich dadurch an
Berlin zu fesseln, da ich doch ihr einziges Mädchen war.
Aber als ich ausgelernt hatte, da kam mein Lehrmeister zu
mir und fragte, ob ich viel Geld verdienen wolle, ich könne
eine Stelle in Norwegen, annehmen. Wer war froher als ich,
da mir zu Hause beinahe schon die Decke auf den Kopf fiel,
also erklärte ich mich sofort bereit, fuhr noch an demselben
Abend vom Stettiner Bahnhof nach Warnemünde und von
dort mit dem Dampfer nach Schweden und weiter mit der
Bahn. Meine liebe Mutter und mein Vater waren nicht schlecht
erstaunt, als ich ihnen mitteilte, dass ich wieder abreisen
wollte, ich erzählte ihnen aber nicht, wohin ich wollte, da
sie mich sonst nicht fortgelassen hätten, auch war es gerade
14 Tage vor Weihnachten Was kümmerten mich aber alle
solche Rücksichten und Kleinigkeiten, es ging los. Als ich
nun so allein die Nacht durchfuhr war mir doch ein bischen
eigenartig zu Mute, aber das verging im Schlaf und als ich
am Morgen erwachte und wir dann in Warnemünde den
Dampfer bestiegen und ich das erste Mal das bewegte Meer
sah, war mir sehr wohl zu Mute. -Endlich langten wir in
Malmö an, wo Aufenthalt genug war, dass ich mich ein wenig
Umsehen konnte, da ich Geld genug hatte, denn mein Chef
hatte mir in Berlin 100 M. für die Reise gegeben. Als ich
nun aber in Christiania war, da merkte ich, dass es doch
nicht sc leicht war wie ich es mir gedacht hatte, denn ich
konnte kein Wort norwegisch; abgeholt hat mich auch nie-
mand, da mein zukünftiger Chef glaubte, ich würde erst später
eintreffen. Hätte ich nicht einen Brief gehabt, auf dem die
Adresse stand, ich wüsste nicht, was ich hätte machen sollen,
so zeigte ich dem Kutscher die Adresse und dann ging es
weiter, ach war dort ein Schnee und Eis, denn' es war gerade
mitten im Winter und ein norwegischer Winter ist nicht so
ohne. Also nun war ich junges Mädel Plättdirektrice
in Christiania, konnte mich mit niemandem verständigen und
da die meisten auch viel älter waren als ich und sich nichts
von mir gefallen lassen wollten, auch weil sie einem Aus-
länder gegenüber misstrauisch waren, so war es in den ersten
vier Wochen sehr schwer, aber dann lebte ich mich ein. Doch
121
war mir das Leben zu gebunden und da ich ganz gut Geld
verdient hatte, hielt ich es nicht länger als ein Jahr aus. Die
Wanderlust kam wieder über mich und ich fuhr nach Dront-
heim. Aber dort das Leben in einer Wäscherei wieder zu
beginnen, dazu fehlte mir die Neigung, also stracks Männer-
kleidung angezogen und nun los; zuerst sorgte ich für ein
gutes Logis, was ich auch schnell bekam, da man verhält-
nismässig als Herr viel willkommener ist wie als Dame. Dann
ging es auf die Suche nach einer Beschäftigung. Ich hatte
Glück und fand Arbeit bei einem Barbier, zuerst wieder als
Einseifer, ich war aber schon dreister und versuchte mich
auch mit Rasieren, es ging tadellos; dort blieb ich vier
Monate, da es mir in Trom.men sehr gut gefiel. Auch hatte
ich ein liebes ^lädchen zur Freundin, die Tochter des Ge-
fängniswärters, mit der ich die Zeit über viel verkehrte, denn
sie hatte mich gern und ich muss gestehen ich sie auch,
leider hatte aber unser beider Traum bald ein Ende, denn
eir Kollege war hinter mein Geheimnis gekommen und ver-
riet mich. Ich musste zu dem dortigen Polizeichef, der sich
sehr für die Sache interessierte, auch meine Freundin bekam
alles heraus, aber sie war mir nicht böse, wie ich zuerst ver-
mutete, sondern schloss sich nur noch fester an mich. Wir
sind sogar bis auf den heutigen Tag noch Freunde, auch
lernte ich nun ihre Eltern kennen, da mich der Polizeichef
dort unterbrachte. Er wollte mich gern als Detektiv be-
halten, was mir auch bei meinen späteren Wanderungen noch
öfter angeboten wurde. Aber alle Versprechungen nützten
nichts, es trieb mich weiter und so fuhr ich nach Randefjord,
einem trüben Nest, da hielt es mich nicht lange, dann weiter
nach Skien; blieb dort auch bloss 2 Monate, indem ich bei
einemi Geldschrankschlosser Arbeit fand, aber
das Transportieren der Schränke war mir ein bischen zu
schwer, die übrige Arbeit nicht. Ich ging nun nach Christian-
aund, dort hatte ich mehr Glück, bekam Arbeit in einer
mechanischen Werkstatt und blieb dort von Februar bis
Juli. Auch dort schaffte ich mir eine kleine Freundin an,
denn es steht ja scüon in der Bibel: es ist nicht gut, dass
der Mensch allein sei, auch hatte ich nicht Lust mit meinen
Kollegen umzugehen, denn es waren meist ältere verheiratete
Männer und die unverheirateten waren mir nicht sympathisch,
so dass es schon das Beste war, ich schloss mich wieder an
ein junges Mädchen an. Aber als nun der Sommer kam und
die Sonne immer so schön in die dumpfe Werkstatt hinein-
lachte, da hielt es mich nicht länger. Ich schnürte schnell
mein Bündel. Ich hatte schon immer viel von dem
Walfischfang gehört, schwärmte sehr davon und als
ich nun in der Zeitung las, dass junge tüchtige Burschen
für den Walfischfang gesucht wurden, machte ich mich auf
die Beine nach Arendal, dort meldete ich mich bei einem
Heuerbaas und kam auf einen Walfischfänger.
Ach was war das für ein elender Kasten! wir waren dort zu
acht Mann in einer Mannschaftskabine eingepfercht, aber es
half nichts, ich wollte doch den Walfischfang kennen lernen.
Am 26. Juli fuhren wir ab. Die Sonne schien so heiter in
Arendal, aber als wir 14 Tage unterwegs waren, da waren
wir im strengsten Winter, zur Abwechslung froren wir auch
einmal auf acht Tage im Eismeer fest; waschen und sauber
halten konnten wir uns wiegen der Kälte schon gar nicht mehr.
Endlich ging der Fang los, wir hatten Glück, brachten viele
Walfische zur Strecke und es wäre alles ganz gut und schön
gewesen, wenn uns bloss nicht die Läuse so gequält hätten.
Denn das kann ich sagen, ekeln darf man sich auf solchem
Walfischfänger nicht. Bald hatten wir kein frisches Fleisch
mehr und nun ging es auf die Renntierjagd; habe ich schon
einmal etwas schönes gegessen, so war es damals das Renn-
tierfleisch und der selbst geröstete Schinken, auch erlegte
unser Kapitän einen Eisbären; so wäre das Leben herrlich
gewesen, wenn es bloss nicht so kalt und so furchtbar
schmutzig gewesen wäre. Was ich in der Zeit ausgehalten
habe, ist nicht leicht zu beschreiben und dabei immer noch
die Angst, dass mein Geschlecht entdeckt würde. Im Früh-
jahr kamen wir wieder nach Hause. Da packte mich förm-
lich das Heimweh; da ich Geld hatte, schaffte ich mir alles
vollständig neu an und fuhr nach Deutschland. Natürlich be-
zahlte ich nicht, sondern arbeitete mich als Steward nach
Hamburg herüber, denn da ich nun einmal auf einem Schiff
123
gewesen war, wollte ich auch das ausnutzen und das Geld
sparen. So kam ich wieder nach Berlin, was brachte ich für
Erfahrungen mit, ich erzählte aber nicht viel, denn wenn
meine Eltern das alles gewusst hätten, sie hätten mich nicht
mehr fortgelassen. Aber wie der Mensch nun einmal ist, knapp
war ich vier Wochen zu Hause, da trieb mich schon die
Sehnsucht immer an “die Havel heraus, nach Schildhorn, das
Wasser zog mich furchtbar und ini Oktober hielt ich es gar-
nicht mehr aus, es drängte mich mit Gewalt fort. Ich suchte
einen Vermieter auf und vermietete mich nach London, wo-
hin ich freie Reise hatte, mich aber auf 2 .Jahre verpflichten
musste. Ich tat dies auch, hatte aber gleich den Gedanken,
mich dort so schnell wie möglich wieder frei zu machen. Die
Hauptsache war, dass ich fortkam, das andere würde sich
dann schon finden. Also zog ich frohen Muts von dannen,
kam auch wohl und munter nach Hamburg und von da nach
einer stürmischen Seefahrt nach London. Doch mm kommt
etwas, was ich in meinem Leben nicht vergessen werde, ich
traf dort, wo ich in Stellung gehen sollte, meine angeführte
Braut aus dem Harz, dieselbe der ich ausgerückt war, kurz
bevor ich mich mit ihr verloben sollte. Diese traf ich dort
als Frau des Hauses, trotz der Mädchenkleider erkannte sie
mich und so musste ich jetzt alles aufklären. Mit ihrem Ein-
verständnis lösten wir unseren Kontrakt und ich nahm eine
Stelle in einem englischen Badeort Skarbourough als Zimmer-
inspektrice an, wo ich die Saison über blieb. Ich hielt es
aber in den Frauenkleidern schon gar nicht mehr aus und
als ich eines Tages hörte, dass es in England ein Schiff
gäbe, dessen Personal nm* aus Frauen bestände und auch von
Frauen geführt wird, hielt es mich nicht länger. Ich dachte,
was die können kann ich schon lange, aber als Frau hatte
ich keine Lust und so fuhr ich denn wieder nach London,
schaffte mir Männerkleider an und richtete meine Gedanken
darauf, so bald als möglich in eine Steuermannsschule aufge-
nommen zu werden. Es gelang mir auch. Ich schlug mich recht
und schlecht das halbe Jahr durch, indem ich deutsche Stunden
gab und deutsche Korrespondenz schrieb, im April bestand
ich dann mein Examen und nun ging das Suchen nach einer
passenden Stelle los. Es bot sich auch bald eine solche auf
einem englischen Steamer als \derter Steuermann. Diese nahm
ich an und ging auf die Fahrt, welche über ein Jahr dauerte.
Zuerst nach Japan (Yokohama), von da nach Brasilien, (Rio
de Janeiro), von dort nach Nordamerika (St. Francisco) und
von da nach Hamburg, wo ich abmunsterte, da ich Sehnsucht
nach Hause bekam. Hamburg ist ein schönes Städtchen, aber
ich wünschte, ich hätte es damals nicht gesehen, denn da
lernte ich meinen Mann kennen und beging die grosse Dumm-
heit mich zu verheiraten. Zuerst ging alles ganz
schön und gut. Ich drückte die Wanderlust herunter, schon
um des Kindes wegen, aber als mein Mann leichtsinnig wurde,
gab ich meiner Mutter mein Kind und ging fort. Damit mich
mein Mann nicht finden sollte, schaffte ich mir wieder Männer-
kleidung an und da ich mich nicht mehr so stark fühlte als
Schlosser zu arbeiten, nahm ich mir das Malerhandwerk an,
von dem ich schon auf dem Schiff etwas gelernt hatte. Es
gelang mir auch ganz gut. Ich ging nach Frankfurt a. 0..
arbeitete dort 3 Monate, dann nach Küstrin, blieb dort
4 Monate, aber inzwischen war die Arbeit ausgegangen, weil
es zu kalt wurde. Da fing ich dann in Küstrin-Neustadt in einer
Kartoffelmehlfabrik zu arbeiten an, was schwer war, aber es
musste gehen, wenigstens den Winter durch. Im Frühjahr bekam
ich dort einen Gestellungsschein, da hätte wohl der Ober-
stabsarzt schöne Augen gemacht, wenn ich zur Stellung ge-
kommen wäre, so zog ich es vor, zu retirieren und steckte
mich schnell wieder in Frauenkleidern. Sonst hätte es wer
weiss was für Aufsehen gegeben, denn in solcher kleinen Stadt
sind die Leute etwas beschränkt, da können sie sich gar
nicht vorstellen, dass es so was auf der Welt gibt. Also fuhr
ich knall und fall nach Berlin, hielt es aber als so
lide Frau, die zu Hause wirtschaften
sollte, nicht aus. Ich mietete mir eine Wohnung und
suchte mir in Männerkleidern Arbeit als Maler. Fand aucti
welche, verdiente ganz gut, beging aber die Torheit mir
wieder eine Braut anzuschaffen und noch dazu fiel diesmal
meine Wahl auf eine verheiratete Frau, die von ihrem Mann
getrennt lebte und bei ihrer Mutter wohnte. Sechs Wochen
125
lang ging alles gut und schön, da eines Tages sind wir ge-
rade beim Tassadenstreichen und ich sitze ganz oben auf
dem Gerüst, da will mich der Kriminalbeamte holen; „nanu“,
sage ich, da ich das doch nicht gewohnt war und mir die
Polizei doch noch niemals etwas angetan hatte, ich war
mir doch auch nichts bewusst, ich „türmte“ also mit nach
nach dem Alexanderplatz, da sagte der Beamte zu mir: „Nun
Kleiner bekommst Du aber etwas heraus.“ Ich wurde immer
neugieriger und bekam endlich zu hören, dass ich auf Ehe-
bruch verklagt sei. Der Mann meiner sogenannten Braut war
eifersüchtig geworden und hatte mich angezeigt, dass ich mit
seiner Frau Ehebruch triebe, aber sie können mir glauben,
es war nicht wahr, denn ich wüsste wirklich nicht wie ich
es hätte anfangeu sollen, kurz ich war unschuldig und der
Mann musste mit einer langen Nase abziehen. Ich aber hatte
mich dadurch unnütz in meiner Arbeit versäumt und warf
sie nun ganz hin, da ich die Lust verloren hatte, fing aber
bald wieder in einer är-ztlichen Instrumenten-
f a b f i k an, wo ich eine Weile blieb, bis mir Berlin wieder
über wrirde und ich in die Welt ging. Zuerst machte ich
als reisender Maler ins Mecklenburgische, klapperte dort alles
ab und landete in Hamburg, wo ich dann z\ir Abwechselung
wieder Frauenkleider anzog, da eine Stewardess verlangt
wurde. Ich verheuerte mich als solche und machte erst die
Orientfahrt mit. Dann munsterte ich in Hamburg ab und ging
als Stewardess auf einen Westafrikaner, einen Wörmann-
dampfer, mit Endstation Duala; nach ein paar Reisen wieder
auf einen Ostafrikaner, der nach Zansibar fuhr. Dann hatte
ich keine Lust mehr, munsterte ab und fuhr nach Hause zu
meiner Mutter, wo ich mir fest vorgenommen hatte zu bleiben;
aber ich glaube, sie hätte mich anschmieden können, ich hätte
mich doch abgerissen und wäre wieder losgegangen.“
Status praesens: Helene N. ist mittelgross, die
Körperlinien sind namentlich an den Oberarmen und den
Oberschenkeln mehr abgeflacht als rund. Hände und Füsse
ziemlich kräftig, Schritte fest und schnell; Muskeln gut ent-
wickelt, Haut glatt, Brüste klein, Warzenhof gross und
dunkel. Aeussere Bildungsanomalien an den
126
Genitalien bestehen nicht, Bartflaum nicht vor-
handen. Das dunkelblonde dichte Haupthaar trägt sie kurz
und gescheitelt. Kehlkopf tritt nicht hervor, Stimme ein-
fach, nicht hoch. Sie raucht und trinkt ziemlich viel, ver-
trägt beides gut, ihr Charakter zeigt eine merkwürdige
Mischung von zähem Willen imd starker Unbeständigkeit;
sie liebt körperliche Arbeit und jede Art von Sport sehr.
Kleidung, die augenblicklich weiblich ist, zeichnet sich durch
Einfachheit aus. Jeder Schmuck, der ihr zuwider ist, fehlt.
Wenn sie in Männerk leidernist oder wenig-
stens männliche Mützen, Kragen, Unter-
wäsche und Stiefel trägt, fühlt sie sich
leicht, wohl und leistungsfähig, inFrauen-
kleidern beengt und unfrei. Eine besondere Vor-
liebe hatte sie für die blaue Farbe, was wohl mit ihrer Nei-
gung zum Seemannsberui zusammenhängt. Ihre Intelligenz
ist eine gute imd rege, auffallend sogar wenn man ihr ein-
faches Herkommen und ihre Erziehung in Betracht zieht. Auf
die Frage für welche bekanntere Persönlichkeit sie sich be-
sonders interessiert, antwortet sie prompt „Wagner“. Bezüg-
lich ihres Geschlechtslebens gibt sie an, dass ihr Trieb
zwischen beiden Geschlechtern gewechselt
habe; sexuelle Träume hätten sich allerdings auf Frauen
erstreckt, wobei sie dann ganz als Mann empfunden hätte.
Doch seien ihr Männer sexuell nicht -unsympatisch, i m
ganzen scheint ihr sexueller Betätigungs-
drang aher sehr gering zu sein, jedenfalls
tritt er ganz und gar zurück hinter dem
dringenden Wunsch Mann zu sein, als Mann
zu gehen und als Mann zu leben. Sie ist sich
dabei aber stets deutlich bewusst in Wirklichkeit Frau zu
sein. Ihre Kinder hat sie sehr lieb, auch ihren Gatten mochte
sie gut leiden, aber die Ehe selbst betrachtet sie für sich
als eine Fessel, sie hätte schon oft bereut, sich verheiratet
zu haben.
Die beiden folgenden Fälle sind in dem analytischen und
kritischen Teil dieses Buches nicht mitberücksichtigt, da ich
sie erst nach Beendigung derselben erhielt. Ihre Veröffent-
lichung erscheint mir aber um so angebrachter, als sie das
aus den Fällen I bis XV gewonnene Bild in frappanter Weise
bestätigen.
Fall XVI.
Ende August 09 suchte mich die Ehefrau des Schlossers
0. auf; sie wusste sich keinen Rat mehr, da ihr Mann, mit
dem sie sonst in glücklicher Ehe lebt, erklärt hatte, er würde
seinem Leben ein Ende bereiten, wenn er nicht seinen Wunsch,
in Frauenkleidern zu leben und zu arbeiten, verwirklichen
könne. Der etwa 24jährige Mann, der sich mir zunächst in
Männerkleidern vorstellte, machte einen sehr deprimierten Ein-
druck. Er ist offenbar vollkommen von dem Gedanken be-
herrscht, seinem inneren Weibempfinden einen äusseren Aus-
druck geben zu dürfen. Aus seiner Lebensbeschreibung, die
er auf meine Aufforderung anfertigte, sei das Wesentlichste
wiedergegeben.
„Ich vmrde am 10. März des Jahres 1881 zu K. in Ost-
preussen als uneheliches Kind der ehelichen Tochter
Marie D. des Arbeiters Johann D. geboren. Mein Grossvater,
bei dem ich aufwuchs, stand zu der Zeit in den 40er Jahren.
Seiner Ehe entsprossen 4 Kinder weiblichen Geschlechts, wovon
2, meine Mutter und noch eine Schwester, am Leben blieben.
Meine Grossmutter habe ich kaum gekannt; als ich 2 Jahre
alt war, ist sie gestorben. Nach Aussage meiner Mutter soll
ich ein sehr schwächliches Kind gewesen sein. Später habe
ich mich aber ganz gut entwickelt, soll mit 2 Jahren schon
alles gesprochen haben und schon früh allein gelaufen sein.
Ich soll sehr schönes Haar gehabt haben, welches meine
Mutter mir lang wachsen Hess, so dass es bis auf die Schulter
hing. Es soll auffallend hell gewesen sein. Selbst kann ich
mich darauf nicht besinnen, da ich nur bis zu meinem
4. Lebensjahre zurückdenken kann. Wie ich später von Be-
128
kannt-en gehört habe, soll Ich einen sehr mädchenhaften Ein-
druck gemacht haben, sodass Mutter mir deshalb die Haare
ganz kurz schneiden liess. Ferner soll Ich einen sehr auf-
geweckten Verstand für alles gezeigt, mich aber sehr gesträubt
haben, mit anderen Kindern meines Geschlechts zu spielen.
Ich soll dann scheu in irgend eine Ecke gelaufen sein, wo ich
stundenlang mit irgend einem Spielzeug für mich allein gesessen
habe. Soweit ich mich entsinnen kann, habe ich eine grosse
Furcht vor meiner Mutter gehabt; sie verstand es nicht,
mir Liebe zu sich einzuflössen. Da der Verdienst meines
Grossvaters nur ein geringer und er auch öfters krank ans
Haus gefesselt war, mag meine Mutter Sorgen und Kummer
genug gehabt haben, so dass sie mir nicht die Aufmerksam-
keit zu Teil werden lassen konnte, die sie anderenfalls für
mich aufgewendet hätte. Mein Grossvater mochte mich auch
nicht gut leiden, da ich nach seiner Aussprache die Schande
seiner Tochter und nur zum Unglück auf der Welt war. So
bin ich denn ohne rechte Liebe und Aufmerksamkeit aufge-
wachsen, was auch viel dazu beitragen mag, dass ich etwas
menschenscheu geworden bin und auch bis heute kein grosses
Zutrauen zu fremden Menschen gewinnen kann. Wunder und
Geistererscheinungen, überhaupt alles Uebersinnliche lässt
mich kalt, da ich daran nicht glaube und mir diesbezüglich
auch noch nichts begegnet ist, was meine Meinung ändern
könnte.
Ich bin auf dem Lande in sehr beschränkten Anschauungen
aufgewachsen. Zeitungen waren bei uns Luxusartikel, die
sich die unbemittelte Klasse nicht leisten konnte. Daher
kann ich es meiner Mutter auch nicht verdenken, die niemals
über die Grenzen ihrer Vaterstadt hinausgekommen war,
wenn sie von Dingen, die sich im Leben öfter abspielen, bis
auf den heutigen Tag kein Verständnis hat; denn wer ein-
mal in kleinen Anschauungen alt geworden ist, der kann sich
für Ungewöhnliches und Neues, welcher Art es sein mag,
nicht mehr erwärmen. Und wenn ich vor meine Mutter jetzt
in Frauenkleidung hintreten und ihr sagen würde: Nur so
fühle ich mich wohl! Ich will fortan nur als Weib leben,
so würde sie mir einfach antworten, dass ich reif für ein
129
Irrenhaus sei; ob sie mich dazu erzogen hätte, ihi’ solche
Schande zu machen u. dgl. m. Da würde alle Üeberzeugungs-
kunst nichts nützen und der beste Redner, der sonst Herzen
im Sturm erobert, würde hoffnungslos wieder abziehen müssen.
So tief sind die Vorurteile bei Leuten, die in ihrer Jugend
nicht die richtige Aufklärung erhalten haben, eingewurzelt.
Im April des Jahres 1887, im Alter von 6 Jahren, be-
gann für mich der Schulbesuch in der katholischen Knaben-
schule. Vor diesem ersten Tage habe ich mich gefürchtet,
aus welchem Grunde vermag ich nicht anzugeben. Ich weiss
nur, dass ich mich fürchterlich gesträubt habe und davon-
gelaufen wäre, wenn mich der Lehrer nicht mit Süssigkeiten
beschenkt hätte. Schon als Kind schwärmte ich sehr für
Süssigkeiten, was bis auf den heutigen Tag beigeblieben ist.
Ich hatte vor den anderen Knaben grosse Furcht. Allmählig
gewöhnte ich mich aber daran und da der Lehrer auch sehr nett
und freundlich zu mir war, so gefiel es mir schliesslich ganz
gut. Da ich für mein Alter ein sehr geweckter ■ .Junge war,
so kam ich über die ersten Anfangsgründe des A-B-C spielend
hinweg. Es waren im ganzen in der Schule 4 Klassen einge-
richtet, von welcher in jeder die Schüler 2 Jahre verblieben.
Leider aber wurden an uns Schüler keine zu grossen An-
forderungen gestellt und es tut mir heute noch leid, dass
mir in meiner Jugend nicht mehr zu lernen geboten wurde.
Ausser Lesen, Schreiben, Rechnen, biblische Geschichte und
etwas Geographie wurde in keinem anderen Fache unterrichtet.
Infolge meiner Auffassungsgabe blieb ich in jeder Klasse nur
ein Jahr, sodass ich mit 10 Jahren schon in die erste Klasse
aufrückte. Leider war dies für mich keine grosse Freude,
weil ich als kleiner Bursche viel von den grossen bald vier-
zehnjährigen Jungen zu leiden hatte. Ich wurde viel ver-
spottet wegen meines Charakters, des öfteren auch geprügelt,
was ich später dadurch verhinderte, dass ich gewissermassen
das Lexikon der übrigen Schüler wurde. Da ich ausser
schriftlichen Arbeiten überhaupt keine Schularbeiten zu machen
brauchte, so habe ich nur für andere gearbeitet, was mir mein
Leben erträglicher gestaltete. In dieser Zeit kam mir auch
das Bewusstsein, dass ich anders war, als die übrigen
Hirschfeld, Die Transvestiten. 9
130
Kameraden. Ich wusste es mir aber nicht zu erklären.
Meine unüberwindliche Abneigung für alle Knaben und deren
Gebühren liess mich zu der Ileberzeugung kommen, dass
ich nicht zu ihnen gehöre und ich hatte nie Lust, nach den
Schulstunden auf die Strasse zu gehen, sondern blieb lieber
zu Hause. Geschwister hatte ich damals keine und so war
ich auf mich allein angewiesen. Dies war meiner Mutter
sehr recht. Sie beschäftigte mich dann mit häuslichen Ar-
beiten, ging halbe Tage lang fort, wobei sie mich jedoch ein-
schloss mit dem Bemerken, dass niemand zu mir hereinkommen
solle.
Schon damals hatte ich eine grosse Vorliebe für die
Kleider meiner Mutter und eine grosse Sehnsucht in mir,
dieselben zu besitzen. Darum kam mir das Alleinsein sehr
gelegen. Sobald meine Mutter fort war, hatte ich flugs deren
Rock und Bluse angezogen. Auch eine Schürze durfte nicht
fehlen, imd so geschmückt machte ich mich über die auf-
getragenen Arbeiten her und fühlte mich glückselig. Leider
musste ich mich vor meiner Mutter in Acht nehmen. Da sie
sehr streng war, hatte ich Furcht, da ich Schläge bekommen
hätte, wenn sie mich so erblickte. Zu fragen getraute ich
mich auch nicht; denn ich wusste nicht, wie ich mich aus-
drücken sollte, und schliesslich hätte sie mich auch nicht
verstanden. Nebenbei will ich noch bemerken, dass meine
Mutter ihre Kleider meist selbst angefertigt hat und da es
ihr an einer Büste, wie die Schneiderinnen haben, fehlte, hat
sie alles auf mir zusammengesteckt und -geheftet.
Später zogen wir zur Stadt. Hier hatte ich nun Ge-
legenheit, mit mehr Kindern zusammen zu kommen, was zur
Folge hatte, dass ich mir nur Mädchen zum Spielen suchte,
die mich auch ganz gerne leiden mochten. Da fragte ich
mich denn oft, warum die Mädchen andere Kleider trugen
wie ich. Und da ich für Röcke mehr Geschmack hatte als
für meine Hosen, so war ich höchst imglücklich darüber,
dass ich keine Röcke tragen durfte. Einmal wagte ich doch,
meine Mutter zu fragen, ob ich nicht auch Röcke trageu
dürfe wie die Mädchen, worauf ich die barsche Antwort be-
kam, ich sei ein Junge und solle nicht solche dumme Reden
131
führen. Damit musste ich mich begnügen und wagte mich mit
dieser Frage an Niemand wieder heran. Mein häufiges Zu-
sammensein und Spielen mit Mädchen fiel bald auf und trug
mir viel Spott und komische Bemerkungen ein. Auch ein
Spottname wurde mir beigelegt; nämlich Mädchenvater.
Ach, wie gerne hätte ich mich verspotten lassen, wenn ich
nur meine geliebten Röcke bekommen hätte. So fühlte ich
mich aber höchst unglücklich. Wenn ich alle Arbeiten, die
mir aufgetragen waren, erledigt hatte, blieb mir noch viel
freie Zeit. Da mir der Umgang mit Mädchen sehr verleidet
wurde, so suchte ich mir Bücher zu verschaffen. Um mein
Tun bekümmerte sich niemand und so wurde das Lesen bald
zu einer Leidenschaft bei mir, sodass ich alles mit einem
wahren Heisshunger verschlang, was mir nur unter die Hände
kam. Grösstenteils waren es Indianergeschichten und Schauer-
romane, die ich mit Vorliebe las. U. a. kam mir auch ein Buch
in die Hände, dessen Verfasser und Titel ich nicht mehr
weiss, doch der Inhalt wird mir unvergesslich bleiben. Es
handelte von einem Manne, der wegen eines Vergehens mit
Gefängnis bestraft wurde, dann aber floh und, um nicht ge-
kannt zu werden, sich Frauenkleider verschaffte, die er bis
zu seinem Tode getragen hat. Dieser Mann wurde nun mein
Ideal und mit einer glücklichen Phantasie malte ich mir
Bilder aus, in denen ich ihn nachahmte. So vergingen die
Jahre und mein ganzes Sinnen und Trachten ging dahin, wie
ich mir später Röcke verschaffen könnte, um als Mädchen
zu leben. Mittlererweile wurde ich 12 Jahre alt und da ich
von gesittetem Benehmen war, ausersehen, den katholischen
Priestern zur Messe zu dienen. Hier muss ich einschalten,
dass ich die katholischen Priester wegen ihrer Kleidung als
Frauen betrachtete. Ich schwärmte dafür, auch ein Priester
zu werden, da ich dann öffentlich solche langen Talare und
darunter die schönsten Spitzenunterröcke tragen dürfte; denn
der Talar würde alles verdecken.
So w’urden meine Gedanken hin- und hergeworfen, nur in
dem einen gipfelnd, wie ich mir auf die eine oder andere Art
Röcke verschaffen könnte. Als ich 14 Jahre alt geworden,
wurde ich aus der Schule entlassen. Es trat jetzt die Frage
9*
an mich heran, welchen Beruf ich ergreifen sollte. Ich hatte
grosse Lust zur Schneiderei, weil ich mir sagte, da kannst
du immer in Röcken gehen, da man für sich alleine arbeiten
kann, ohne mit vielen Menschen in Berührung zu kommen.
Aber meine Mutter hatte anderes mit mir im Sinn. Da wir
oft mit des Lebens Sorge und um das tägliche Brot zu
kämpfen hatten, so sah meine Mutter nur auf Gelderwerb
und hat mir sehr viel vorgeredet, das Schlosserhandwerk zu
erlernen, da ich dann viel Geld verdiene und schon als Lehr-
junge welches bekomme. Ich wars schliesslich zufrieden, aber
nur weil ich hoffte, mir später für mein verdientes Geld Röcke
zu kaufen, um als Frau leben zu können. So kam ich denn
in eine Fabrik, wo ich 4 Jahre lernen musste. Im ersten
Lehrjahre bekam ich 3. — , im zweiten 4. — , im dritten 5. —
und im Gerten 6. — M. pro Woche. Das Geld kam meiner
Mutter in der Wirtschaft gut zu statten.
Das erste Lehrjahr verlief ohne Störungen, da mir nichts
weiter übrig blieb, als mich dem Zwange zu fügen. Die Ar-
beit fiel mir sehr schwer. Wir waren im ganzen etwa 16 Lehr-
linge. Ich war der jüngste und schwächste unter ihnen und
hatte Gel von den anderen zu leiden. Da die Arbeit früh
morgens um 6 Uhr begann und bis abends ^ 7 Uhr dauerte,
musste ich schon um 5 Uhr aufstehen. Davon ging eine
halbe Stunde Frühstück, eine Stunde Mittag und eine halbe
Stunde Xachmittagkaffee ab. Mithin verblieben 11 Stunden
Arbeitszeit. Da ich gut begriff, lernte ich leicht, fühlte mich
aber in dieser Zeit sehr unglücklich. Ich war des Abends
immer sehr müde und schlief deshalb meistens gleich ein, so-
bald ich mich zu Bett gelegt hatte. Ich träumte dann oft,
ich wäre in einem schönen Hause mit vielen Mädchen zu-
sammen und hätte die schönsten Kleider an,
würde mit einem Mädchennamen gerufen
und von einer fremden Frau sehr lieb be-
handelt. Leider weckte mich aus diesen Träumen Gel zu
früh die Stimme meiner Mutter, die mich zur Arbeit rief.
Ich war dann oft ganz verstört und wusste nicht, wo ich
mich befand. Auch litt ich schon während meiner Kindheit
an einer Art von Ohnmachtsanfällen, die während meiner
Lehrzeit sehr häufig auftraten. Sobald ich aufgestanden war,
fühlte ich einen Schwindel, sodass ich mich sofort setzen
musste, um nicht hinzufallen. Ich legte mich dann hin und
mir schwand das Bewusstsein. So lag ich dann manchmal
bis 20 Minuten. Meine Mutter war das schon gewöhnt; wenn
sie dann hereinkam und mich so liegend fand, holte sie
Essig, rieb mir die Schläfe ein, wonach ich dann aufwachte,
mich anzog und zur Arbeit ging. Ich fühlte mich aber den
ganzen Tag nicht richtig wohl. Einen Arzt hat meine Mutter
nie zu Kate gezogen, weil sie kein Geld dafür übrig hatte.
In dieser Zeit kam mir einmal ein Stück Zeitung in die
Hände, in der ein kleiner Artikel stand, dass in der benach-
barten Stadt A. eines Tages eine Frau gesehen worden sei,
die einen langen Vollbart trug. Wie es sich dann heraus-
stellte, war es ein Mann, dem es wegen eines Bruchleidens er-
laubt war, Röcke zu tragen. Von dem Tage ab hatte ich
keine Ruhe mehr. Ich wollte den Mann sehen und eines
Tages war ich verschwunden; es war gerade ein Sonntag.
Ohne einen Pfennig Geld, nur mit einer Stulle versehen,
machte ich mich auf den Weg nach A. Leider kam ich nicht
so weit; denn als ich die erste Nacht im Freien zugebracht
hatte, fing mich der Hunger an zu plagen und da auch die
Füsse wund geworden waren, war ich ganz verzweifelt. So
fand mich ein Bauer, nahm mich mit in sein Haus, gab mir
zu essen und zu trinken und da er gerade in meiner Heimat-
stadt zu tun hatte, nahm er mich mit und lieferte mich bei
meiner Mutter ab. Ich war ein paar Tage zu Hause bis
meine Füsse gesund waren, dann ging es wieder zur Fabrik.
Dort wurde ich gerade nicht sehr freundlich empfangen.
Ausser ein paar Ohrfeigen erhielt ich eine Masse Scheltworte
und musste dann wieder an die verhasste Arbeit. Meine
Mutter trug mir dieses auch sehr nach, sie war in dieser
Zeit überhaupt sehr erregbar, da sie bald darauf von einem
Mädchen, ebenfalls ausser der Ehe, entbunden wurde. Ich habe
mich viel mit meiner kleinen Schwester abgegeben, sie ver-
wartet und trocken gelegt, was ich immer sehr gerne tat.
Dabei bemerkte ich auch, dass meine Schwester anders ge-
baut war wie ich und erhielt von meiner Mutter die Er-
134
klärung, das sei ein Mädchen. Da hai>e ich dann oft im
Stillen meine Geschlechtsteile weggewünscht, weil sie das ein-
zige Hindernis waren, dass ich keine Röcke tragen durfte.
Meine Schwester wurde von meiner Mutter abgöttisch geliebt.
Ich dagegen fühlte eine kleine Abneigung gegen sie, weil sie
ein Mädchen war und meine Mutter sie lieber hatte als wie
mich, was sich aber mit der Zeit legte. So kam allmäh-
lich das Ende meiner Lehrzeit heran.
Mit 18 Jahren wurde ich Schlosser geselle. Weil ich ein
geschickter Arbeiter war, behielt mich mein Chef sehr gern
und ich verdiente 12 Alark pro Woche, was nach den
dortigen Lohnsätzen und als eben ausgelernter Geselle ein
sehr guter Verdienst war. Da ich meinen ganzen Verdienst
abgeben musste und meine Mutter mir ein kleines Taschen-
geld bewilligte, so dauerte es ziemlich lange, bis ich so viel
zusammen hatte, um reisen zu können. Da ich nun aber,
wie schou erwähnt, viel gelesen hatte, wollte ich in andere
Länder reisen, vielleicht dass es mir da glückte, mir R.öcke
zu verschaffen. Und so fuhr ich denn eines Tages nach
Berlin. Ich bekam hier auch bald Arbeit und einen Lohn,
den ich mir nie hatte träumen lassen, nämlich 24 Mark pro
Woche. Jetzt dachte ich, könnte ich mir alles kaufen, was
ich möchte. Die Eindrücke von Berlin w'aren auf meine Natur
zu gross, um vieles gründlich zu sehen und zu lernen, schliess-
lich geriet ich in schlechte Hände von Leuten, die mich
durch Leichtsinn um meinen ganzen Verdienst brachten. Damals
kam ich oft mit Seeleuten zusammen, wenigstens gaben sich
viele dafür aus, und die Bilder, die sie mir vormalten, übten
auf meinen Geist eine grosse Wirkung aus. Ich beschloss,
ebenfalls zur See zu gehen. Auch reizte mich das viele Geld,
was ich da verdienen würde. Ich fuhr nach Bremerhaven und
wurde als Kohlenzieher an Bord des Schnelldampfers Kaiser
Wilhelm der Grosse geniunstcrt. Die Reise ging nach New-
York. Unterwegs wurde ich seekrank und wünschte zu
sterben. Ich wurde aber bald nachdem wir in den Hafen
kamen, gesund. Dort überredeten mich mehrere von meinen
Kameraden, zu entfliehen und in Amerika zu bleiben.' Ich
bekam von New-York aus eine Stellung als Donkeymann
135
auf einem Segelschiff nach Westindien. Hier war ich ca. vier-
zehn Monate an Bord, wo ich auch kochen lernte. Ueber-
haupt gefiel es mir. dass man an Bord viele Arbeiten
verrichten muss, die an Land nur die Frauen machen. Da
ich mich durch meine Veranlagung zu solchen Arbeiten hin-
gezogen fühle, so habe ich oft manche Arbeit für meine
Kollegen verrichtet, die dazu keine Lust hatten. Auf die
Dauer aber sagte mir dies Leben nicht zu; denn die Sehn-
sucht nach Frauenkleiderii wurde in mir immer stärker. Ich
beschloss daher, sobald ich an Land käme, mir Röcke zu
kaufen und als Frau zu gehen. Leider bin ich aber nicht
dazu gekommen. Da ich sehr gutmütig bin, fand ich immer
Freunde, die mich auf die eine oder andere Art um mein
Geld brachten. Auf meinen Reisen kam ich auch nach San
Franzisko und hier habe ich auch den ersten Mann in Frauen-
kleidern gesehen. Wenigstens wurde mir bedeutet, es sei ein
Mann. Ich bin nicht dazu gekommen, mit ihm zu sprechen.
Wie gern hätte ich mich ihm angeschlossen, um von ihm zu
erfahren, wie man es anstellen müsse, um Röcke tragen zu
dürfen.
Im Jahre 1902 kam ich nach Deutschland zurück und
wurde sogleich zum Militär ausgehoben. Trotzdem ich über-
haupt keine Lust verspürte Soldat zu werden, musste ich
dienen, und da ich zur See gewesen, kam ich zur Marine
und zwar als Heizer zu der Torpedo-Division. Im allgemeinen
war meine Führung gut, nur konnte ich mich für die mili-
tärische Disziplin nicht recht begeistern, was mir einige
Strafen wegen Widersetzlichkeit eintrug. Wie beneidete ich
da die Frauen, die Röcke tragen durften und wie oft habe
ich mein Schicksal verwünscht, dass ich als Mann auf die
Welt gekommen bin. 1905 wurde ich entlassen und kam nach
Berlin. Ich bekam auch bald Arbeit bei einem Schloseer-
meister. Da mir aber immer keine Gelegenheit kam, Röcke
zu tragen, ich auch keine Freude an Vergnügungen hatte,
trug ich mich viel mit Selbstmordgedanken. Dieselben kamen
jedoch nie zur Ausführung, da ich den Gedanken nicht los
werden konnte, mich schliesslich unnötig tot zu machen,
denn es könnte doch noch einmal kommen, dass ich Röcke
136
tragen dürfte. Wenn ich den definitiven Besdieid bekäme,
dass mir niemals das Glück, Röcke zu tragen, zuteil werden
dürfe, so würde ich mein Leben unbedingt von mir werfen,
weil es dann für mich absolut keinen Wert mehr hat. Dieses
soll nicht etwa eine Drohung sein, wie mancher meinen würde,
sondern es ist mein vollständiger Ernst. Ohne Röcke
ist mir das Leben vollständig vergällt!
Die weibliche Kleidung ist bei mir die Hauptsache. Das
Leben hat allen Reiz für mich verloren, wenn ich keine
Röcke tragen darf. Ich würde mich vor Glück kaum zu
fassen wissen, wenn mir dieser einzige Wunsch, den ich habe,
erfüllt würde. Obgleich ich ganz gerne Schmuck haben
möchte, bevorzuge ich ganz einfache Kleidung, wie sie jede
anständige Frau heutzutage trägt.
Ich kam zu dem Entschluss, mich zu verheiraten. Ich
dachte, hast du eine Frau, kann es vielleicht anders werden.
Da ich keine Vergnügungen aufsuchte, sah ich mich genötigt, von
der Zeitung Gebrauch zu machen. Die Antworten, die ich
bekam, sagten mir aber nicht zu. Da lernte ich durch einen
Bekannten meine Frau kennen. Wir sahen uns öfter und
ich fasste eine grosse Zuneigung zu ihr, sodass ich beschloss,
sie zu heiraten. Sie war damit einverstanden und im April
1906 gingen wir die Ehe ein. Anfangs getraute ich mich
nicht, meiner Frau zu sagen, was mich stets bedrückte, aber
da sie einen guten Charakter besitzt, ich mir auch meinen
Pflichten als Ehemann bewusst bin und ihnen nachkomme,
so enthüllte ich ihr eines Tages mein ganzes Leben. Sie war
zwar sehr erstaunt darüber, aber schliesslich gewillt, mich
meine Röcke tragen zu lassen. Auch wollte sie nach besten
Kräften mir dazu verhelfen. Meine Frau liebe ich mit ganzem
Herzen, da sie das einzige Wesen ist, das nur Liebe ent-
gegenbringt, wie sie mir noch von keiner Seite zuteil wurde.
Ganz ausgeschlossen ist die Liebe von
oder zu einer männlichen Person.
Der Geschlechtstrieb ist bei mir nicht so gross; wenn
ich keine Röcke anhabe, verspüre ich jetzt überhaupt keinen
mehr. Ich verkehre nur auf Verlangen mit meiner Frau alle
6 bis 8 Wochen einmal. Sonst leben wir sehr zufrieden, auch
137
hat es meine Frau sehr gut bei mir; denn ich besorge fast
alle häuslichen Arbeiten. Meine Frau gebar auch ein Kind
männlichen Geschlechts, das aber nach Aussage der Aerzte
nicht lebensfähig war
Leider hat mich meine weibliche Veranlagung auch oft
in pekuniäre Verlegenheiten gebracht. Da die Sucht nach
Röcken in mir sehr gross ist, nützt es fast garnichts, wenn
ich mich nach des Tages Arbeit anziehen kann. Ich kann
in letzter Zeit ohne Unterrock nicht mehr einschlafen und
wenn ich dann morgens aufstehe und zur Arbeit gehen soll,
so ist es mir oft unmöglich, den Unterrock auszuzieheii. Es
ist eine Gewalt in mir, der ich nicht widerstehen kann.
Dieses stete Ankämpfen gegen eine Gewalt hat meine Nerven
schon sehr zerrüttet. Da ich nur auf den Verdienst von
meiner Hände Arbeit angewiesen bin, so muss ich mich mit
grosser Gewalt beherrschen und zur Arbeit gehen. Dann
kommt es plötzlich wie ein Sturm über mich, meinen Nerven
versagt die Kraft und ich muss meine Arbeit versäumen und
zu Hause bleiben, was mir sehr oft den Verlust der Arbeit
gekostet hat, da bei den heutigen Arbeitsverhältnissen ge-
nug Kräfte vorhanden sind. Und so haben wir dann oft mit
bittrer Not zu kämpfen, da Arbeitsuchen auch für den ge-
schicktesten Arbeiter heutzutage immer lange dauert. Wie
gerne wollte ich die schwersten Arbeiten verrichten, ja i c h
könnte Tag und Nacht arbeiten, wenn ich
mich nicht von meinen geliebten Röcken
zu trennen brauchte. Da ich nun, wenn ich arbeite,
ganz gutes Geld verdiene, aber kein Trinker bin und nur
etwas rauche, so kaufe ich mir oft recht schöne Sachen. Ich
gebe leichter 1 oder 2 Mark für eine Schürze aus, als wie
10 oder 20 Pfennige für ein Glas Bier. Aber was nützen
mir alle schönen Kleider, wenn ich sie nicht tragen darf!
Wenn ich permanent Röcke tragen dürfte und mich äusser-
lich durch die Kleider vor anderen Frauen nicht zurückgesetzt
zu fühlen brauchte, würde mein ganzes Leben eine heitere
Wendung nehmen.
Möchte sich doch der liebe Gott erbarmen und mir zu
Röcken verhelfen oder mich aus diesem Leben abrufen, denn
138
ich fühle es, wenn mir nicht geholfen wird, gehe ich daran
zu Grunde.“
0. ist ca. 1,78 gross, schlank, wiegt 136 Pfund, mittel-
kräftig, Muskulatur weich, Haut rein, Hände und Füsse klein
und zierlicher als dem Körperbau entspricht. Bartwuchs an-
geblich gering; er trägt keinen Bart, das blonde Haupthaar
ist sehr weich. Der Gesichtsausdruck ist nicht ausgesprochen
männlich, aber auch nicht auffallend feminin. Als er mich
ein zweites Mal in seiner weiblichen Kleidung aufsuchte, machte
er vollkommen den Eindruck einer gut bürgerlich gekleideten
Frau. Seine ihn begleitende Ehefrau, die in rührender Weise
an ihm hängt, sieht allerdings viel einfacher als er selber
aus. Er ist den fast einstündigen weiten Weg in der elek-
trischen Bahn zu mir gekommen, ohne dass er irgend welches
Aufsehen erregt hätte.
Fall XVIi.
Der folgende Fall gelangte erst zu meiner Kenntnis,
nachdem dieses Buch nahezu vollendet war. Der Herr hatte
sich im Oktober 09 an Kollege J. Bloch mit einem Brief ge-
wandt. in dem er ihm unter Bezug auf den in seinem „Sexual-
leben unserer Zeit“ veröffentlichten Fall (XIV dieser Kasu-
istik) u. a. Folgendes schreibt;
-Bislang glaubte ich, meinen Zustand als einen durchaus
akzessorischen, krankhaften ansehen zu sollen, der also mit
Willenstherapie heilbar sein müsste. Wenn ich es nun auf
diesem Wege unter starkem Aufgebot von Energie, die ich
damit ” von anderer Betätigung absorbierte, dahin gebracht
habe, für längere oder kürzere Zeit mich von dem Verlangen,
meiner inneren Empfindung durch weibliche Bekleidung kon-
formen Ausdruck zu verleihen, zu befreien, so sah ich doch
schon seit längerem diesen Kampf als 'einen fruchtlosen (auf
die Dauer) und vom Standpunkte der Geistesökonomik un-
rationellen an. Letzteres aus dem Grunde, weil ich im weib-
lichen Habitus das grösste Gedeihen meines Arbeitens finde.
139
Sitze ich z. ß. des Abends im Neglige und in Damenfrisur
(Perücke aus reichlichem., echtem Material) an meinem Schreib-
tisch, so reihen sich die Gedanken freiwillig, die ich am Tage
mühselig ergattern muss. Ich bin dann völlig als Dame ge-
kleidet in Wäsche, Unterrock und einem japanischen Ueber-
wurf, die Beine in eleganten Strümpfen, die Füsse mit hohen
Halbschuhen bekleidet. Das Anlegen weiblicher Wäsche und
Kleidung ruft in keiner Weise sexuelle Reize hervor, sondern
befriedigt mich eben insofern, als ich damit meiner Gemüts-
empfindung das äusserliche Gewand verleihe. Vergangenen
Winter unternahm ich beispielsweise eine zweitägige Skitour
im Schwarzwald in Gesellschaft zweier Herren, ohne dass mein
Geschlecht in dem Damensportkostüm sich verraten hätte.
Der Einfluss dieses mir entsprechenden Zustandes äussert sich
deutlich, indem, wie ich oben schon andeutete, in weiblicher
Kleidung mich eine solche Ruhe und Denksicherheit erfüllt,
dass ich während diesen Zeiten mein Bestes leiste. Anderer-
seits glaube ich mich nicht zu den geistig Degenerierten rech-
nen zu müssen, da ich mein Studium in verhältnismässig
kurzer Zeit beendet habe und auch auf meinen grösseren
Reisen, die mich durch den grössten Teil von Europa und
weite Strecken durch Afrika und Asien führten, Mängel in
der Fassungskraft und Urteilsfähigkeit nie habe entdecken
können. Sie werden, verehrter Herr, es verstehen, wenn ich
mich unter solchen unentschiedenen Verhältnissen unbefriedigt
und unglücklich fühlen muss. Was soll ich tun? Weiter
kämpfen? Mich als Weib geben und weibliche Kleidung tragen?
Ich wäre zu hohem Dank verbunden, wenn Ihnen diese Con-
fessio, in der ich mich meiner Schwester in ihrem Werk S. 597
zum grösseren Teil anschliessen kann, nicht nur als mehr
oder weniger interessantes Material ihrer Studien, sondern als
Anregung zu einer geistigen Meinungsäusserung dienen würde,
durch die Sie die Existenz meiner Person nach mehr als nur
nach der sexuellen Seite hin sichern würden."
Kollege Bloch hatte die Güte, mir im Einverständnis mit
Herrn P., den ich später auch persönlich kennen zu lernen
Gelegenheit hatte, den Fall zu überweisen.
Ich gebe zunächst die ausführlichen Auskünfte, die
140
mir der sehr intelligente P. in Beantwortung des ihm von
mir vorgelegten Fragebogens gegeben hat.
P., 24 Jahre, Dr. iur., Berliner, unverheiratet. Mutter
lebt noch, soll zuweilen an Herzschwäche leiden, Vater vor 11
Jahren an Blutsturz gestorben; er gibt an, dass weder seine
Eltern noch Grosseltern blutsverwandt waren. Bei seiner Ge-
burt stand sein Vater im 32., seine Mutter im 24. Lebens-
jahre. Im Gesicht ist P. seiner Mutter ähnlich, die Grösse
hat er vom Vater. Im übrigen habe er ziemlich wenig von
den Charaktereigenschaften seiner Eltern übernommen und
sich sehr selbständig entwickelt. Geschwister hat er keine,
doch wünschte sich angeblich seine Mutter sehnlich vor seiner
Geburt ein Mädchen. Die Ehe seiner Eltern sei aus Neigung
geschlossen und eine glückliche gewesen, seine Erziehung war
eine strenge. Er gibt an, für die Mutter mehr Sympathie ge-
habt zu haben als für den Vater. In der näheren Verwandt-
schaft seien väterlicher- wie mütterlicherseits durchaus gute
körperliche und geistige Gesundheitsverhältnisse. Beide Eltern
stammen vom Lande, die Mutter aus badischem. Grossgrund-
besitz, der Vater aus einem Landpfarrhause der Provinz
Sachsen. Geistigen Getränken gegenüber sollen sich seine
Eltern mässig verhalten haben. Selbstmorde und bemerkens-
werte Konflikte mit den Gesetzen sind bei seinen Verwandten
nicht vorgekommen, ebensowenig finden sich Unverheiratete
über 30 Jahre und männliches Aussehen weiblicher oder weib-
liches Aussehen männlicher Familienglieder. Ueber das Vor-
kommen abnormer geschlechtlicher Neigungen unter seinen
Verwandten äussert sich P. wie folgt; „Ein Oheim
(Bruder der Mutter) Grutsbesitzer in Bosnien, scheint nach
den Büchern, die ich bei einem Besuche bei ihm gefunden.
Masochist zu sein. Zwei verheiratete Schwestern der Mutter
sind stark sinnlich veranlagt. Auch bei meiner Mutter ver-
mute ich sinnlich gesteigerte Anlagen; da organische Unter-
leibsstörung nach meiner Geburt eintrat, sind weitere Kinder
nicht geboren. P. lernte nach den Aeusserungen seiner
Mutter erst spät gehen, nachdem er vorher schweren Diphte-
ritis und Keuchhusten überstanden. Die ersten Zähne kamen
früh, er büsste sie mit 4 Jahren durch einen unvorsichtigen
141
Sprung in eine Sandgrube grösstenteils ein. II. Zahnung
stellte sich bereits im 5. Jahre ein. Er will an „Kopf-
krämpfen" infolge der Diphteritis gelitten haben. Er sei in
seiner Kindheit weder ängstlich noch schreckhaft, vielmehr
ziemlich couragiert gewesen. Mit Vorlielje sah er militärischen
Exerzitien zu. P. gibt ferner an, in frühester Jugend vor-
nehmlich mit Knaben, vom 4. Jahre ab jedoch gern mit
Mädchen gespielt zu haben; vorher deshalb nicht, weil Ge-
legenheit dazu fehlte. Mit Bleisoldaten will er sich ebenso
gern wie mit Puppen, wovon er einige besass, beschäftigt
haben. An Strassenspielen nahm er nicht teil. Er konnte als
Kind gut sticken. Im Verkehr mit anderen Kindern wurde
P. von seinen Eltern sehr exclusiv gehalten. Als er noch
Kleidchen trug, soll man ihn sehr oft für eia Mädchen ge-
halten haben. Wie seine Mutter ihm oft erzählte, wollten die
Leute ihre Angaben bezügl. seines Geschlechtes nicht glauben.
Auch später hat er weiche Züge behalten. Auf Träume aus
seiner Kindheit kann sich P. nicht besinnen. Sein Lernen war
durchschnittlich. Von Schulfächern interessierten ihn vor-
nehmlich Geographie, Geschichte und Deutsch, später auch
Latein. Gleichmässig unsympathisch waren ihm Mathematik
und Religion, nach seiner Meinung letztere wohl deshalb, weil
er in dieser Hinsicht zu Hause sehr streng gehalten wurde.
Wenn ihn sein Vater strafte, was nicht häufig geschah, gab
es Prügel auf das Gesäss. Unter den Lehrern will er nicht
zu leiden gehabt haben, mit Ausnahme eines katholischen
Geistlichen in S., der die Gewohnheit hatte, die Schüler an
den Schläfenhaaren in die Höhe zu ziehen. In den beiden
ersten schulpflichtigen Jahren erhielt P. Hausunterricht und
sollen geschlechtliche Anregungen nicht vor gekommen sein.
Zu Kameraden willP. keine aussergewöhnlichen Freundschaften
gehabt haben, wegen seines angeblichen Hochmuts mieden ihn
dieselben, und er machte sich auch nichts aus ihnen. Eine
Zuneigung empfand er zu einem Freunde seines Vaters wegen
dessen ernsten, gründlichen Verstandes und seiner Herzens-
bildung. Vom 4. Jahre ab hatte P. stets ein Zimmer für
sich und ist ein Zusammenschlafen mit erwachsenen oder un-
erwachsenen Personen nicht vorgekomraen. Mit 14 Jahren
142
will er das erste Mal von geschlechtlichen Dingen sprechen
gehört haben und entnahm mancherlei aus den Gesprächen
seiner Mitschüler, ohne jedoch sich weiter darum gekümmert
zu haben. Im 15. Jahre, nach der Konfirmation, unterhielt
er sich auch mit Mädchen darüber, und zwar in der Anschau-
ung, wie diese sie hatten. lieber seine geschlechtlichen Er-
lebnisse vor der Pubertät äussert sich P.; „Als ich 11 Jahre
alt war, wurde ich einige Tage, der Vorbereitungen unserer
Uebersiedelung nach Leipzig wegen, zu einer meinen Eltern
befreundeten angesehenen Berliner Familie in Pension gegeben.
Eines Abends sah ich dort, wie die Brüder die Schwestern
unzüchtig berührten; in der folgenden Nacht, — ich schlief
im Zimmer der beiden ältesten Schwestern, die damals 17 und
19 Jahre alt waren, — legten sich beide nach einander in
mein Bett und zogen mich an sich. Dann drohten sie mir,
ich dürfte nichts davon sagen, sonst würden sie meinen Eltern
erzählen, ich sei unartig gewesen. Geschlechtliche Erregung
bewirkten diese Fälle nicht. Ich erregte mich aber ander-
w'eitig unbewusst, indem ich schon auf meinem Schaukelpferd,
das mit Pferdehaut und echtem Haar bezogen war, beim
Schaukeln nach vorn an den Hals rutschte, dabei ein nicht
unangenehmes Gefühl an den Genitalien empfindend; dies hörte
aber mit dem Verschwinden des Pferdes etwa im 6. Jahre auf.
Im 15. Jahre berührten die erwähnten Mädchen, mit denen
ich mich über geschlechtliche Dinge unterhielt, mich an meinen
Genitalien. Seitdem habe ich niemals wieder weder selbst
onaniert, noch bin ich dazu von anderen veranlasst worden.”
Die Geschlechtsreife des P. fällt in das 14. /15. Jahr, wo
er eines Morgens beim gewohnheitsmässigen Kaltbad ein Sekret
an seinen Genitalien beobachtete, das von der ersten nächt-
lichen Pollution herrührte. Anderweitige Zeichen der Ge-
schlechtsreife sollen sich bei P. erst später entwickelt haben.
Im 18. Jahre zeigte sich schwacher Bartwuchs, der mässig
blieb. Vom 20. Jahre ab, zu der Zeit seines Militärdienstes,
will er ein leises Hervortreten der Brustwarzen, deren Um-
gebung im Gegensatz zu den umJiegenden straffen Partien
eigentümlich weich blieb, beobachtet haben. Ueber den ersten
Versuch eines Geschlechtsverkehrs berichtet P. folgendes:
143
^Mit 22 Jahren gab ich auf einer Reise in den deutschen
Kolonien dem Drängen einer sinnlich stark veranlagten adligen
Dame, die ich auf der Ueberfahrt kennen gelernt hatte, nach.
Als ich bereits einige Monate im Lande war, lud mich der
Mann jener Dame, — zwischen beiden Gatten war ein Unter-
schied von 15 Jahren, — auf seine Pflanzung ein, mit der Bitte,
ihn während seiner 4 wöchigen Abwesenheit in einem Hafen-
ort den Arbeitern und europäischen Angestellten gegenüber
zu vertreten, da seine Frau der Negersprache nicht mächtig
sei. Wiederholt war ich dem deutlichen Wunsch der Dame
nach einem Coitus mit ihr ausgewichen. Eines Nachmittags
kam ich stark ermüdet von einem weiten Ritt zurück und
gedachte, einige Stunden zu ruhen. Zufällig (es kann aber
auch Befehl der Dame gewesen sein) hatten meine beiden
Boys die Gelegenheit benützt, mein Zelt auszukehren und alle
Sachen zum Schutz gegen Feuchtigkeit zum Sonnen ausge-
breitet. Müde und schläfrig, wie ich war, nahm ich das An-
erbieten der Dame, im Bett ihres Mannes zu ruhn, an, war
auch bald fest eingeschlafen. Ich erwachte durch eine leiden-
schaftliche Umarmung seitens der Frau des Hauses, die sich
zu mir gelegt hatte. Den Liebkosungen konnte ich nicht
widerstehen und so kam es, dass ich mit ihr koitierte. Es
geschah in normaler Weise. Ich wiederholte den Akt mit
jener Dame, die übrigens steril war, noch 2 oder 3 Mal."
Ueber seine körperlichen Eigenschaften ist folgendes zu
sagen; P. ist 1,84 m lang, wiegt 72 kg, hat gut entwickelte,
doch nicht übermässig kräftige Muskeln, das Fleisch ist fest
und hart. Er selbst fühlt sich sexuell auch von grossen Per-
sonen bis zu der Untergrenze von 1,75 m, jedoch nicht
grösser als 1,86 m angezogen, namentlich wenn Körperfülle
fehlt, und die Frauen einen gut ausgebildeten Körper, keine
übertriebenen Muskeln, aber auch kein schlaffes Fleisch be-
sitzen. P. treibt alle Sportarten ausser Rad- und Jagdsport,
letzteren nicht, weil ihm Jagd keine Freude macht. Er hat
besondere Vorliebe für Fechten, Reiten, Turnen undSchwimmen.
Den Tanz liebt er sehr, kann ihn jedoch wegen leicht ein-
tretender Schwiudelgefühle zu seinem Bedauern nicht ausübon.
Er bevorzugt den harmonischen Musiktanz (Schrittanz), na-
144
meutlich ^lenuett nach Art der Rococozeit mit graziösen Be-
wegungen. Seine Schritte sind gross und fest bei ruhiger
Körperhaltung. Er besitzt eine helle, reine Haut, liebt beim
Weibe sehr von der Sonne gebräunten Teint. Besonders hat
ihm die Haut der Pellachinnen gefallen. Sein Haupthaar ist
kurz, dicht und sehr weich. Arme, Beine und Achselhöhlen
sind wenig, Brust und Bauch garnicht behaart, die Genitalien
im männlichen Typus. P. hat sein dunkelblondes Haupthaar
links gescheitelt, vorn eine Sträne gewellt, gibt beim Weibe
braunem Haar in allen Nuancen den Vorzug. Er errötet nicht
sehr leicht, es kommt aber bei ernstlichen Anlässen vor; er-
blasst will er noch nie sein. Seine ziemliche Schmerzempfind-
lichkeit vermag er durch starken Willen im Einzelfalle zu
mässigen. Hand und Fuss sind gross, sein Handschlag ohne
Affektation, mit mässigem, nicht zu kräftigem Händedruck.
Er besitzt eine schlanke, ausgeglichene Figur, wie er solche
auch bei Frauen liebt. Die Schulterbreite beträgt, von Achsel
zu Achsel gemessen, 52 cm, der Brustumfang in Einatmungs-
stellung 98 cm, die Taille 68 cm und der Beckenumfang rund
unterhalb der Hüften 105 cm. Seine Brust ist männlich voll
entwickelt, Brustwarzen leicht feminin. Er liebt beim Weibe
volle, pralle Brüste. Die Ohren sind mässig gross und weisen
keine Besonderheiten auf. Sein graues Auge mit leicht grün-
lichem Schimmer und ruhigem Blicke zieht nach seiner An-
gabe viele Damen an, ohne dass er bewusst damit kokettiere.
Er selbst liebt bei der Frau ein klares Auge von brauner
oder grüner Farbe. P. hat eine Vorliebe für Tannen- und
Rosenduft, jedoch nur, wenn sie nicht aufdringlich sind.
Parfüm gebrauche er nicht, schätzt aber an Damen ein mässig
verwendetes englisches Parfüm. Bittere, salzige oder stark
gewürzte Speisen geniesst er nicht gern. Sein Gesichtsaus-
druck wird allgemein als durchaus männlich gefunden. Sein
Kehlkopf ist normal gebaut. Die mässig laute, einfache,
mittelhohe Stimme ermüdet bei langem Sprechen leicht, bei
lautem Sprechen, z. B. Kommandieren, wird sie bald heiser.
Bei Gesang ist Neigung zur Bassstimme vorhanden. Zu
Zeiten starker Arbeitshäufung leidet P. an Unruhe und
Zittern; Schlaflosigkeit und Mattigkeit sind vorhanden, wenn
145
vsein Geschlechtstrieb sehr rege ist und nicht befriedigt wird.
An den Genitalien bestehen keine Bildungsiehler.
Die Gemütsart des P. ist eher hart als weich, na-
mentlich seit seinem 18. Jahre. Er gibt an, keine starke
Empfänglichkeit für Freude oder Schmerz, keine besondere
Lach- oder Weinneigung zu besitzen. Er hat ein gleich-
massiges, ruhiges Wesen, gibt viel auf Familientradition und
alte Abstammung, hat aber für die lebenden Angehörigen
wenig Familiensinn; am Vaterlande hängt er sehr. Er ist im
Umgang liebenswürdig. Menschenliebe achtet und schätzt er
besonders theoretisch; früher war er gutmütig, jetzt weniger.
Der Ehrgeiz sei seit früher Jugend bei ihm stark entwickelt,
doch bleibt er sich seiner Grenzen bewusst. Auffallen möchte
er nicht mit seiner Person, sondern mit seinen Arbeiten.
Herrschsucht leugnet er nicht, doch äussert sich dieselbe mehr
in einer gewissen Rücksichtslosigkeit. Er ist sehr verschlossen
und zurückhaltend; findet er aber eine Idee für gut, so tritt
er energisch dafür ein; er ist eher misstrauisch als leicht-
gläubig. ln Religion ist er über die äussere Aufnahme
des Gebotenen nicht hinausgekommen; gleichwohl schätzten
ihn seine Religionslehrer, soweit es nicht Dogmatiker waren,
wegen seiner überlegten, freimütigen Antworten. Einer Sekte
gehört er nicht an und bringt er bei starker Ausbildung des
Intellekts dem Ueber sinnlichen, Wunder- und Aberglauben
kein Verständnis entgegen. P. hat einen grossen Hang zum
Reisen, um zu lernen, und gibt eine gewisse Vorliebe für un-
erwartete sensationelle Ereignisse an. Er ist ordentlich und
pünktlich, verschwenderisch mm insofern, als er wie er
sagt „das Aussenleben der Reichhaltigkeit seines Innenlebens
anzupassen sucht“. An zwangsmässigen Vorstellungen,
Zwangsantrieben oder Unterlassungen, abgesehen von dem Ge-
schlechtsgebiet, leidet er nicht; doch ist in Bezug auf seine
Verschwendungssucht hinzuzufügen, dass er das, was ihn in
seinen Gedanken äusserlich zu fördern scheint, auch besitzen
will. Er war früher sehr nachtragend, jetzt gleich-
gültiger; schätzt gerechten Hass sehr, da er darin die
Triebfeder mancher moralischen Tat sieht. Sein Wille
ist anderen gegenüber stark entwickelt, gegenüber der
Ilirschteld, Die Transvestiten. 10
146
eigenen Person nicht so sehr. Furchtsamkeit ist ihm fremd
er liebt nur energische, sich und ihres Zieles bewusste Per-
sönlichkeiten. P. bemerkt weiter, zum Wohlleben zu neigen
und habe dies auf Fruchtbarkeit und Möglichkeit seiner
geistigen Arbeit einen grossen Einfluss. Ausser Sport treibt
er keine körperliche Tätigkeit. Alkohol geniesst er massig,
raucht aber reichlich bessere Zigaretten, was ihm auch an
Damen gefällt; Völlerei mag er nicht leiden. Sein Gedächtnis
bezeichnet er als nicht hervorragend, es hat durch Chinin-
genuss in den Tropen gelitten; Aufmerksamkeit wendet er
nur ihn interessierenden Dingen zu, will Rückgang der Phan-
tasie infolge zunehmender Verstandestätigkeit bemerkt haben.
Seine geistige Beanlagung sucht möglichst das gesamte
Geistesleben der Zeit nachzuempfinden und strebt sich kritisch
zu betätigen. Literarische oder künstlerische Veranlagung ist
nicht vorhanden. Er beschäftigt sich besonders mit der Lek-
türe, die sein Studium betrifft, geniesst auch Dichtungen,
namentlich der Klassiker; Zeitungen liest er nur zur Re-
gistrierung der wichtigsten Vorgänge auf politischem, recht-
lichem und sozialem Gebiete. Brieflicher Verkehr als Ideen-
austausch ist ihm sehr erwünscht. Uebt Musik nicht aus, hört
sie aber gern; liebt namentlich Zusammenspiel von Flügel,
Violine und Flöte, besitzt Neigung aber keine rechten Fähig-
keiten zur Schauspieler kunst. Diejenigen Personen, die ent-
sprechend ihrer Individualität den Zielen der Menschheit
rücksichtlos nachstrebten und die zur Erreichung ihrer der
Allgemeinheit zu Gute kommenden Gedanken Opfer nicht
scheuten, um sich und ihrem Wollen die Bahn frei zu
machen, sind sein Ideal. Sport ist ihm notwendige Er-
gänzung seiner geistigen Tätigkeit; zu „modernen Amüsements ‘‘
hat er keine Neigung. Am politischen Leben nimmt er bis-
her nicht teil; in seinem Studium fühlt er sich zufrieden. P.
ist ein Freund geschmackvoller Kleidung, die elegant aber
nicht auffällig sein soll. Kleiderformen, die die Körperlinien
andeuten, aber nicht zu deutlich markieren, bevorzugt er und
liebt sie auch am anderen Geschlecht; er hat dunkle Farben
namentlich blau, schwarz und braun gern, Wäsche nur weiss;
schätzt guten Schmuck. Im allgemeinen ist er beliebt: in ihm
147
ferner stehenden Kreisen gilt er für stolz und exclusiv. Ge-
sellschaftsleben braucht er zuweilen, lebt aber sonst sehr für
sich, liebt das Landleben oder grössere Kulturstätten.
Ueber seine geschlechtliche Neigung und Triebrichtung
äussert sich P. nun wie folgt: „Mein Geschlechtstrieb ist
auf das Weib gerichtet, an dem ich all das schätze, was den
Männern fehlt: langes Haar, die Körperform, schöne Brüste
sowie den Uebergang von der Taille zum Becken. Besonders
angenehm und schön empfinde ich den Bau der weiblichen Ge-
nitalien im Gegensatz zu den männlichen, namentlich ihre
Lage im Innerorganismus; beim Weibe das Diskrete, im Ge-
gensatz zu dem Aufdringlich-verletzenden des männlichen
Organes. Vor der Geschlechtsreife fand ich mich in meinen Ge-
danken vorzugsweise mit Mädchen übereinstimmend, ohne aller-
dings jemals eine Triebrichtung auf das männliche Ge-
schlecht zu empfinden. Im weiteren Laufe der Entwicklung,
als mir die körperlichen Reize des Weibes bewusst wurden,
war es ästhetisches Wohlgefallen, was mich zu dem weib-
lichen Geschlechte zog. Durch den Aufenthalt einer 20 jähri-
gen Kusine, die sich stets elegant trug, lernte ich die Aus-
stattung weiblicher Wäschestücke kennen. Es war mir ein
inneres Wohlbehagen, zu sehen, wie die intimsten Stücke mit
prachtvollen Spitzen und Stickereien besetzt und in so schönen
Formen gefertigt waren. Wenn ich mir vorhielt, dass diese
Sachen doch nicht zur Schau getragen werden, so entsprach
dies sehr meinem Geschmack, ich war der Meinung, dass man
in erster Linie sich selbst gut schmücken und kleiden müsse,
auch wenn Dritte es nicht gewahr werden, besonders dann,
wenn ein entwickeltes Empfinden für schöne stilvolle Sachen
vorhanden ist. Später nach der Pubertät und vollends nach
dem ersten Koitus empfand ich geschlechtlich oft wie ein
Weib. Ich sehnte mich nach Liebkosungen und wenn ich in
gesteigerte geschlechtliche Stimmung kam, so geschah es, dass
ich mich in die Lage eines kodierenden Weibes versetzte und
mir die Anwesenheit des anderen Teiles suggerierte. Doch
traten auch zuweilen Vorstellungen und Wünsche zur Aus-
übung des Beischlafes nach Männerart ein. Das waren aber
die selteneren Fälle. Es ist beim Akt wiederum das Auf-
10*
148
nehmende, Empfangende. Darbringende, was mir so sympa-
thisch ist und mich dem AVeibe so gemütsverwandt macht.
Sozial und geistig über mir stehende Personen verfeinerter
Art ziehen mich an; denn ich betrachte das ganze geschlecht-
liche Triebleben nicht als leibliches Bedürfnis, sondern sehe
in ihm seelische Bande. Mich reizt mehr der halbverhüllte
Körper als der nackte. Stimmen ziehen mich nicht besonders
an, können aber abstossend wirken. Eine zu weiche,
schwellende Haut wie eine sich allzu hart anfühlende
Muskulatur sind mir unangenehm. Rein seelische Momente,
Eigenschaften des Charakters, des AAullens oder des Intellekts
sind wohl ausschliesslich bei mir bestimmend. Im allgemeinen
fühle ich mich alsAVeib zumAA^eibe hingezogen und würde
wohl, wäre ich vollkommen AA’eib, gleichgeschlechtlich lieben.
Sehr häufig sah ich mich im Traum als Weib und empfand
schon einigemale deutlich die physiologischen Vorgänge eines
an mir als AA'eib vollzogenen Beischlafes. Mich fesseln un-
willkürlich mehr Bilder, Photographien und Darstellungen von
Damen, wie dieselben auch auf der Strasse, im Theater etc.
meine Aufmerksamkeit erregen; dem weiblichen Geschlecht
gegenüber fühle ich mich, weil mehr verwandt, unbefangener;
deshalb ist diesem gegenüber das Schamgefühl etwas geringer
als beim männlichen Geschlecht. Ich scheue mich zum Bei-
spiel, in Herrengesellschaft zweifelhafte AVitze zu hören oder
gar zu erzählen. In meinen Zuneigungen bin ich mehr be-
ständig. Freundschaft ist für mich das Zusammengehen
zweier Menschen, die geistig gleich stark und von gleichem
Streben beseelt sind; versagt einer, so endet das Band und
der andere geht allein weiter, da er sich nicht aufhalten lassen
darf. Anders die Liebe, die den Schwankenden zu stärken
und zu sich zu ziehen sucht. Da ich rücksichtslos genug bin,
kann nicht nur. sondern muss Freundschaft mir Liebe er-
setzen. Ich bin ledig, habe auch keine unehelichen Kinder.
Der Geschlechtstrieb in seiner Beziehung auf das See-
lische ist gleichmässig andauernd, mitunter von Steigerungen
unterbrochen, doch nie unter ein: gleichbleibendes Niveau
sinkend. Anders in Beziehung auf das Tierisch-Physische.
Hier ist der Trieb sehr entwickelt und zuweilen (wohl durch
149
meine sitzende Arbeitsweise veranlasst) ausserordentlich stark.
Eine Zeitlang versuchte ich die Unterdrückung durch Sport
und Abwechslung; dann aber fehlte mir die Zeit für solche
Betätigung. Im Interesse der kontinuierlichen Erhaltung
meiner Arbeitsfähigkeit musste ich dem Triebe nachgebeu.
Ich folgte meiner Neigung, mich als Weib zu kleiden und zu
geben. Wusste ich mich dann im Aeusseren
vollkommen übereinstimmend mit mei-
nem Empfinden, so trat allmählich auch
Ruhe ein. Selbstbefriedigung durch Onanie oder andere
als im normalen Verkehr herbeigeführte Ejakulation fand
nicht statt. Seit dem auf einer Reise in den Kolonien er-
wähnten Fall, in dem ein Wunsch nach sexueller Betätigung
meinerseits nicht vorlag, habe ich während jetzt 1% Jahr
nur viermal geschlechtlich verkehrt. Es geschah in einem
Fall in der Sommerfrische im Hotel mit einer Gouvernante
in den drei anderen Fällen mit der Tochter meiner Wirtin.
Im ersten Fall koitierten wir in normaler Stellung, ln den
anderen Fällen wusste das Mädchen, die geistig über dem
Durchschnitt stand, um meine Neigung zur Verkleidung.
Wenn sie auch nicht gleichempfindend war, so hatte sie den
Willen, mir zu helfen. Um mich als Weih fühlen zu können,
legte ich mich mit Damenhemd, Höschen und langen Strümpfen
zu Bett, während sie die Stellung und Lage eines Mannes
einnahm Im allgemeinen empfinde ich beim normalen Akt-
in männlicher Betätigung kein nennenswertes Lustgefühl; ich
■betrachte dann die Funktion als eine blosse Leibesverrichtung.
Wesentlich anders verhält es sich, wenn ich Weib bin. Einen
Versuch, mich in irgend einer Form mit einem Manne zu
vereinigen, habe ich nie unternommen. Da ich vermöge
Suggestion die Empfindung, als Weib mit einem Manne zu-
sammen zu sein, herbeizuführen vermag, so möchte es mir
am geeignetsten erscheinen, wenn ich mit einem
Weibe Zusammenkommen würde, das die
Rolle des Mannes spielt. Event, würde
der Eindruck auf mich verstärkt werden,
wenn es ein Weib ist, das sich — vice versa
— gerne als Mann kleidet und fühlt. Am
150
leichtesten könnte ich wohl durch Instruktion einer Prosti-
tuierten zum Ziele gelangen, doch ist es mir unmöglich, mit
solchen Personen in Berührung zu treten, bei denen doch
jedes höhere Empfinden erstickt ist. Neigung zu geschlecht-
lich unreifen Personen oder Neigung, der geliebten Person körper-
liche oder seelische Schmerzen zuzufügen, noch von der geliebten
Person eine solche Behandlung zu erleiden, also masochistische
oder sadistische Anwandlungen sind niemals aufgetreten. Ich
leide überhaupt ausser an meinem erotischen Verkleidungstrieb
an keiner sexuellen Abweichung von der Norm. Auch dieser
dient nicht direkt zu einer Steigerung sexueller Empfindungen,
vielmehr steht er im Zusammenhang mit der primären Tat-
sache, dass ich in Denken und Fühlen in vielfacher Hinsicht
feminin bin. Kleide ich mich somit als Weib, so geschieht
das in dem Bestreben, jenem Teil meines Gemütslebens ein
Relief im äusseren Gebühren zu verleihen.
Als Beweis, dass ich die Verkleidung nicht im fetischistischen
Sinne vornehme, möge der Umstand angeführt werden, dass
ich seit ich in der Lage bin mir eigene zu kaufen, nie von
anderen getragene Frauenwäsche anlegen würde, sondern z. B.
in bezug auf die Wäsche sehr wählerisch bin und in deren
Auswahl eine gewisse Eleganz nicht ausser Acht lasse; sollte
ich andere als Kniebeinkleider mit reicher Verzierung tragen,
so würde ich eher ganz auf diese Kleidungsstücke verzichten.
Der Trieb beruht m. E. vollkommen bei mir auf einer inneren
Anlage, so dass ich einen bestim.mten Zeitpunkt seines Ent-
stehens nicht anzugeben vermag. Ich betätige den Trieb in
mässigem Umfange seit meinem 10. Lebensjahre; ich legte
damals — es war im Ostseebad Swinemünde — erstmals
Mädchenwäsche an, die ich mir von der Tochter einer be-
kannten Familie verschafft hatte. Da ich die Verkleidungen
stets geheim hielt, beschränkte ich mich auf die Bekleidung
mit Wäsche während der Nacht oder wenn ich ganz allein im
Hause war. Späterhin, namentlich im 15. bis 17. Jahre,
trug ich unter meiner Tageskleidung Damenhemden und Hosen,
die ich mir von meinem Taschengelde anschaffte. Als der
Vorrat von Damenwäsche dann, ich hatte dieselbe mitwaschen
lassen, von meiner Mutter entdeckt wurde, gab es eine Aus-
151
einandersetzung, in der ich jedoch die Artung meines Triebes
nicht zu erkennen gab, da ich annahm, dass mich meine
Mutter doch nicht verstehen würde. Bezüglich der übrigen
Stücke, Eöcke, Blousen und Hüte, beschränkte ich mich vor-
läufig- auf die Mitbenutzung der Garderobe meiner Mutter
SQ-wie deren Gesellschafterin. Ich besitze auch eine gut ge-
arbeitete Perücke, die ich jeweils bei den Verkleidungen sowie
des Nachts trage. Auch habe ich ein Damenhemd mit reicher
Garnierung. Während meiner Studienzeit hatte ich einige
Kopfkissenbezüge mit Spitzeneinfassung und Banddurchzug,
die ich jeweils den Wirtinnen zur Verwendung für meine
Betten gah. Seitdem ich nunmehr im Hause meiner Mutter
wohne, muss ich auf diese verzichten. Sollte das Resultat der
Prüfung meines Falles dahin lauten, dass ich fernerhin meinem
Triebe nachleben darf, so werde ich mir ausserhalb des mütter-
lichen Hauses ein Zimmer mieten und dieses für mich als
Weib einrichten. Trotz dieser, wenn auch nicht andauernden,
so doch intensiven Stärke meiner Neigung, hat es an Ver-
suchen zu deren Unterdrückung nicht gefehlt. Ich benutzte
hierzu die Reste meiner streng christlichen Erziehung und
hielt mir wieder und immer wieder das Bibelwort des alten
Testamentes vor; „Und Männer sollen nicht in Weiber-
kleidern einhergehen.“ Ferner versuchte ich, mir in grotesker
Weise eine Ueberraschung in der V erkleidung durch Dritte
vorzustellen, oder malte mir die Situation so aus, dass man
mich eines Morgens mit der Perücke und dem Damenhemd
etwa tot im Bette finden möchte. Dann hielt ich mir, der
ich dazu neige die Gesetze der Oekouomik sowohl in bezug
auf geistige wie physische Energie zu betätigen, das Zeiter-
fordernis der Verkleidung vor Augen. Führten letztere Er-
wägungen zu dem Teil-Erfolg, dass ich die Verkleidung
während der Tagesstunden unterliess und lieber ein oder zwei
Stunden früher aufstand, so vermochten auch alle anderen
Mittel nicht, mich von der Betätigung des Triebes abzu-
bringen. Dann liessen mich die Befreiung und Erleichterung,
die mir die Verkleidung brachte, die Gründe dagegen als un-
zureichend empfinden. Es bedrückt mich sehr, dass ich meiner
Mutter gegenüber, obwohl ich die Verschiedenheit in grund-
152
sätzlicheii Lebensanschauungsiragen ciidgiltig mit ihr be*
sprochen habe und dies zu einer innerlichen Trennung ge-
führt hat, stets das heimliche Wesen zeigen und ihr meine
Neigung verbergen muss, umsomehr, als doch die Möglichkeit
nicht ausgeschlossen erscheint, dass trotz aller Vorsicht ich
von ihr in meiner Verkleidung angetroffen werden könnte.
Ihrer Auffassung nach könnte eine solche Neigung nur
eine niedrige ^Schmutzerei" sein, da sie annehmen würde, ich
benützte diese Kleidung lediglich zur Erregung meiner Sinnen-
lust und wollte mich solcherart selbst befriedigen. Ich habe
es deshalb an unauffälligen Versuchen in gelegentlichen Unter-
haltungen nicht fehlen lassen, sie mit meiner Neigung ver-
traut zu machen; sei es, dass ich an Erzählungen aus meiner
Kindheit (während einer Zeit rief man mich damals Erika)
anknüpfte, oder Aeusserungen der Gesellschafterin oder der
Dienstmädchen aufgriff, die zuweilen ihre Verwunderung über
meine Geschicklichkeit in Tisch-Arrangements, häuslichen Dispo-
sitionen und anderen Formen weiblicher Betätigung hervor-
hoben. Das Resultat ist jedoch ein äusserst negatives;
höchstens, dass ich ab und zu hören muss; „Ach ja, ich hatte
mir ja so sehnlich eine Tochter gewünscht; denn ich weiss
wohl, dass Söhne sich so leicht von der ^ilutter losreissen!"
Ich lebte des Glaubens, dass mein Fall eine ganz ver-
einzelte Erscheinung sei, die im gewissen Sinne gegen die
Natur verstosse. Gleichwohl vermochte ich mich nicht als
krank zu bezeichnen, da eine nachteilige Beeinflussung der
Geistesanlagen nicht eintrat, wenn ich meinen Trieben nach-
gab. G e w' a n n ich doch im Gegenteil dann, wenn ich
mich äusserlich als Weib geben konnte die nötige Sammlung
und Ruhe. Ob mein Zustand naturwidrig ist, lässt sich
meines Erachtens nur individuell entscheiden. In meiner Ar-
beitsweise bin ich zuerst nachempfindend und rezeptiv; nach-
dem ich dann die mannigfachen Eindrücke geprüft und in mir
habe reifen lassen, kann ich erst das Neue von mir geben.
So äusserte ich einmal, dass ich in solchen Zeiten der geisti-
gen Produktion die Empfindungen eines schwangeren Weibes
in seelischer Beziehung hätte: einmal das starke Hoffen und
die damit verbundene Freude, dann wdeder das Verzagen am
153
Gelingen. Ich würde weniger eine Aenderung meines ge-
schlechtlichen Zustandes nach einer Betonung der männ-
lichen Seite hin wünschen, als eine Vervollkomm-
nung nach der weiblichen Seite, soweit es
sich auf das Physische bezieht (Genitalien, langes Haar,
Brüste etc.). Personen, die ähnlich wie ich empfinden mögen,
habe ich nie kennen gelernt. Darüber, ob meine Veranlagung
einem Natur zweck dient, vermag ich mir keine Meinung zu
bilden. Ich bin der Ansicht, dass mein geschlechtliches
Empfinden die notwendige Ergänzung meiner psychischen In-
dividualität ist, die in der geistigen Art des "Weibes so viele
verwandte Züge findet.
Aus den weiteren Korrespondenzen mit Herrn P. seien
noch einige Stellen hervorgehoben, die das psychologische und
Lebensbild seiner Persönlichkeit vervollständigen.
„Nur notgedrungen, so erzählt meine Mutter, habe sie
mir, den sie selbst in ihrer Sehnsucht nach einer Tochter mit
Vorliebe Erika rief. Knabenanzüge machen lassen. \Vurde sie
doch in ihren Wünschen unterstützt durch die Aeusserungen
Dritter über das mädchenhafte Aussehen des Jungen.
Waren ohne Zweifel w'eibliche Elemente von Beginn an in
mir, so wurde deren Entwicklung zum mindesten nicht be-
einträchtigt durch den Umstand, dass ich fast ausschliesslich
der Erziehung durch die Mutter unterstand. Mein Vater,
Direktor eines weit im Ausland verzweigten kommerziell-
industriellen Unternehmens, war sehr Gel abw'esend. War er
zu Hause, so w'ar er nicht derjenige, dem ich mich rückhalt-
los vertrauen mochte. Sein puritanischer Sinn, der dem P.-
schen Geschlechte von lange her, besonders aber von dem
Herrenhuter Vorfahr Graf Z., anhaftet, Hess mich ihn stets
nur als einen äusserst rechtschaffenen, streng frommen —
wenn auch nicht pietistischen — Mann erscheinen.
Weit mehr hat auch meiner Mutter süddeutsche Eigen-
art als Badenserin auf mich eingewirkt gegenüber der mittel-
deutschen Denkungsart des Vaters. Gleichwohl Hess auch sie
mir nichts durchgehen und in puncto Religion und deren
Uebung merkte man nicht zuletzt ihre frühere Zugehörigkeit
zur katholischen Kirche.
154
Persönliche Erinnerungen an meine Kindheit habe ich
keine, nur einzelne ungewisse Empfindungen über das Spiel
mit meinen Puppen, das Erlernen des Vater-Ünsers und die
Versuche der Betätigung meiner Kochkunst.
Im Sommer 1896 siedelten meine Eltern nach Leipzig
über. Für mich hatte dieser Umstand den unangenehmen Bei-
geschmack, dass ich eine Umschulung durchmachen musste.
Dazu kam noch, dass mein Vater infolge Missstimmigkeiten
mit Geschäftsleuten damals sehr gereizt wurde, worunter ich
und meine Mutter nicht minder viel litten. Dieser Zustand
meines Vaters führte ihn denn 1898 auf Anraten des Arztes
im Frühjahr nach Wiesbaden. Da der Aufenthalt dort längere
Zeit dauern sollte, so folgten wir ihm im März. Am 4. April
verlor ich, nachdem am Tage vorher eine herrliche Rhein-
fahrt en famille uns alle entzückt hatte, meinen Vater durch
seinen unerwarteten Tod. Meine Mutter war zunächst untröst-
lich und liess sich in dieser Verfassung bestimmen, zu ihrer
Schwester nach St. zu ziehen, die kinderlos verheiratet und
in den besten materiellen Verhältnissen lebte. Um einen Halt
zu haben, zog meine Mutter für die Tage, die wir noch bis
zum August 98 in Wiesbaden verbrachten, eine Nichte mieines
Vaters zu sich. Durch diese Kusine lernte ich, wie schon im
Fragebogen angeführt, die Ausstattung weiblicher Wäsche-
stücke kennen und habe ich damals wiederholt solche Wäsche
angelegt. Von jeher hatte ich mehr das Bedürfnis mit weib-
lichen Freunden zu verkehren denn mit männlichen; nicht aus
einem Sinnentrieb, sondern aus gemütlicher Veranlagung her-
aus. Jedoch war ich hierbei sehr wählerisch. Ich be-
tätigte hier wie bei anderen Gelegenheiten die Abneigung gegen
den „Armleutegeruch“, den ich jedoch nicht auf Kreise ma^
terieller Armut beschränke.
Nachdem ich dem Wunsch meiner Eltern — zuletzt meiner
Mutter — . ich möge Theologie studieren, nicht gefolgt war,
■ÄUirde mir ein anderes Studium fürs nächste nicht gestattet:
ich wurde Kaufmann. Doch wusste ich es nach 2 Jahren
durchzusetzen, dass ich meiner Neigung zum Studium folgen
und Nationalökonomie studieren durfte.
155
Während der Studienzeit — vornehmlich in Tübingen —
gab ich mich zu wiederholten Malen dem Verkleidungstrieb
hin. Ich schaffte mir nach und nach eine vollkommene Damen-
ausstattung an, die sich bis auf das Bett erstreckte, indem
ich mit Spitzen und Stickerei versehene Kissenbezüge mein
Eigen nannte. Ganz besonderen Wert legte ich auf die
Dessous: Hemden von feinem Tuch, Beinkleider in Knieform,
in moderner Weite, mit Stickerei, Spitzen und Banddurchzug,
Battiströckchen und durchbrochene Strümpfe. Darüber trug
ich einen plissierten Unterrock mit Seidenvolant und Lack-
Halbschuhe.
Wenn ich in dieser Verkleidung arbeitete, so warf ich
über mich einen japanischen Ueberwurf, den ich von meiner
Reise mitgebracht hatte. Nebenbei bemerkt, ich führte auch
auf der Reise nach Madagaskar und Ost- und Südafrika
Damenwäsche bei mir, so vie ich es auch stets auf grösseren
oder kleineren Reisen tue. Grund hierfür ist, dass ich mich
in den Hotels ungestörter verkleiden kann.
Fragt man mich nach den Beweggründen zu jenem Ver-
halten, so vermag ich zunächst nur diese Antwort zu
geben :
Es geht meiner Auffassung zuwider, dass in der Askese,
in der Abkehr vom Triebleben, die Seele grösser wird. Je
stärker ich eine sinnliche Seligkeit fühle, um so mehr
empfinde ich in deren Herbeiführung
geistige Vervollkommnung. Um die Intensität
des seelischen Lebens — und der intellektuellen Betätigung
— zu steigern, scheint es mir notwendig, das Glück des kör-
perlichen Lebens zu erhöhen. Wurden bislang die Gesetze der
Natur entdeckt, so sind es heute die Gesetze der Seele, die
wir kennen lernen müssen; dann erst können wir die Gesetze
gesellschaftlichen Lebens erkennen und entdecken. Heute
handelt es sich immer noch um das Materielle, um den Lebens-
unterhalt. Wir müssen aber auch lernen, die Ursachen des
Leidens fortzuschaffen, das Leben zu verlängern, zu sichern,
zu verschönern. Hierfür sirrd überall Ansätze vorhanden; sie
kranken aber alle daran, dass sie erst nur noch Früchte der
156
\’ernunft sind. Die tiefste Weisheit liegt aber nicht in unserer
Vernunft, sondern in den Empfindungen, die dem bewussten
Willen oft entgegengesetzt sind.
_Es wird verständlich sein, wenn ich das Bedürfnis habe,
nach einer Darstellung der Zusammenhänge meiner transvesti-
tischen Veranlagung mit der Tätigkeit des Intellekts auch
über die Einwirkungen dieses Triebes auf die Gefühlswelt einige
analytische Angaben zu machen. Die Zweckmässig-
keit einer solchen Ergänzung wird bei mir nachgerade zur Not-
wendigkeit, da ich in beträchtlichem Umfange unter dem Zwie-
spalt leide, der daraus entsteht, dass mir die reine Wahr-
nehmung sinnlicher Erscheinungen getrübt wird durch die so-
fort hinzutretende Betätigung des Verstandes. Es ist mir
nicht möglich, irgend eine Wahrnehmung zu machen, ohne
alsbald nach ihrer Entstehung, ihrem ursächlichen Zusammen-
hang mit den ihr zugrunde liegenden äusserlichen Tatsachen
und ihrer Zweckrichtung zu fragen. Ein reiner Sinnengenuss
ist damit m den meisten Fällen für mich ausgeschlossen. So
suche ich stets, ein Kunstwerk mehr zu verstehen als zu ge-
messen und es lediglich durch die sinnliche Wahrnehmung auf
mich einwirken zu lassen.
Ich neige zu der Ansicht, dass der Grund hierfür nicht
in einer Unempfänglichkeit für ästhetische Werte liegt, sondern
völlig sekundär entstanden ist aus dem Bedürfnis, über mich
nach jeder Richtung ins Klare zu kommen. Notwendiger-
weise führte dieses Bestreben zu einer Steigerung der Er-
kenntnistätigkeit, zu einer weitgehenden Anwendung der durch
die Logik gebotenen Mittel für eine solche Erkenntnis. Die
primär wirkende Ursache sehe ich aber in jener Unausge-
glichenheit meines Wesens, die ich wiederum zurückführe auf
jene Mischung femininer und männlicher Elemente in der Ge-
fühls- und Willenstätigkeit. Deren äusserer Ausdruck ist
schliesslich der Verkleiduugstrieb.
Eine bestimmte Zeit, in der meine Geschlechtslust er-
wachte, vermag ich nicht anzugeben. Die „Aufklärungen“,
die ich auf dem üblichen Wtege durch Schulkameraden über
157
die orgaaischen Unterschiede der Geschlechter erhielt, weckten
nicht so sehr den Geschlechtstrieb als vielmehr die Neugier
zum Sehen, zum Kennenlernen, 'Zum Verstehen der Funktionen.
Das Ergebnis war, dass ich ungleich grösseres Wohlgefallen
am weiblichen Körper fand als an dem männlichen. Schon
äusserlich: das Fehlen der Behaarung der Gliedmassen, des
Leibes, die etwa vorhandene schöne Formen stark zu be-
einträchtigen geeignet ist. Dann die Uebereinstimmung des
Haupthaares mit der Fülle und Harmonie der Körperteile:
bildet es doch gewissermassen einen natürlichen Mantel. Ferner
die Grösse und die Formen der Hände und Füsse, die beim
Weibe harmonischer mit dem Leibe in Verbindung stehen als
beim Manne; desgleichen die Arme. Weiterhin die Entwick-
lung des Busens mit jener natürlich-schönen Linie vom Hals
zum Leib. Endlich aber war es, wie schon im Fragebogen
angedeutet, die Anordnung der Genitalien, die mir den Mann
hässlich erscheinen liess. Es liegt etwas Bestialisches in der
Ostentativität, mit denen sich die männlichen Organe geltend
machen. Ganz besonders in Fällen geschlechtlicher Erregung
ist mir der Anblick verletzend. Wie anders beim Weibe, dem
ich hierin eine grössere Vollkommenheit als menschliche
Wesenserscheinung zuspreehe. Alles ist diskret und un-
auffällig. Es wmre mein Wunsch, schon um dieser Eigen-
schaften willen, ein Weib zu sein. Es wäre mir eine Freude,
meine Genitalien atrophieren lassen zu können.
Auch in der Kleidung äussert sich diese Diskretion; ist
doch die männliche Kleidung nur zu geeignet, die Genitalien
zur Geltung zu bringen. Wenn man andererseits auch von
der weiblichen Kleidung vielfach sagt, sie enthülle mehr statt
zu verhüllen, so kommt diese Tatsache doch weit mehr dem
gesamten Körper zu Gute, im Gegensatz zum Manne.
Im höchsten Masse widerstrebt es mir, auch nur einen
Versuch zu einer Vereinigung mit einem Manne zu machen.
Hinsichtlich der Stärke meiner Geschlechtslust möchte ich
noch erwähnen, dass sie am heftigsten und dann kaum meister-
bar auftritt, wenn ich längere Zeit mit einer Arbeit be-
schäftigt war, die alle geistigen Fähigkeiten in Anspruch
nahm. Dann treibt es mich weg vom Schreibtisch und den
158
Büchern; mein ganzes Denken erfüllt sich mit sexuellen Vor-
stellungen. Jedoch nur sehr, sehr selten bietet sich mir zu
solch’ geeigneter Zeit eine Gelegenheit. Denn ich habe einen
unüberwindlichen Abscheu vor Prostituierten und gewinne es
nicht über mich, solche aufzusuchen. Ander'weitigen Verkehr
habe ich nicht; zudem möchte es dabei schwer fallen, ein
Mädchen zu finden, dass meiner Veranlagung Verständnis ent-
gegenbringen würde. Aehnlich liegt es in Rücksicht auf die
Erörterung der Möglichkeit einer Heirat.“
B. Analytischer Teil.
Was ist das Gemeinsame, das Typische, wodurch
sich der hier beschriebene Personenkreis von anderen
Menschen abhebt? Da tritt uns in allen Fällen als
deutlichstes der heftige Drang entgegen, in der Klei-
dung desjenigen Geschlechts zu leben, dem die Betreffen-
den ihrem Körperbau nach nicht angehören. Der
Kürze halber wollen wir diesen Trieb als transvesti-
tischen (von trans = entgegengesetzt und vestis = Kleid)
bezeichnen. Dabei sei von vornherein betont, was später
allerdings noch zu erläutern sein wird, dass das Kleid uns
hier nicht, um mit C a r 1 y 1 e*) zu reden, „als totes
Ding“ entgegentritt, dass die Art des Kostüms nicht die
beliebige Aeusserlichkeit einer willkürlichen Laune ist, son-
dern als Ausdrucksform der inneren Persön-
lichkeit, als Zeichen ihrer Sinnesart zu gelten hat.
Was der feinsinnige Giessener Psychologe Dr. Rob. Sommer
in dem Briefe ausspricht, mit dem er die Widmung des
*) Tiiomas Carlyle: »Sartor resartua oder Leben und Meinungen dea
Herrn Teufelsdrückh.“ In diesem merkwürdigen Buch aus dem Jahre 1831
führt Carlyle darüber Klage, „dass, trotzdem doch die Wissenschaft in den
letzten 5000 Jahren immer weiter fortgeschritten sei und jetzt überall ihre
Fackeln leuchten lasse, sodass kaum noch ein Winkel, kaum noch ein Spalt
im Gebiet der Kunst und Natur im Dunkel sei, gleichwohl kaum etwas von
grundlegender Bedeutung, sei es vom Standpunkt des Philosophen, sei es von
dem des Geschichtsforschers aus über die Kleider geschrieben sei. Er
bezeichnet sie an einer anderen Stelle seiner Schrift als „die lebensvolle Heim-
statt unseres Daseins, die Werkstatt unserer Kräfte und meint dann weiter,
der Flug der Denker wäre zu hoch gewesen, als dass sie der Kleider acht
gehabt hätten, „für sie war das Kleid ein totes Ding
und niemals ward es begriffen als Stück unseres
eigensten Wesens.“
160
Werkes von Fritz Rumpf ; „Der Mensch und seine Tracht,
ihrem Wesen nach geschildert“,*) annimmt, dass nämlich
alle Trachten nicht nur Beziehungen zu der morphologischen
und physiologischen Beschaffenheit des Körpers haben, son-
dern auch „zu bestimmten psychischen Gr und -
ei'genschaften und daraus im letzten Grunde
herzuleiten sind“, trifft bei der Transves-
titen- Gruppe in hervorragendem Masse zu.
Unter andern geht das aus dem ungemein starken Ein-
fluss hervor, den in den geschilderten Fällen die männliche
oder weibliche Kleidung auf das Seelenleben ihrer Träger hat.
In der Tracht ihres eigenen Geschlechts fühlen sie sich ein-
geengt, unfrei, gedrückt, sie empfinden sie als
etwas Fremdes, ihnen nicht Entsprechendes und Zu-
gehöriges; dagegen finden sie nicht Worte genug, um das
Gefühl der Ruhe, Sicherheit und Erhebung, das Glück und
Wohlbehagen zu schildern, das sie in der Gewandung des
anderen Geschlechts überkommt. So führt Fall III in
sehr bezeichnenden Worten aus: „ich fühle mich in männ-
licher Kleidung wie vergewaltigt, und flüchte ge-
wissermassen in meinem eigenen Ich um-
her, um aus demZustand herauszukommen,“
— — „erblicke ich mich aber in weiblichem Anzug, werde
ich vollständig ruhig; ich kann die Ruhe ganz
deutlich wahrnehmen. Der ganze Organismus funk-
tioniert gleich mässiger, es ist wie ein Aus-
ruhen bei grosser Müdigkeit, wie das Hei-
matgefühl der ganzen Individualität in
der Rolle der Frau.“ Nicht minder beredt berichtet
XL, wie ihn seit seinem 15. Jahre ein Verlangen nach Frauen-
kleidern beherrschte, das „wie Hunger und Durst
Befriedigung heischte“. Endlich mit 24 Jahren,
als er krankheitshalber vom Lehramt beurlaubt im elterlichen
Hause weilte, bietet sich die ersehnte Gelegenheit. Er zieht
sich ein vollständiges Ballkostüm seiner Schwester an. „Ein
•) Verlag von Alfred Schall, Berlin. Verein für Bücherfreunde. 190.^
mit 29 Tafeln.
161
nie gekanntes Gefühl des Wohlbehagens
durchrieselte mich“, „in den 14 Tagen, wo ich meinem Ver-
kleidungstrieb nachgab, wuchs meine Sehnsucht
nach einem Weibe, wie ich es mir wünschte, von
schlanken, gut entwickelten Formen, mit vollen Haaren
ausserordentlich“ und ^„das Wunderbarste war,
dass ichmich jetzt rasch erholte, wä. hrend
ich vorher 6 Wochen lang vergeblich oin
Sanatorium besucht hatte.“ Und XIII. schreibt
sogar in dem oben zitierten Brief; „Die Unterröcke sind mir
ein Heiligtum“ und an anderer Stelle: „am meisten
freute ich mich auf Sonntag, wo ich mit den Kindern im
gestärkten Unterrock, weisser Schürze und Häubchen spazieren
konnte, dann fühle ich mich wie im Himmel-
reich.“
In völlig analoger Weise hören wir von unserer weiblichen
Transvestitin — Fall XV — dass sie sich „in Männer-
kleidern oder wenigstens, wenn sie männ-
liche Mützen, Kragen, Unterwäsche und
Stiefel trägt, leicht, wohl und leistungs-
fähig fühlt, dagegen in Frauenkleidern
beengt und unfre i.“
Bei den meisten lässt sich dieser Drang b i s i n die
frühe Kindheit verfolgen, er steigert sich während der
Pubertät, tritt um diese Zeit auch klarer ins Bewusstsein
und hält dann fast unverändert durch das ganze Leben an;
schon sehr früh ist diese Neigung mit einem eigenartigen
Schamgefühl verbunden, das die Vermutung, sie wurzele im
Se.xualleben, nahe legt. So berichtet Fall V, „dass er zuerst
im Alter von 4 Jahren versuchte, das Kleid seiner Schwester
anzuziehen und sehr geniert war, wenn man diese Ver-
suche bemerkte, dabei war der deutliche Wunsch vorhanden,
lieber oin Mädchen sein zu wollen.“ XII erzählt: „schon als
Kind Verspürte ich einen starken Drang in mir, Frauen-
kleider anzuziehen; als mich ein Kinderm.ädchen einmal zum
Spass verkleidete, regte mich der Vorgang heftig auf“ und
ebenfalls recht bezeichnend teilt uns XIII mit, dass er von
seiner Mutter gehört habe, er habe sich heftig gewehrt, als
Hirschfeld, Die Transvestiten. 1 1
er die ersten Hosen haben sollte und deshalb noch Mädchen-
kleider getragen, als sein zwei Jahre jüngerer Bruder schon
Hosen hatte. Auch Frau P. (XV) schilderte, wie sie in kind-
licher Weise ihren Eltern „Vorwürfe gemacht hätte, dass sie
kein Junge wäre.“
Bei den Männern, I — XIV, steht es vor dem zwanzigsten
Jahre fest, wenn sie erst selbständig sind, gelegentlich als
Frau aufzutreten und tatsächlich sehen wir, dass sämtliche,
dem übermässigen Drange folgend, schliesslich nicht nur kom-
plette weibliche Garderobe anschaffen und vor dem Spiegel
heimlich anlegen, sondern dass sie auch, und zwar oft unter
nicht geringen Schwierigkeiten und Gefahren längere oder
kürzere Zeit die Rolle der Frau durchführen; da
fährt der eine (I) in eine entfernte Stadt und bringt als Dame
gekleidet einige Wochen in einer Pension zu, deren Inhaberin
von allem unterrichtet ist,“ ein anderer (V) lebt Jahre lang
als Gesellschafterin seiner Freundin, ein dritter (XIII) der
eigentlich ein Priester werden sollte, verbringt einen grossen
Teil seines Lebens in Frauenkleidern als Stickerin, Kinder-
mädchen, Köchin, Logierfrau und Magd auf einem Bauerngut.
Und nicht minder wechselvoll gestaltet sich das Schicksal
unseres weiblichen Falles (XV), die, trotzdem sie kaum
30 Jahre überschritten hat, bereits in Männertracht als Berg-
mann, Schlosser, Hausdiener, Friseur, Walfischfänger, Steward,
Maler und Fabrikarbeiter und dazwischen in den Kleidern
ihres wirklichen Geschlechts als Plätterin, Stewardess auf
überseeischen Dampfern und — Ehefrau tätig.
Die Mehrzahl führt ein eigenartiges Doppelleben, tags-
über im Beruf und Geschäft als Mann, zu Hause und
abends als Frau. So beschreibt XI, Techniker, ver-
heiratet und Vater dreier gesunder Töchter, wie er kaum den
Abend erwarten kann, um daheim weiblich gekleidet zu sein.
„Wurde nichts damit — schreibt er — so geriet ich in eine
Missstimmung, mir war unbehaglich zu Mute, ich war ärger-
lich und konnte mich oft beim besten Willen nicht in eine
bessere Stimmung versetzen; sogar das Essen wollte mir
nicht schmecken. Konnte ich mich aber .einige Abende hinter-
einander weiblich kleiden, so wuchs meine Lebensfreudigkeit
163
und Arbeitslust ungemein.“ XIV erzählt: „wenn es abend
wird, atme ich erleichtert auf, denn dann fällt d i e
lästige Maske und eingehüllt in ein Hauskleid von ele-
ganter Ausstattung und in rauschende Seidenunterröcke fühle
ich mich ganz Weib“ und ähnlich V: „Tagsüber war ich im
Geschäft eifrig und fleissig, sodass meine Vorgesetzten mit
mir zufrieden waren, in männlicher Beharrlichkeit — abends
lunflossen mich die weichen Frauengewänder, die mein
Ich vollständig auswechselten. Frau Trudes
Dienstboten, ihr Mann, keiner ahnte, dass ein völlig normaler
Mann in dieser eleganten Besuchstoilette steckte.“ Ganz be-
sonders merkwürdig ist, dass vielfach gerade in Ge-
sellschaft von Frauen der Wunsch rege ist, wie
diese gekleidet zu sein, so bemerkt einer: „vor allen möchte
ich im Verkehr mit Damen als Dame erscheinen.“
Um aber auch in der unsympatischen, „erzwungenen“
Männertracht wenigstens durch einige Stücke, die gleichsam
als pars pro toto dienen, an die so wohltuende ersehnte
Frauenkleidung erinnert zu werden, tragen die Transvestiten,
wie ich mich bei ihrer körperlichen Untersuchung wiederholt
selbst überzeugte, unter den Herrensachen vielfach weibliche
Unterwäsche, Korsetts, lange durchbrochene Strümpfe, führen
parfümierte Spitzentaschentücher bei sich, legen gelegentlich
auch Frauenstiefeletten mit hohen Hacken, Frauenschmuck,
wie Halskettchen, Armspangen, Marquisenringe an md was
man sonst unauffällig anbringen kann.
Doch ist das alles nur ein schwacher Notbehelf, e i n
Ersatz faute de mieux, denn in Wirklichkeit richtet sich
der Verkleidungstrieb auf das ganze Kostüm bis in die
subtilsten Kleinigkeiten, diese Männer setzen gerade ihren
Stolz darin, eine möglichst vollständige und zahlreiche Damen-
garderobe zu besitzen mit allem Zubehör, wenn die Verhält-
nisse es gestatten (vgl. Fall X) womöglich Haus-, Strasseu-
und Besuchstoilette, Ball-, Theater- und Dinerkostüme; auf
Einzelstücke etwa schöne Ohrringe, elegante Lack-
stiefeletten, teure Korsetts wird nur ausnahmsweise ein be-
sonderer Nachdruck gelegt.
Entsprechend ihrer Neigung studieren alle diese Per-
!!♦
164
bonen natürlich aut's eifrigste die Modenjournale und
Frauenzeitungen, lassen sich die Kataloge von Her-
zog, Gerson, Israel und anderen grossen Warenhäusern
kommen, auch Musterproben, stehen lange vor den
Auslagen der Mode- und Konfektionsbazare und schwelgen
im Anblick der „herrlichen Sachen," wie sie die zahlreichen
Läden für Frauenputz in so reicher kostbarer Fülle bieten.
„Wohl 20 bis 25 Jahrgänge gekaufter Modejournale“, teilt
X. uns mit, „wurden Seite für Seite betrachtet, die schönsten
Kostüme herausgeschnitten und der Schneiderin eingeschickt,
damit diese danach verfahre.“ Und sehr tj'pisch fügt er hin-
zu: „schon die blossen Namen einzelner Kleidungs-
stücke, wie Damenkleid, Schürze, Schleier, Unterrock, hatten
für mich etwas Zauberhaftes.“
Auch über die Kleidung hinaus haben diese Personen
den Drang im weiblichen Rahmen zu leben; sie richten
sich, wenn angängig, ein Boudoir nach Frauenart ein,
schmücken ihr Wohn- und Schlafzimmer mit weiblichen Zier-
und Toilettenstücken und finden eine grosse Freude daran,
weibliche Handarbeiten anzufertigen. Diese Neigung
ist ebenso wie die zu weiblichen Spielen, namentlich Puppen-
snielen, meist ebenfalls schon im frühen Kindesalter wahr-
nehmbar. So lernte I als Knabe häkeln; er sieht es seiner
Mutter und Schwester ab und bringt allerlei hübsche Häkel-
arbeiten in Wolle und Zwirn, später auch Stickereien mit
Geschicklichkeit zustande; „manches Produkt meiner fleissigen
Nadel ziert unser Heim,“ schreibt er, und als Junge von
13 Jahren und später schenkt er zu Geburtstagen und zu
Weihnachten seinen Freundinnen selbstverfertigte Handar-
beiten. Andere unserer Explorierten können nähen, stricken,
weben, putzmachen, einer (IV) nach seinen Handarbeiten ge-
fragt, gibt an, es seien soeben „drei Hemdpassen mit Achsel-
stücken und zwei Paar Beinkleidansätze aus feinem Garn
fertig geworden.“
Neben den weiblichen Handarbeiten würd auch die wirt-
schaftliche Hausarbeit nach Frauenart nicht vernachlässigt.
„Meine ganzen Nebenneigungen sind direkt weiblich“ — be-
merkt in sehr charakteristischer Weise der im Hauptberuf
165
als Schriftsteller tätige III. — „ich habe Lust ^’i_-.llen Ar-
beiten, die zur Domäne der Frau gehören und zwar steht
mir diese Arbeit vollständig zu Gesicht; meine Frau bestätigt
es mir täglich und kommt es auch in unserem Haushalt
deutlich zumi Ausdruck, indem ich mich in der Küche
und Wirtschaft von meiner Berufsmüdigkeit erhole
und mich ablenke.“
Es ist nach allem gewiss begreiflich, dass diese Personen
am liebsten überhaupt in einem weiblichen Beruf wirken
möchten und wie wir sahen, verwirklichen manche ja auch
diesen Wunsch. Da würde der eine gern „Kammermädchen
einer feinen Dame“ sein, andere Gouvernante, Putzmacherin,
Damenfriseurin, Kindsmagd, ja sogar — Amme. Ein Offizier
aber (Fall IX) „sehnt sich mit ganzem Herzen danach, Ko-
kotte zu sein“; „der Hauptinhalt meiner Sehnsucht ist es,
vollständig Frau zu sein; ein ausserordentlicher Reiz wäre
es für mich, dürfte ich mich ganz rasieren, schminken, als
Frau kleiden; allerdings recht elegant, dernier cri, doch
nicht criard, Unterwäsche fein und seidig, schmale Schuhe,
viel Stickerei, kunstvolle Hüte, kurz wie eine brillant unter-
haltene Kokotte“ und nach solcher Erklärung scheint dieser
Herr kaum zu merken, wie naiv, freilich im gewissen Sinne
auch wie echt es wirken muss, wenn er mit der Geste der
Ueberlegenheit hinzufügt; „von Homosexualität ist keine Spur
vorhanden ; Urninge und effeminierte ^länner
verachte ich tief.“
Selbst bis zm- Illusion des weiblichsten aller Berufe, des
Mutterberufs versteigt sich die kühne Phantasie dieser selt-
samen Männer. Ein eigenes Kind zu empfangen, zu gebären,
zu stillen, zu hegen und zu pflegen erscheint ihnen als In-
begriff des Glückes. VII geht „heimlich an das unver-
schlossene Küchenspind, nimmt mit dem Teelöffel etwas Milch
aus dem Topf und träufelt sie auf seine Brustwarzen, um
sich die Illusion einer stillenden Mutter vorzugaukeln.“ IX
sagt: „sehe ich eine Mutter ihr Kind säugen, so seufze ich.
hätte ich doch auch solche Brüste und könnte Milch abgeben
und mit wie rührender Innigkeit und Lebendigkeit schildert
XIII die glücklichen Stunden, in denen er das Kind seiner
166
Wirtin abwartet, Jas fliehe kleine Wiesen“ säubert, an- und
auskleidet, mit ihm auf dem Arm hin- und hergeht.
Mehr aber noch wie im wachen Tagtraum gewinnt im
Schlaf der Gedanke an Mutterglück, Empfängnis, Schwanger-
schaft und Geburt, Kindbett und Milchgebung Gestalt und
Leben. Träume spielen bekanntbo't' bei allen sexuell Zwie-
spältigen eine grosse Rolle. Der Geschlechtssatte schlummert
meist tief und traumlos; nicht so der sexuell Unbefriedigte,
sein Schlaf ist unruhig. Immerhin erleben diejenigen, deren
Sehnsüchte an den harten Lebenswirklichkeiten des Alltags
scheitern wenigstens im Land ihrer Träume seelige Zeiten der
Erfüllung. „Eigentlich glücklich fühle ich mich nur im
Traum", schreibt XIII und schildert dann seine Traumerleb-
nisse, wie er guter Hoffnung ist, wie die ,. Mutterwehen“
kommen, das Kind geboren wird, wie beglückt er es dem
Vater entgegenstreckt, es stillt und neben sich legt, um dann
beim Aufwachen den Platz leer zu finden, enttäuscht, aber
doch zufrieden, dass ihm die holden Traumgebilde das zarte
Mysterium in so greifbare Nähe gerückt hatten.
Gewiss ist in diesen Fällen der Kontrast zwischen
Traum und Wirklichkeit ein ganz besonders krasser. Viel-
fach bilden sich zwar die Transvestiten vor dem Spiegel
stehend ein, ihre Formen seien weicher und weiblicher, wie
die gewöhnlicher Männer; aber ihre meist rauhe Haut, die
behaarte Brust, der starke Bartwuchs, der schlanke, oft
sehnige Körperbau, die straffen Linien und Züge, die tiefe
Stimme zeigen, dass es sich um eine angenehme Selbst-
täuschung handelt, die übrigens keine tiefgehende ist,
auch nicht den Charakter einer Wahnidee trägt; sie wissen
ganz genau, dass ein tiefer Widerspruch zwischen ihrem
Körper und ihrer Seele klafft. Deshalb ist es auch nur zu
begreiflich, dass die meisten von ihnen wünschen, als Weib
geboren zu sein und zw'ar findet sich dieser Wunsch hier
in \iel ausgesprochenerem. Masse wie bei den Homosexuellen,
während es mir andererseits scheinen will, as ob bei diesen,
namentlich den femininen Urningen die rein körper-
lichen Stigmata der Weiblichkeit relativ häufiger sind,
als bei den Transvestiten.
167
L'm die Geschlechtsmetamarphose vollkommener zu ge-
stalten, helfen manche dadurch nach, dass sie sich methodisch
in Fistelstimme üben, ihre Haut glatt rasieren, ihr Kopf-
haar lang tragen. Die meisten bedienen sich allerdings bei
der Verkleidung weiblicher Perücken, doch berichtet beispiels-
weise III: „einer Perücke bedarf ich nicht; ich habe sehr
schweres, massiges und gelocktes Haar, das ich nie kurz
schneiden lasse, sondern stets so halte, dass ich es be-
festigen und darauf eine Flechtenfrisur anbringen kann.“
In noch geringerem Grade wie die sekundären Geschlechts-
charaktere zeigen die primären — der eigentliche Genital-
apparat— Abweichungen von der Norm; zwar findet sich bei
einigen die auch unter normalen Verhältnissen so ungemein
verbreitete Phimose, jedoch nirgend hermaphroditische Spalt-
bildungen, nicht einmal eine hypospadaeische Spur davon.
Von den 16 transvestitischen Männern sind 9 verehelicht,
7 Väter, 2 haben sogar zwei mal Liebesheiraten geschlossen,
auch die 7 ledigen ejakulieren normal; der weibliche Fall
ist ebenfalls verheiratet, menstruiert regelrecht und hat ge-
boren.
Allerdings scheint es, als ob in den meisten Fällen die
Reife relativ spät eintritt, vor allem der Geschlechtstrieb
verhältnismässig spät erwacht und mit dem Ge-
schlechtsverwandlungstrieb verglichen
überhaupt nur gering ist; so übte I. den ersten
Koitus mit 24 Jahren aus und enthält sich dann vier Jahre
jeden Verkehrs, II. der jetzt mit 3.5 Jahren geheiratet hat,
verkehrte auch erst nach dem 20. Jahre, III, bei dem erst
mit 20 Jahren Stimmwechsel, mit 25 Jahren Bartwuchs
eintrat, hat vor Eingehung der Ehe nie mit Frauen Umgang
gehabt und IV kam, wie er sagt, in sechs Jahren „garnicht
der Gedanke“ mit seiner Geliebten sexuell zu verkehren.
Auch die übrigen, von einigen Ausnahmen abgesehen, kohabi-
tieren oft Jahre lang nicht und bei XV verschwindet die
sexuelle Libido fast völlig hinter der immer wieder durch-
brechenden Sehnsucht, das Leben eines Mannes zu führen.
Meldet sich aber der Betätigungsdrang, so richtet er sich
in fast allen Fällen entsprechend der körper-
168
liehen Konstitution sogleich auf eine Per-
son des entgegengesetzten Geschlechts.
Den Gedanken an Homosexualität weisen fast alle diese
Personen weit von sich, vielfach mit deutlichen Kimdgebungen
contrainstinctiven Abscheus. Wir hörten schon wie IX sagte:
Urninge und Effeminierte verachte ich tief und YIII
schreibt: obwohl ich seit Jahren viel in homosexuellen
Kreisen verkehre, ekelt mich der blosse Gedanke an
gleichgeschlechtlichen Verkehr d i r e k t a n. III berichtet,
dass ihm „die Idee der Kompletierung seines idealen Zu-
standes durch einen ^lann nie gekommen sei,“ XI gibt an:
„trotz meiner Sehnsucht nach Weiberkleidern war nie die
Spur einer Neigung zum Manne in mir" und ähnlich V;
„der Trieb war stets nur auf den coitus cum femina ge-
richtet, von Homosexualität ist keine Spur vorhanden.“
Am ehesten könnte man noch XV. Frau P. für bisexuell
ansprechen, denn wenn sich auch bei einigen der anderen ge-
legentlich homosexuelle Episoden nachweisen lassen, so tragen
diese doch durchw'eg einen ..episodischen”, accidentellen
Charakter; entweder handelt es sich (wie bei XIII) um ein
ungewolltes Intermezzo, oder um einen gewollten Versuch,
der alsbald wdeder als unbefriedigend und deprimierend auf-
gegeben w'ird. Den wesentlichen Kernpunkt dieser Beziehungen
bringt sehr deutlich II zum Ausdruck, wonn er bemerkt „zu
Männern habe ich nie Neigung verspürt, bloss als Dame
verkleidet habe ich gern mit ihnen kokettiert, weil es mir
sehr schmeichelte, für eineDame gehalten
zu werden.
Was die Betätigungsart anlangt, so verdient
hervorgehoben zu worden, dass fast alle unserer Explorierten
vorziehen, in actu succumbentes zu sein. Die Frauen selbst
— sechs der Ehefrauen lernte ich im Laufe der Zeit persön-
lich kennen — machen einen durchaus weiblichen Eindruck;
zu bewrmdern ist, wie sie sich trotz anfänglichen Wider-
strebens in die Sonderart ihrer Männer schicken, ihnen
schliesslich sogar vielfach entgegenkommen.'*)
•) Das gleiche gilt vielfach auch von den übrigen Verwandten, vor
allen von den Müttern. Als Beispiel möge folgender Brief dienen, den eine
169
II. erzählt: „bevor sie noch meine Frau wurde, versprach
sie mir freiwillig, sich meiner Eigenart in der Ehe nicht zu
widersetzen, sondern sie nach Möglichkeit zu fördern; sie
hält auch ihr Wort; sind wir ganz allein in unserer Be-
hausung, lässt sie mich ihre Kleider anziehen und auch
sonst gibt sie mir zum Schlafengehen täglich Damenhemd,
Nachtjacke und Ohrringe.“ XI erzählt sogar, dass ihm nicht
nur seine Frau entgegenkommt, „sondern auch seine
Schwiegereltern nichts dagegen haben, dass er zu Haus be-
ständig Weiberkleider trägt,, wofern er nur ihre Tochter gut
behandelt.“ Nicht uninteressant ist auch folgende kleine Epi-
sode: als XIV mir einmal eine Photographie zeigte, die
ihn in eleganter Damentoilette neben seinem etwa achtjährigen
Töchterchen darstellt und ich ihm die Frage vorlegte: „was
sagt denn die Kleine dazu“ erwiderte der in Amerika lebende
Herr: „ach, die sagt nur, you are papa-lady.“
Die Transvestiten selbst betonen ^■ielfach, dass sie sich
ihre Frau möglichst männlich wünschen oder auch,
dass sie ihnen männlich „vorkommt“. Einige sagen zwar,
dass ihnen bei den von ihnen geliebten Frauen die echt weib-
Mutter ihrem als „Damendarsteller“" wirkenden Sohn geschrieben hat; (vgl.
den Aufsatz: „Der Weibmann auf der Bühne“ von Dr. med. S. im Jahrbuch
für sexuelle Zwischenstufen, Bd. ITI. pag. 324) .Komme nur recht bald
liebstes Kind, ich kann es schon kaum mehr erwarten, bis mein Herzens-
mäuschen da ist und seiner Mama Gesellschaft leistet. Du wirst gleich im
Anfang Arbeit finden. Ich habe nämlich Frl. B. (die Schneiderin) bestellt,
da ich zum Frühjahr manches brauche oder ändern lassen will. Du wirst
dabei mit Deinem Geschmack helfen. Liebes Kind, vielleicht hast Du von
Deinen Toiletten auch etwas zum .\usputzen für mich übrig. Dass Gret-
chen (eine Nichte der Mutter) eines von Deinen .Seidenkleidern haben soll,
hat sie sehr gefreut. Vielleicht, liebes Kind, hast Du auch einige Hemden
und Hosen für Gretchen, die Du nicht mehr brauchst und die ihr jetzt sehr
zu statten kämen. Mit den beiden schönen Unterröcken, die Du ihr voriges
Jahr geschenkt hast, macht sie heute noch Staat. Dass Du mit Deinem
Spiele so gefällst und so schönes Geld verdienst, macht mich ordentlich
stolz. Freilich möchte ich mein Kind lieber immer um mich haben. Ich
denke, es kommt auch noch dahin. Gretchen lässt Dich fragen, oh Du für
gehäkelte Spitzen und Nachtjacken Verwendung hast und ob sie Dir mit
einem selbstgestrickten Anstandsröckchen aus Zephyrwolle eine Freude machen
würde? Zum letzteren kann ich Dir nur raten, liebes Kind, ein solcher
Rock ist mollig und schmiegt eich warm an.“
liehen Eigenschaften vor allein sjanpathisch sind, so bezeichnet
VI als für ihn besonders anziehend: die melodische Stimme
des Weibes, ihre weiche Haut, ihre Parfüms und XI teilt in
drastischer Weise mit: „als ich mir 21 Jahre alt eine Braut
anschaffte, hatte ich dieser gegenüber nur das Verlangen, an
ihrer Seite weiblich gekleidet gehen zu dürfen. Oft wünschte
ich, ich möchte wie eine Z w i 1 1 i n g s s c h w e s t e r
von ihr gekleidet gehen, absolut gleich an Farbe, Schnitt
usw.“ — Die meisten aber heben jedoch hervor, dass sie
sich nicht ein völlig gleichgeartetes Wesen, sondern eine Frau
von entgegengesetzten Eigenschaften, wie sie sie selbst be-
sitzen wünschen, vor allen Dingen soll die Frau, die sie
lieben, ihnen- körperlich oder wenigstens geistig überlegen
sein. Selbst VIII, anscheinend der männlichste unter unseren
Fällen, dem, wie er sagt, Zarathustras Wort: „gehst du zum
AVeibe, vergiss die Peitsche nicht“ aus der Seele gesprochen
ist, selbst dieser wird von einem Weibtypus angezogen, der
„körperlich t o t a 1 W e i b . mit blondem, sehr üppigem
Haar, blaugrauen Augen, breitem Becken, mittelschlank und
kräftig, geistig aber stark entwickelt eine
sogenannte Intellektuelle“ sein soll. VII geht
in Damenkleidern zu „energischen Masseusen“ deren Ge-
werbe in den Grossstädten ja vielfach zum Deckmantel für
die von Masochisten gesuchten Praktiken dient: Am de-
tailliertesten schildert uns XIII seine Geschmacksrichtung:
„Mein Liebesideal — schreibt er — waren stets starke
männliche Frauen, solchen gegenüber will ich mich als Weib
fühlen“; er hat sogar eine Heiratsannonce aufgegeben, durch
die „ein effeminierter Mann eine männische Frau“ sucht und
spricht sich an anderer Stelle dahin aus, dass er vom
Weibe den Angriff erwartet; doch muss es ein ener-
gisches, starkes Weib sein, fährt er fort, die mir imponiert,
geistig und körperlich, auch ein ganz klein wenig Schnurr-
bart habe ich bei ihr gerne usw.“
Ich habe übrigens diese A^orliebe für männlich geartete
Frauen auch vielfach bei Alännern gefunden, die nicht der
Transvestiten-Gruppe angehören, auch keineswegs bisexuell,
sondern rein heterosexuell sind. Nach meiner Erfahrung deutet
171
die Vorliebe für körperlich sehr robuste Frauen, Heroinen-
t3rpen, sowie geistig sehr überlegene auch bedeutend ältere
Frauen auf einen femininen Einschlag in der Psyche des
Mannes, ebenso wie bei Frauen die Inklination für körper-
lich und seelisch zarte, sensitive oder sehr viel jüngere Männer
zur Annahme einer virilen Beimischung berechtigt. Doch
muss bemerkt werden, dass verallgemeinernde Kon-
struktionen und Vorschriften, wie sie sich hier und da finden,
ein so und so gearteter Mann würde am besten zu einer so
und so beschaffenen Frau passen, sehr häufig durch d i e
ganz enorme Differenziertheit der sexu-
ellen Anziehungsgesetze ad absurdum geführt
werden.
Unter unseren Transvestiten hat einer einen Roman ge-
schrieben, in dem er die Liebe und Ehe eines Weib-
mannes und Ma n n w e i b e s bis in die äussersten Kon-
sequenzen eingehend in charakteristischer Weise schildert.
Es verlohnt sich auf den Inhalt dieses Buches über dessen
künstlerische Qualität hier natürlich kein Urteil abgegeben
werden soll, näher einzugehen, weil es einen tiefen Einblick
in die Gedankenwelt dieser rätselhaften psychologisch so
überaus interessanten und doch bisher so wenig ergründeten
Menschen gewährt. Der Verfasser des wenig bekannten
Buches nennt sich Luz ..Frau m a n n“; er ist der dritte
der obigen Fälle. Sein Werk das den Titel führt: „Weiber-
beute. Ein merkwürdiger Roman“, Verlag von M. W. Schneider,
Budapest, 1906, dürfte hinsichtlich der Originalität des Sujets
in der belletristischen Literatur wohl einzig dastehen. Für
uns ist es von dem wichtigen, wenn auch nur bedingt rich-
tigen Grundsatz, welchen W. S t e k e 1 in seiner ausge-
zeichneten Schrift „Dichtung und Neurose“*; aufstellt und
begründet: „Jedes Dichterwerk ist eine Beichte“ von Be-
deutung.
Wie uns III. mitteilt, bediente er sich in seiner Erzählung
der Suggestion nur als Hilfsmittel, um die Eigenart des
•) Dichtung und Neurose. Bausteine zur Psychologie des Künstlers und
des Kunstwerkes von Dr. Wilhelm S t e k e 1 , Spezialarzt für Psychotherapie
in Wien. Wiesbaden, Verlag von J. F. Bergmann, 1909.
Stoffes fremder Gedankenwelt „plausibler“ erscheinen zu
lassen.
Wir geben einige unser Thema hauptsächlich beleuchten-
de Stellen wieder:
Xana Fransson hat als ausgezeichnete Reiterin, „eigentlich sollte man
sagen als ausgezeichneter Reiter, denn sie ritt nicht anders als in Männer-
kleidern und im Männersattel“ in einer reichen Industriestadt viele Verehrer
und Anbeter gewonnen. Unter diesen ist als der .erlicbteste ihr willenlos
ergeben der Kommissionsrat Benno Andreas. ‘Seiner ehelichen Ver-
bindung mit Xana widersetzt sieh heftig sein Sohn Walter, ein zarter fein-
erapfindender Jüngling von 16 Jahren mit hübschem ,, Japaneringesichtchen“.
Er hasst die Buhlerin, die seine geliebte von ihm „wie eine Heilige“ verehrte
Mutter verdrängt und in den Tod getrieben hat. Andreas will Walter nach
Australien schicken. Aber Xana möchte seine Zukunft anders regeln; sie will
an ihm ihre starke hypnotische Kraft erproben. Nachdem sie Walter
eingeschläfert hat. sagt sie zu ihrem Verlobten: „Die Ueberzeugung ist die
Seele des Menschen, sie formt sich den Leib. Ich werde aus diesem Jungen
die Ueberzeugung herausnehmen, dass er ein Mann ist und ich werde ihm
dafür die Ueberzeugung beibringen, dass er ein Weib ist. Dann ist keine
.Macht der W'elt imstande, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Infolge dieser
Ueberzeugung wird er weibliche Triebe und weibliche Leidenschaften haben,
er wird vom Manne nichts mehr wissen und in jedem Nerv seines Körpers
das weibliche Geschlecht fühlen und erkennen. Er wird schliesslich unbe
wusst Weib sein, also das Weib mit weiblicher Stimmung. Damit
sein männliches Vorleben und seine männliche Denkweise nicht das
neue W’eib in ihm stören, wäll ich ihn in der Schule des weiblichen Ge-
schlechts unterrichten.“ „Darf ich mir die Frage erlauben,“ fällt ihr der
Kommissionsrat in die Rede, „was du mit der Zukunft des Pseudomädchens
beabsichtigst'? Ich kann mir nicht denken — — “ Nanas Augen flammen
auf, als sie sagt: „Er kommt unter meine Herrschaft! Er soll in meinem
Hause die Stellung einer Gesellschafterin und Ver-
wandten einnehmen. Auf diese Weise wirst du ihn los und ich habe die
Aufsicht und Verantw'ortung für ihn. Es steht gamichts im Wege, ihn auch
nach unserer Verheiratung im Hause zu behalten, es wird keinem Menscherv
einfallen, hinter der eleganten Dame, die ich aus ihm machen werde, deinen
Sohn zu vermuten!“ Nach diesen Worten entnimmt sic einem verschlossenen
Korbe die einzelnen Stücke einer Damentoilette, legt sie der Reihenfolge nach
wie sie gebraucht zu w-erden pflegen auf den Tisch und erteilt dem anfangs
sehr widerstrebenden Knaben mit herrischer Stimme folgende Suggestion.
-Wenn du erwachst, wärst du empfinden, dass du ein Mädchen bist. Du wirst
wie ein Mädchen fühlen und nur das in deiner Nähe suchen, was ein Mädchen
sucht und kennt, du wirst dich als ein Mädchen erheben und alles tun, was
ein Mädchen tut und du wärst alles genau durchdenken, was du zu tun hast,
genau so, wie ein Mädchen es zu tun und zu lassen hat. Du wirst über
alles, was du nicht verstehst, so nachdenken, wie ein Mädchen über dasselbe
naohdenken wird, und du wirst mich fragen, was du zu tun hast! Du wirst
sanft und zart sein, in allem wie ein Mädchen, aber dti wirst mich lieben,
heiss und zärtlich und ohne Nachdenken. Du wirst mich lieben, wie ein
Mädchen seinen Geliebten liebt! Deine Stimme wird leise und lispelnd sein
und du hast immer den Trieb, mit einer Mädchenstimme zu reden! Du bist
das Fräulein Luise Werder; und alles, was du erlebst, wirst du als Fräulein
Luise Werder erleben und durchdenken!“ Nana Fransson führt ihn darauf
noch schlummernd in sein Mädchenzimmer, bringt ihn zu Bett, befestigt auf
dem Kopf des schlafenden Jünglings eine langhaarige Frauenperücke und
hilft ihr nach dem Erwachen beim Frisieren und Ankleiden, indem sie ihr
sagt, sie hätte skh gestern abend wegen furchtbarer Kopfschmerzen sogleich
zur Ruhe begeben, um erst heute ihr Engagement als Gesellschafterin der
Madame Andreas anzutreten. Mit höchstem Erstaunen sieht bald darauf der
Kommissionsrat wie sein Sohn als schlanke Dame hinter Nana einherschreitet,
nicht nur die vornehme Haltung des Kopfes und des ganzen Körpers nach-
ahmend und ebenso leicht schwebend und graziös auftretend, sondern die
Nachahmung so peinlich genau betreibend, dass er ebenso wie jene die
Schleppe rafft und mit demselben Blick hinter sich sehend an den Falten
rüttelt, um den prachtvollen Spitzenunterrock die gehörige Repräsentation zu
geben. In den nächsten sechs Wochen setzt die Abenteuerin ihr Erziehungs-
werk fort. „Pflegen Sie Ihre Schönheit“ sagt sie zu dem ehemaligen Walter,
der jetzigen Luise, „Eitelkeit und Putzsucht sind zwar keine schönen Worte,
aber sie sind die Unterlagen der weiblichen Schönheit; denken Sie stets daran,
dass Sie als Dame jeden Augenblick den in Putz grossgezogenen Frauen-
blicken ausgesetzt sind und sorgen Sie, dass Sie die Kritik aushalten können
und kritisieren Sie wieder.“ Sie geht mit ihr in einen grossen Modebazar.
Luise selbst wählte aus den fertigen Roben ein hellblaues Wollkostüm mit
schönem Spitzenüberwurf aus, das als Hausrobe dienen sollte. Dazu kaufte
sie einen karmoisinfarbigen Morgenrock mit breiter Damastschleife, Unter-
röcke, eine Menge Putz- und Toiletteeffekten, eine Ausstattung in Spitzen-
unterwäsche, Häkel-, Strick- und Näheinrichtung, mehrere Hüte nach der
Mode des Tages, Sonnenschirme und eine solche Masse von allerlei kost-
spieligem Tand, dass Nana Fransson schliesslich Einhalt gebieten musste,
sonst würde Luise den halben Laden ausgekauft haben.
Da Nana den jugendfrischen Sohn Bennos \iel mehr liebt, als den
verliebten griesgrämigen Alten, suggeriert sie ihm wiederholt folgendes. „Sie
werden mich als ihren Geliebten lieben, ohne dass Sie cs wiesen. Diese un-
bewusste Liebe wird sich immer höher entwickeln, bis Sie mich als Ihren
Mann erkannt haben und nicht anders können, als mich lieben. Dieses alles
wird in Ihnen werden, aber Sie wissen nichts davon, bis ich es Ihnen sage.
Sie w'erden Kinder sehr lieb haben und mit den Jahren wird der Wunsch in
Ihnen wachsen, selbst Mutter zu werden.“ Es heisst dann noch; „Sie hatte
ihrem Zögling einen etwas schwärmerischen Blick und eine heitere, froh-
sinnige Gemütsart suggeriert, die den buntesten Variationen zugänglich war.
Ein melodisches Backfischlachen, eine eigene Art des Schmollens, des Weinens,
der Lustbarkeit und Ausgelassenheit bis zu Trauer und Schmerz, die ganze
174
Skala der Stimmungen, die nur das Weib haben kann, hatte die Hypnoti-
seurin in seine Seele gezaubert, alles war rocht weiblich, vom Erröten bis
zum Erblassen, Erzittern und ängstlichen Aufkreischen.“ Der Autor fügt
hinzu: „Wenn der Gedanke annehmbar gewesen wäre, dass Luise Werder
tausend Jahre alt werden könnte, hätte man wohl hoffen dürfen, dass der
machtvolle Wille zum weiblichen Geschlecht sogar ihre
männlichen Organe mit der Zeit vollständig zum Absterben gebracht haben
würde.“
Drei Jahre war Nana mit dem Kommissionsrat verheiratet, sie hat ihm
einen Sohn namens Otto geboren; da stellt sich in dem alten Rat eine immer
grösser werdende Abneigung gegen das „raubtierartige“ Wesen seiner Ge-
mahlin ein und als eines Tages ein ihm befreundeter Rentier Müller um die
Hand der graziösen Gesellschafterin anhält, v-ilangt er zornig, dass Nana
nun endlich dem Mummenschanz mit seinem Sohn und Eiben ein Ende be-
reiten solle. Kalt und überlegen .weist ihn 'iie stolze Gattin zurück. Da
er sich aber immer wieder gegen sie auflehnt, versetzt sie ihn schliesslich
mit grosser Mühe in einen hypnotischen Schlaf und befiehlt ihn sich in aer
Frühe des nächsten Tages im Garten seiner Villa zu erschiessen. „Am
nächsten Morgen wurde ganz München von der Kunde über den Selbstmord
des Kommissionsrats Andreas erschüttert;“ man nahm an, dass der gut-
situierte und glücklich verheiratete Manu sich in einen Anfall von Geistes-
störung entleibt habe, munkelte auch wohl von der tiefen Sorge des Ver-
storbenen um seinen verschollenen Sohn, der vor Jahren nach Australien
durchgegangen wäre. Nana, die Herrin eines grossen Vermögens geworden
war, gibt ihren Sohn Otto in Pension und geht mit ihrer Gesellschafterin
auf Reisen. Deren innige Liebe zu erringen ivird immer mehr der Gegen-
stand ihrer Sehnsucht, auf deren Erfüllung sich ihr ganzes Denken konzen-
triert. Lange erwägt sie, ob sie nicht Luise Werder wieder zu dem machen
soll, aus dem sie hervorgegangen, zu W’’alter Andreas, aber sie fürchtet, die
gehorsame und verschämte Luise könne sich in einen feindlichen, rachsüchtigen
Mann verwandeln; daher beschliesst sie, um die Geliebte dauernd an
sich zu fesseln, selbst Mann zu werden. Sie suggeriert ihr, f^Iadame
Andreas sei gestorben; dann lässt sie sich das Haar kurz schneiden, legt
MännerkJeidung an und gibt sich als der reiche Mister Miller aus und
bald ist Luise infolge des mächtigen hypnotischen Einflusses vollständig das
empfangende hingebende Weib des Mannes Miller. Sie ziehen nach London.
„Der neugebackene Herr Miller sucht hier mit Nachdruck alles aus der Welt
zu schaffen, was ihn an die Zeit seiner Weiblichkeit erinnert. Vom Feder-
halter und Briefpapier bis zum Münchener Dcckelkrug wird alles männlich,
selbst die lange Pfeife durfte nicht fehlen. Sie versucht eine Zeitlang sogar
den Haarflaum ihrer Oberlippe durch Bartwuchsmittel und Rasieren zu
kräftigen, wie sie früher den Flaum aus Walter Andreas Gesicht entfernt
hatte. In dem Viertel der Riesenstadt, wo sie ihre Wohnung genommen
haben, kam Mr. Miller bald in das Renomm4 eines soliden aufmerksamen
Ehemannes. Die junge hübsche Frau sah man nur selten, aber wenn man
sie sah, erquickte man sich allerseits an der Eleganz und Sanftheit der
175
schönen Mistress. Und dem Ehemann musste man es lassen, ein verlieb terer^
zärtlicherer und eifersüchtigerer Vertreter der Spezies Gatte war kaum za
denken. Mister Miller sass morgens früh im Boudoir seiner Frau und sah
in seinem türkischen Schlafrock und seinen Pantoffeln ganz respektabel aus.
Luise bereitete den Tee und schwebte wie ein heimfrohes Weibchen durch das
Zimmer, kokett, hübsch, rotbackig und verliebt. Wer hätte in diesem
neckischen, halb angekleideten Persönchen im weissen Unterrock, in weisser
spitzenbesetzter Jacke, unter der das hochschliessende Korsett und der
Spitzensaum des eleganten Hemdes hervorlugten, einen Angehörigen des
männlichen Geschlechts vermutet? Wer hätte gedacht, dass dieses schwere,
üppige, durch eine Spange zusammengehaltene Haar, die mit massiven
goldenen Ringen geschmückten Ohren und das echt weibliche Profil, das
weiche und, rundliche Gesicht und die wohllautende Altstimme einem Manne
gehörten? Frau Luise besorgte die sämtlichen häuslichen Arbeiten selbst,
seit Mister Miller ihr eine Leidenschaft für den Haushalt suggeriert hatte,
und sie war in jeder Beziehung eine tadellose Hausfrau. Nach dem ersten
Frühstück zog sie sich auf eine halbe Stunde zurück, frisierte das schwere
Haar, zog ein Kattunkleid an und schlüpfte in eine Sackschürze. Wenn sie
dann mit den Putzwerkzeugen durch die Appartements trippelte, überfleissig
und der geschworene Feind jedes Stäubchens, dann konnte Mister Miller wieder
nicht anders als sagen; „Du bist die geborene Frau. Eine wirkliche Haus-
frau bist du!“ An die Früharbeit schloss sich der obligate Morgenspazier-
gang an in Begleitung ihres Mannes. Zu diesem machten beide Gatten sorg-
fältige Toilette. Die winterliche Temperatur verlangte eine solide Garderobe
und Frau Luise Miller repräsentierte in ihren mit Vorliebe getragenen
schottischen Farben eine elegante Erscheinung. „Die schweren Wollkleider
warfen volle Falten über die Glanzlackstiefel und die mit Grazie getragene-
Schleppe Hess den kostbaren Unterrock zu voller Geltung kommen. Mister
Miller in elegantem Ulster und Zylinder führte seine Gattin in eines der
Frühstücksrestaurants, wo man das zweite Frühstück nahm und wozu Mister
' Miller Ale- und die Mistress Limonade tranken. Dann kam eine kleine Rund-
reise entlang den Schaufenstern der Modebazare. Das hätte Luise unter
keinen Umständen missen mögen. Sic studierte jeden neuen Stoff, jede Spitze,
Schleife oder Blume, übersah mit Kennerblick die neuen Modelle der Roben-
unterröcko und die anderen Toilettengegenständc und hatte sogleich die Ge-
heimnisse heraus, womit die Effekte erzielt waren. Bis herab auf den Haar-
schmuck, Wäsche, Korsett, Stiefel und Handschuhe erstreckte sich ihr
Interesse.“
Allmählich verstärkte sich in beiden Ehegatten der Wunsch ein eigenes
Kind zu besitzen. Das würde ihr Glück vollständig machen. „Ich dachte-
schon daran, ein fremdes Kind anzunehmen,“ sagte eines Tages Mister Miller.
„Nein,“ erwiderte sie, „rede nicht davon, ein Kind, das ich nicht selbst ge-
boren habe, könnte mir keine rechte Mutterliebe abgewinnen.“ Und nun
kommt die Höhe dieser absonderlichen Geschichte, so grotesk und phan-
tastisch, dass es schon verwandter Seelenregungen bedarf, um ihre Dai^
Stellung zu wagen. Mister Miller, der sich eines Tages guter Hoffnung fühlt,.
suggeriert seiner Frau, sie werde am 21. Mai ein Kind gebären. „Vom
eigentlichen Geschlecht des Mannes oder des Weibes hatte Luise Miller keine
Ahnung, sie würde durch keine Macht, ausser durch die Nanas, zu der Er-
kenntnis gebracht worden sein, dass sie ein Mann und dass ihr Mann ein
Weib war. Und so wusste Frau Luise auch von der .Mutterschaft nichts
anderes, als dass sie ^lütter werden würde.“ Trotzdem war ihr ganzes
Wesen verändert, ihre Neigung zur Ausgelassenheit wich einer Neigung zum
Ernst, sogar zur Melancholie. Oft sah sie nach dem Kalender, wo sie sich
den 21. Mai rot angestrichen hatte und seufzte, „wenn ich nur erst darüber
wäre.“ Sie hatte alle Hände voll Arbeit, da sie die Babyausstattung selbst
anfertigte. Drei Wochen vor dem Zi. Mai reist Mister Miller, der sich in
letzter Zeit recht unbeholfen >ind verdriesslich fühlte nach Ungarn. Er trug
dort für die Zeit seines Aufenthalts in einer Pension wieder die Kleider
seines eigentlichen Geschlechts und gebar einen Kna''.;n. Am 21. Mai kehrte
er nach WTen, ihrem jetzigen Aufenthaltsort zurück. In freudigster Auf-
regung fliegt sie ihm an den Hals und sagt; „Heute wird es ja sein.“ „Hast
du auch alles bereit, Luise? „Es ist alles in bester Ordnung,“ erwiderte sie.
Nachts suggeriert er ihr, sie habe geboren und legt sacht das Kind neben
sie. Als sie erwmcht, zeigt sie dem Mann, der müde an ihrem Bette sitzt,
mit mütterlichem Stolz das Kind, das sie nachts geboren zu haben wähnt.
„Ein famoser Junge!" rief der Vater impulsiv. „Nein, es ist ein Mädchen!“
so verbesserte Frau Luise wichtig und liess nicht mit Versuchen nach, bis
das Baby die Lutschflasche nicht mehr fallen liess. Klister Miller aber be-
kam zum erstenmal, seit er sich besinnen konnte, einen roten Kopf, der
weibliche Verbrecher war bisher noch nicht errötet bei seinem kaltblütig be-
rechneten und in gleichem Tempo ausgeführten Taten. Da die Millers über-
haupt ein abgeschlossenes Leben zu führen gewohnt waren und die fanatisch
fleissige junge Frau alles selbst tat, bekam kein Mensch die kleine Luise
oder Lulu zu sehen. Niemand ahnte, dass sie ein Knabe war, nicht einmal
seine Mutter, die ja eigentlich sein Vater war.
Viele, viele Jahre floss nun das Leben dieser verwechselten Menschen
in ganz geregelten Bahnen ruhig dahin. Miller trieb einen wahren Kultus
mit sdner reizenden Frau, auf die er sehr stolz war und die er über alles
liebte. An allen Wänden der Villa finden wir ihre Portraits. „Ueber den
Schreibtisch des Hausherrn hing ihr Bild in Oel, aus Künstlerliand. Sie war
in grosser Toilette dargestellt, in himmelblauem Prunkkostüm, mit kost-
barer Spitzenmantille, eine breite goldene Kette fiel über den Knöchel der
Hand, die die lange Schleppe trug. Die geraffte Schleppe liess einen weissen
Unterrock von echten Brüsseler Spitzen voll zur Geltung kommen. Die
weissen Paspols auf Rocksaiim, Aermel und Gürtel und Hals harmonierten
mit ihrem flachsfarbenen Haar, das schwer und wüchtig bis über die Ohren
fiel und von goldverzierten Schildpattkäramen gehalten wurde. Auf diesem
Bild tnig sie ausnahmsweise einen Schäferhut mit Blumen, ohne Schleier.
Die lange Taille und die eigenartige Form der Tournüre gaben der Dame
etwas von jener graziösen Schlankheit, die Mister 'Miller veranlasste, sie mit
■einer Blumenfee zu vergleichen. Dann gab es Bilder aus der Zeit, wo sie
177
Gesellschafterin der Madame Andreas war. Einmal in duftigem Ballkostiim
mit wallender Schleppe und Schleife, Rosen im Haar. Das andere Mal an
ihrem Arbeitstisch in weissem Tüllkleid mit niedlicher Zierschürze. Es gab
auch ein Eheportrait, worauf sie in grauem Reisekostüm, überhaupt ganz in
grau dargestellt war. Sie kam sich neben dem stattlichen Mister Miller
ganz unscheinbar vor, aber diese Rolle gefiel ihr sehr gut. Die Leidenschaft
Millers für Situationsportraits seiner Frau grenzte ans Fanatische. Er be-
sass von ihr Bilder in losem Haar, weissem IJnterrock und Frisiermantel, in
w'eisspunktiertem Waschkleid und weisser Schürze vor dem Plättbrett. In
heller Sommertoilette hinter dem Kinderwagen im Park und so weiter bis in
die Dutzende.“ Sie selbst brachte es bald überhaupt nicht mehr fertig, sich
als Frau zu denken, sie hatte die grösste Abneigung gegen das Frauengewand
insofern es für ihren eigenen Gebrauch bestimmt gewesen wäre. „Er fühlte
sich vollkommen als Mann und Herr. Das Befehlen und Herrschen, überhaupt
das Verkörpern und Demonstrieren der männlichen Kraft war ihm ange-
messen und stand ihm zu Gesicht. Er fühlte sich der kleinen, gehorsamen,
und schmachtenden Frau Luise in jeder Beziehung überlegen. Es würde
ihm lächerlich und ekelhaft vorgekommen sein, dass dieses gebrechliche Ge-
schöpf der Mann und er die Frau hätte sein sollen. Er trug gern schwere
Anzugstoffe und den Künstlermantel nebst Zylinderhut; seine Stiefel hatten
dicke Sohlen. Das alles schien ihm seine männliche Kraft zu bedingen, er
war ja auch wirklich stark und hob seine Frau wie eine Puppe hoch.
Andererseits hatte er eine wirkliche Leidenschaft, in Frau Luise alles Schwache,
Zierliche, Weibliche vereinigt zu sehen. Es war ihm eine Wonne, eine Frau
zu haben und ihr Mann zu sein, und diese Wonne wurde noch grösser, wenn
er dachte, dass seine Frau eigentlich doch ein Mann war. Sein abnormer
Organismus war ganz verliebt in diesen abnormen Zustand. Nana hätte nie
den Walter Andreas so fanatisch lieben können, wie der Mister Miller seine
Frau Luise liebte.“
Zwanzig Jahre schon befand sich Luise ununterbrochen in diesem
hypnotischen Bann, als Mister Miller eines Tages bedenklich erkrankte, er
hatte ihr auf das Bestimmteste verboten, einen Arzt zu holen. Entsetzt
hörte sie, wie er ihr in seinen wilden Fieberphantasien zurief: „Du bist
nicht die Frau, Luise, sondern der Mann, ich bin die Frau, du bist mein
Stiefsohn und ich bin die Frau deines Vaters, du bist Walter .Andreas, deines
Vaters Erbe. Mein Sohn Otto ist unberechtigt, dein Erbe zu behalten. Ich
bin Nana Fransson und Lulu ist imser Sohn, ich habe ihn geboren und du
bist sein Vater.“ Sie hält alles für die tolle Ausgeburt eines erkrankten
Gehirns und hält es für gänzlich ausgeschlossen, dass auch nur ein Körnchen
Wahrheit in diesen wirren Reden enthalten sein könne.“
Wir wollen hier unseren Bericht abbrechen. Ebenso ge-
schickt und eigenartig tvie der Verfasser den Knoten geschürzt
hat, weiss er ihn auch zu entwirren und zu lösen. Wir können
uns aber mit der Wiedergabe dieser für uns psychologisch be-
merkenswertesten Schilderungen begnügen und verweisen den
Ulrachfeld Die Transvestiten. 12
178
Leser, der sich für die weitere Entwickelung und allmähliche
Lö.‘^ung der seltsamen Vorgänge und Konflikte interessiert auf
das Original, in welchem uns der Verfasser ein so anschau-
liches Bild seines merkwürdigen Lmpfindungslebens gegeben hat.
Dass dem Verweichlichuiigstrieb schon als solchem, ohne
dass es dabei der Vorstellung oder Anwesenheit einer zweiten
Person bedarf, ein erotischer Charakter innewohnt, geht unter
anderem daraus hervor, dass die Ausführung der Metamor-
phose allein deutlich geschlechtliche Lustf'mpfindungen
auslöst, abgesehen davon, dass sie wie früher bereits erwähnt
mit dem Gefühl sexueller Schamhaftigkeit verknüpft ist.
Zwar bemerken einige, namentlich III und VIII, sowie auch
XIII, die im übrigen ihren Zustand sehr klar beobachtet und
beurteilt haben, dass der Eeiz der Frauenkleidung für sie
nichts Erotisches habe, es sei nur ein z e i t -
weises Hervordrängen ihres weiblichen
Charakters. Es scheint dies jedoch nach der ganzen
Art der Erscheinung und vor allem nach dem. was von den
analoger Fällen nutgeteilt wird, eine irrtümliche Auffassung
zu sein. So hören wir von einem (II.), dass sich, als er
mit 11 Jahren zu masturbieren begann, sogleich „damit die
Vorstellung vom Verkleiden verband,“ von einem andern (I.),
dass, als er sich selber im Traum als Dame erblickte, in dem
Moment, als er sich den Schleier umbinden wollte, die Pollu-
tion erfolgte. Ein Dritter (IV.) bekennt, dass, als er sich
bald nach der Konfirmation heimlich in Abwesenheit der
Eltern das cremefarbene Damenkleid der Mutter anzog, zum
ersten Mal eine Erection eintrat, wobei er „das naive Gefühl
hatte, es sei eine Sünde.“ VII berichtet, dass er, wenn er
sich verkleidete und dann im Zimmer nach Frauenart den
Rock hochraffte oft, ohne dass er sich berührte, ejakulierte.
Auch X gibt an, es hätte ihn erotisch befriedigt, wenn er
sich _in der Stille angetan mit Korsett, feinen Unterröcken,
entzückenden Kleidern, Hut, Schleier, Armbändern und Hals-
ketten vor dem Spiegel stehend betrachtet hätte“ und XL,
dass .seine Sinnlichkeit sich in erster Linie auf Befriedigung
der Kostümsehnsucht gerichtet sei, dass demgegenüber alle
andern Wünsche zurücktreten“. „Wenn ich aber irgend welche
179
weiblichen Kleidungsstücke an mir hatte“ — fährt er fort —
trat sofort sexuelle Erregung ein und gleichzeitig das Ver-
langen nach einem bestimmten Typus Weib.“ XII erzählt,
dass ihn die Betrachtung seines „weibisch entstellten Spiegel-
bildes“ sexuell stark errege und XIII ergänzt seine früheren
Angaben dahin, dass er, wenn er keine Frauenkleider an-
hätte, nahezu impotent sei, dass er dagegen, wenn er eine
neue Damentoilette anprobiere und fände, dass sie gut sitze,
sofort eine Erektion und häufig auch eine rasche Ejakulation
bekäme. Bei manchen dieser Schilderungen ist man fast ver-
sucht, zu denken, dass hier eine Spaltung der Persönlichkeit
dergestalt eintritt, dass der männliche Teil in
der Psyche dieser Menschen sich anihrem
weiblichen Teil sexuell errege, dass sie
sich nicht nur zu dem Weibe ausser sich,
sondern mehr noch zu dem Weibe in sich
hingezogen fühlen. Tatsächlich dachte ich bei den
ersten, die sich mir vorstellten, nachdem ich Homosexualität
als nicht vorliegend erkannt hatte, zunächst an Mono-
sexualität. Spricht doch einer (IX) geradezu davon, dass ihn
„die Sehnsucht, sich als Frau zu fühlen dazu verleitet habe,
den Koitus an sich selbst zu vollziehen“. Aehnliche auto-
cohabitatorische Gedanken und Handlungen sind auch bei
VH und XII nachw'eisbar (vgl. jedoch pag. 201ff.).
So eigenartig das Triebleben dieser Personen ist, so
wenig scheint ihre Intelligenz — ein Satz, der ja für die
sexuell von der Norm abweichenden im allgemeinen gilt —
von dem Durchschnitt derjenigen Klasse abzuweichen, zu der
sie nach Abstammung, Beruf und sozialer Stellung gehören.
Ich sage „scheint — denn 17 Fälle sind selbst bei gewissen-
hafter Anamnese und Analyse kein ausreichendes Material*),
*) Ich bemerke, dass ich ausser den hier beschriebenen noch etwa 8
sehr analoge Fälle kennen lernte, von denen ich bisher keine genauen
Anamnesen erlangen konnte. Ob es sich bei dem erotischen Verkleidungs-
drang um eine seltene Ausnahmeerscheinung handelt, oder ob er öfter
Yorkommt, als wir zunächst anzunehmen geneigt sind, entzieht sich zurzeit
noch jeder Beurteilung. Auch von der Homosexualität glaubte man lange,
es sei eine Rarität, bis man nach und nach ihre relative Häufigkeit er-
12*
180
nur darauf ein nach jeder Richtung abschliessendes
Urteil gründen zu können. Die bisher bekannten Transvestiten
sind zumeist geistig regsame, gewissenhafte Leute von viel-
seitigen Interessen und umfassender Bildung. Es geht dies
auch aus ihren Aufzeichnungen hervor, die ich zum Teil hier
wörtlich wiedergegeben habe, um neben der Darstellung ihres
Affektlebens auch ein Bild ihrer intellektuellen Fähigkeiten
zu geben. In der Schule zeichneten sich fast alle durch Streb-
samkeit, Fleiss und besonders leichte Auffassungs-
gabe aus (was von manchen Psychiatern heutzutage aller-
dings auch schon als leichtes Stigma degenerationis angesehen
wird.) Gegenwärtig befinden sich alle in geordneten Verhält-
nissen und guten Stellungen, in die sich manche durch grosse
Energie und Tüchtigkeit heraufgearbeitet haben. I, II und
IV sind Kaufleute, alle in der zweiten Hälfte der Dreissiger,
III zwischen 40 und 50 alt, der Verfasser des zitierten
Romans ist neben seinem kaufmännischen Beruf als befähigter
Schriftsteller tätig, auch XIV — 33 Jahre alt — steht im
literarischen Leben. XIII ist Buchhändler (47 Jahre), V be-
findet sich im Kunstgewerbe an leitender Stellung, VI ist ein
geistvoller Illustrator, beide in den Vierzigern, VIII ist ein
philosophisch beanlagter Mediziner, XII Jurist, zur Zeit ver-
mutlich Referendar, beide Mitte der zwanzig, IX, 37 Jahre,
war Offizier, guter Reiter und wie V ausgezeichneter Schütze,
hat zwei Feldzüge mitgemacht, in denen er dekoriert wnirde,
X ist Techniker, 40 Jahre und XI Lehrer, ca. 50 Jahre alt,
VII. endlich ein vor kurzem pensionierter Polizeibeamter (im
Anfang der 40). XV jetzt 29 Jahre hat die Plätterei erlernt,
war aber in so mannigfachen Berufen beschäftigt, dass sie gut
nach Nordamerika passen würde, wo Bekannte, die sich einige
Zeit nicht gesehen haben, einander zu fragen pflegen: „in w'hat
business are you n o w ?“, „w'elchen Beruf haben Sie jetzt?“
kannte. Zwecks genaueren Studiums . der Sexaalmetamorphose ist es dem
Verfasser dieser Arbeit natürlich sehr erwünscht, wenn sich ihm oder anderen
Spezialforschern weitere Vertreter dieser Gattung anvertrauen. Fall XIII
hat ganz Recht, wenn er sich von der wissenschaftlichen Erforschung und
der Publizierung dieser Sonderetscheinung auch für seine Gefährten mehr
Verständnis und ein besseres Los verspricht.
181
Auffallend könnte es auf den ersten Blick erscheinen,
dass sich unter unserem Fällen keiner befindet, der als Damen-
darsteller auf der Bünne wirkt. Man sollte doch annehmen,
dass es für diese Menschen, die sich im weiblichen Kostüm
so überaus wohl fühlen, keinen reizvolleren, geeigneteren Beruf
geben könne. Vielleicht ist es nur ein Zufall, dass sich unter
unseren Transvestiten kein professioneller „Damenkomiker“
findet, vielleicht ist es auch dadurch mitbedihgt, dass diese
Personen bewusst oder unbewusst das blosse Anlegen der
Frauentracht als eine erotische Betätigung empfinden und
daher ursprünglich eine begreifliche Scheu und Zurückhaltung
hatten, sich darin öffentlich zur Schau zu stellen. Bei den
Homosexuellen, wo die Verweiblichung ein mehr sekundäres
Symptom ist, oft aus dem mehr oder weniger deutlichen Drange
geboren, Männern zu gefallen, kommt dieser innere Wider-
streit weniger in Frage.
Zweifellos gibt es aber auch unter den Damendarstellern,
die übrigens in England, Amerika und den romanischen Län-
dern verbreiteter und beliebter sind wie bei uns, eine ganze
Reihe vollkommen heterosexueller Transvestiten und
der von Kräpelin in seinem grossen grundlegenden Lehr-
buch der Psychiatrie (pag. 784) vorkommende Satz: „Moll
behauptet, dass Damenkomiker regelmässig homosexuell seien“
ist in dieser Allgemeinheit sicherlich falsch.*) Diese
Meinung gibt allerdings das wieder, was man gewöhnlich auch
im Volk über diese Spezialität denkt. Es verlohnt sich hier
an das kleine Erlebnis zu erinnern, das XI so schlicht und
eindrucksvoll berichtet. Er erzählt, dass er in der Stadt X
eines Tages ein Billet für ein Variete-Theater erhielt. „Ich
war bereits 19)4 Jahr alt“ — bemerkt er — „und hatte noch
nie eine solche Vorstellung besucht, wusste auch nichts von
Damendarstellern. Durch das Gespräch zweier Herren, die
vor mir sassen. wurde ich erst darauf aufmerksam, dass die
Vortragende Dame männlichen Geschlechts sei. Einer der
Herren Hess dabei eine Bemerkung über die Neigungen fallen,
•) Falls sich das Kräpelinsche Ci tat auf das Buch: , Konträre Sexual-
empfindung'' stützen sollte, stimmt es übrigens mit dem Original nicht voll-
kommen überein.
182
die derartige Individuen ihrem eigenen Geschlecht gegenüber
haben sollten. Dem anderen schien das nicht recht glaubhaft,
aber der erste versicherte, er wisse es ganz genau,
jedes männliche Individuum, das sich
weiblich kleide, gehöre zu jener Rasse
von Menschen. Ich ging an diesem Abend sehr nieder-
geschlagen nach Hause und verbrachte eine schlaflose Nacht.
Noch lange klangen mir diese Worte im Ohr. Wie kam hier
jemand dazu, über seine Mitmenschen ohne weiteres den Stab
zu brechen und etwas zu behaupten, was unmöglich wahr sein
konnte. Denn ich fühlte doch trotz meiner
Sehnsucht nach Weiberkleidern nicht die
Spur von einerNeigung zum Manne in mir.“
Dass das irrtümliche Urteil über die Damendarsteller —
auch für die Damenschneider gilt ähnliches — revisionsbe-
dürftig sei, ging schon aus der kleinen statistischen Studie
hervor, die „ein Mediziner“ 1901 im III. Jahrbuch des Jahr-
buchs für sexuelle Zwischenstufen unter dem Titel: „Vom
Weibmann auf der Bühne“ veröffentlicht hatte. Der unge-
nannte Verfasser hatte an 14 Damenimitatoren („Soubretten-
parodisten“) Erhebungen und Untersuchungen angestellt. Von
diesen waren 8 verheiratet, davon 5 in kinderloser, aber an-
scheinend glücklicher Ehe, von den ledigen 6 waren 2 voll-
kommen normalsexuell „begeisterte Ver-
ehrer des wirklichen weiblichen Ge-
schlechts“, 4 homosexuell, darunter 3 passive Pygisten.
Unter den 8 Verheirateten sind 5 rein heterosexuell, 3 homo-
sexueller Nebenneigungen stark verdächtig. Es wären dem-
nach von 14 Damendarstellern 7 ausschliesslich heterosexuell,
7 ganz oder teilweise homosexuell veranlagt oder noch prä-
ziser ausgedrückt, 7, also genau die Hälfte,
heterosexuell, 4 homosexuell, 3 bisexuell.
Die Vorliebe für weibliche Kleidung und weibliches Wesen ist
fast allen in gleicher Weise eigen. Acht von den Herren,
darunter 5 von den Verheirateten bekennen, dass sie auch
innerhalb ihrer Wohnung fast nur weibliche Kleidung, auch
schon seit Jahren während der Nacht Damenhemden, Nacht-
jäckchen etc. tragen. Drei von den Verheirateten pflegen auch
183
mit ihren Frauen zu jeder Zeit auf offener Strasse in Damen-
kleidern spazieren zu gehen, auch längere Reisen im Damen-
c 0 u p e zu machen, wobei sie versichern, dass ihnen daraus
noch niemals Unannehmlichkeiten erwachsen seien. Acht haben
beim Militär mit der Waffe gedient, drei darunter als Ein-
jährig-Freiwillige. Im einzelnen sind die Lebensschicksale
dieser Damenimitatoren sehr interessant. So tritt einer, ein
Franzose von 43 Jahren, Vater zwei sehr hübscher Töchter
gemeinsam mit der jüngeren, einem 17 jährigen Mädchen auf,
der Vater als überaus graziöse Pierette, dieToch-
t e r a 1 s P i e r r 0 t. Er ist eine stille, sanftmütige Natur,
praktischer Hausvater, von den Seinen geliebt und verehrt;
„von konträrer Sexualempfindung offenbar keine Spur“. Ein
anderer, ebenfalls verheiratet, hat ein sehr abenteuerliches
Leben hinter sich, das in \deler Hinsicht an unseren Fall XIII
erinnert. Nach dem frühzeitigen Tode seiner Eltern der
Schule entlaufen, geht er als Schiffsjunge nach Amerika. In
New York wird er Musiker und tritt, da er in einem Männer-
orchester keine Stellung findet als Mädchen verkleidet i n
eine Damenkapelle ein. Mehrere Jahre reist er mit
dieser Kapelle als F 1 ö t e n s p i e 1 e r i n , ohne dass jemand
sein wahres Geschlecht ahnt. Als er diesen Posten verlässt,
hat er inzwischen „soviel Geschmack an der weiblichen Klei-
dung gefunden“, dass er sich nicht mehr entschliessen kann,
sie abzulegen. Er verdingt sich hintereinander als Stuben-
mädchen, Sodawasser-Verkäuferin, Kellnerin, Büffetmamsell
und schliesst sich dann einem Cirkus an, wo er es von einer
Statistin rasch bis zur Pannereiterin bringt. Ein
Sturz vom Pferde, bei dem er sich eine Sehnenzerrung zu-
zieht, beendet diesen Abschnitt seines Lebens. Er produziert
sich dann zunächst im Cirkus weiterals weiblicher Musik-Clown
und vereinigt sich dann mit zwei „wirklichen“ Damen zu
einem Gesangsterzett, bei dem er die zweite Stimme singt
und tritt schliesslich auf der Spezialitätenbühne als Damen-
imitator auf. Von den recht charakteristischen Briefen, welche
Ür. med. S. auf seine Rundfrage bei den Damendar steilem
erhalten hat, seien hier zwei wiedergegeben :
„Wurde schon als Junge, schreibt der eine, von meiner
184
Mutter gern in Mädchenkleider gesteckt, entdeckte meine
Stimme und mein Talent, als ich 19 Jahre alt war, Hess mich
ausbilden, reiste nach Ableistung meiner lililitärpilicht mit
meiner Mutter und meiner Schwester, die darin wetteifern,
mich stets so hübsch als möglich herauszuputzen. Wenn icli
mich in Damenkleidern nicht behaglich fühlte, würde ich
mich nicht darin auf der Bühne producieren. Ich habe eine
Vorliebe für echten Schmuck, namentlich Brillanten, und für
feine Wäsche, die ich nicht elegant genug bekommen kann.
Bei meinen Toiletten verlasse ich mich meist auf den Ge-
schmack meiner Mutter und Schwester. In Damengesellschaft
befinde ich mich am wohlsten. besuche auch zuweilen als
Dame kostümiert mit den Meinigen Kaffeegesellschaften, bin
dort sehr beliebt und wird meine Fertigkeit in weiblichen
Handarbeiten (meine Spezialität darin ist point-lace) sehr be-
wundert. Im Hauswesen mache ich mich, wenn ich Zeit habe,
gern nützlich. Bettenmachen, Abstäuben, Wäschelegen,
Plätten gehört zu meinen liebsten Beschäftigungen. Das hält
mich nicht ab, mit Vorliebe starke Zigarren zu rauchen und
auch am Kneiptisch meinen Mann zu stellen. Aus Süssig-
keiten mache ich mir nichts. In meine Photographien, soweit
sie mich als Dame darstellen, bin ich verliebt, Neigung zu
Damen habe ich nur vorübergehend gespürt. Etwaige Huldi-
gungen der Herren machen auf mich keinen Eindruck. Nach
dem Alter soll man „Damen“ eigentlich nicht fragen. Indess,
wenn Sie es denn durchaus wissen wollen: Ich bin auf dem
besten Wege, 30 zu werden. Aber, bitte, sorgen Sie dafür,
dass es keiner meiner Agenten erfährt. Genehmigen Sie etc.“
Ein zweiter antwortete:
„Wer nie das Glück an sich erfuhr.
Den Unterrock zu tragen.
Hat von der Sache keine Spur
Und soll nicht darnach fragen.
Ein .Jeder schaffe sich seine Welt.
Fragt nicht, ob’s anderen gefällt!“
Fast alle unsere Transvestiten stammen aus an-
scheinend gesunden Familien; eine nennens-
wertere neuro-psychopathische Belaistung Hess sich nur in
185
zwei Fällen nachweisen. Das schliesst natürlich nicht aus,,
dass gleichwohl bei allen eine neurotische Dispo-
sition vielleicht sogar im. Sinne der von den Autoren
immer weniger prägnant gefassten degenerativeii
Konstitution vorhanden sein könnte. Bei XI war
der Vater Alkoholiker, bei VII die Eltern blutsverwandt.
Dieser — der Polizeibeamte — ist übrigens der einzige unter
unseren Fällen, bei dem der erotische Verwandlungstrieb durch,
die Vergesellschaftung mit allerlei höchst merkwürdigen asso-
ciativen Ideen und Handlungen in einer Form auftritt, die
den Gedanken nahelegt, dass sich hier eine ernstere Störung
der Geistestätigkeit im Zusammenhang mit dem Verkleidungs-
drang entwickelt hat. Ob und inwieweit der Verkleidungs-
trieb an und für sich unter den Begriff der „Krank-
heit“ fällt, wollen wir im nächsten Kapitel erörtern, wo wir
in das eigentliche Wesen der ganzen Erscheinung einzu-
dringen uns bemühen wollen.
II.
Kritischer Teil.
(Differentialdiagnose)
Motto; Statt kein Gesetz ohne Ausnahme
sollte man lieber sagen keine
Ausnahme ohne Gesetz.
Wie ist nun wohl der eigenartige Verkleidungstrieb zu
verstehen, dessen Symptomatologie wir im vorstehenden
kennen lernten. Handelt es sich vielleicht doch nur um eine
Abart der Homosexualität? Liegt eine Erscheinung
vor, die in das Gebiet dessen gehört, was Havelock E 1 1 i s
Auto-Erotismus nennt. Hermann Rohleder als
Automonosexualismus beschrieben hat, ein dem
von Näcke alsNarcissismus bezeichneten verwandtes
Bild? Haben wir es mit einer besonderen F orm des Maso-
chismus zu tun? Fällt der Zustand in die Rubrik des
Kleidungsfetischismus, beruht er auf einer Wahn-
idee, einer „Verrückung“ der Persönlichkeitsbeurteilung, die
wir in der Psychiatrie Paranoia nennen oder aber liegt
hier ein selbständiger Complex vor, der sich unter
keinem der bisher bekannten Bilder einordnen lässt? Das
differentialdiagnostisch zu untersuchen, soll im folgenden
unsere Aufgabe sein.
Da ähnliche Triebe der Verweiblichung und Vermänn-
lichung, wie wir sie hier beobachteten, früher nur bei Kon-
trärsexuellen beschrieben waren, war man zunächst geneigt
anzunehmen, dass auch hier Homosexualität, vielleicht eins
selbstunbewusste vorliege. Die genauere Prüfung ergab je-
doch. dass das nicht zu trifft, denn das Hauptmerk-
mal der Homosexualität, wovon auch ihr Name herrührt {ofioq
gleich), die Richtung des Geschlechtstriebes auf Personen des
188
gleichen Geschlechts fehlt; wir sahen, dass in den meisten
unserer Fälle keine Spur davon, in vielen sogar ein heftiger
Widerwille dagegen vorhanden- war, der dem der übrigen He-
terosexuellen wenig nachgibt; es fanden sich zwar bei einigen
homosexuelle Episoden, wie sie auch sonst bei Heterosexu-
ellen gleichfalls nicht selten sind, doch so vorübergehend und
oberflächlich, dass von angeborener echter Homosexualität —
und nur die angeborene kann als e c h t e gelten — hier nicht
die Rede sein kann. Selbst wenn man bei einigen der
Fälle (wie bei XII und XV) im Zweifel sein könnte, ob nicht
ein Zwischen beiden Geschlechtern schwankender, also bisexu-
eller Trieb vorhanden wäre, so ist doch bei der Mehrzahl die
Triebrichtung zum entgegengesetzten Geschlecht so scharf
ausgesprochen, dass das Vorkommen von Effemination und
Viraginität bei heterosexuellen Personen als er-
wiesen angesehen werden muss. Effemination und Homo-
sexualität treten uns jetzt als gesonderte Erscheinungen
entgegen, die zwar oft, aber keineswegs immer vergesell-
schaftet aultreten. Man muss den Satz; nicht alle Ho-
mosexuellen sind effeminiert dahin erweitern
und nicht alleEffeminierten homosexu-
ell. Es stimmt das auch gut mit dem fünften unserer geno-
genetischen Gesetze*); „jeder Geschlechtscharakter kann für
sich abweichen, doch lässt sich eine Relation in den Ab-
weichungen nachweisen, welche sich in derselben Zeitperiode
entwickeln“ überein. Ob sich die Effeminiertheit relativ öfter
mit Homosexualität verbindet, was ich vorläufig noch für
wahrscheinlich halte, als mit der Heterosexualität, lässt sich
zur Zeit noch nicht beurteilen, da zahlenmässig exakte Unter-
lagen fehlen.
Nach meinen bisherigen Erfahrungen habe ich den Ein-
druck, als ob bei 50 — 60 % der Homosexuellen die virilen
Eigenschaften prävalieren. Auch Bloch ist derselben
Ansicht.**) Er schreibt; „nach meinen Beobachtungen scheint
•) cfr. Hirschfeld: Geschlechtsübergänge. Thesen über die Entwicklung
der Geschlechtsunterschiede, pag. 18.
•*) cfr. Sexualleben, pag. 551.
189
mir das Zahlenverhältnis zwischen den virilen und femininen
Uraniern ungefähr das gleiche zu sein/' Unter diesen ca. 50%
femininer gearteten Homosexuellen ist der weibliche Einschlag
natürlich auch noch nach Art und Stärke sehr verschieden
und steigert sich wohl kaum bei 10 % unter ihnen zu dem
Drange weibliche Garderobe anzulegen; im Gegenteil, der
grossen Mehrzahl der Homosexuellen nicht nur der virileren
ist die Verkleidung direkt unsympathisch. Noch geringer ist
die Menge derjenigen homosexuellen Männer, die vollkommen
als Frau, der urnischen Frauen, die völlig als Mann leben.
Ist dies der Fall, dann bietet, rein äusserlich betrachtet,
der homosexuelle und heterosexuelle Transvestitismus ein
nahezu gleiches Bild dar, nur besteht der grosse Unterschied,
dass der Geschlechtstrieb bei den einen — näm-
lich den Transvestiten — mehr der körperlichen
Eigenart entspricht, bei den andern — den Homosexu-
ellen — mehr dem seelischen Komplex. Wenn der
Geschlechtstrieb in solchen Fällen nun aber an und für sich
nicht stark ist und seine Richtung dauernd eine schwankende
— was, soweit ich sehe, nur selten ist, — so kann gelegent-
lich die Differentialdiagnose schwierig sein, ob in einem kon-
kreten Fall die Effemination mehr als eine Begleiterscheinung
der Homosexualität oder die homosexuelle Anwandlung mehr
als ein sekundäres Symptom der Effemination anzusehen ist.
Da vor und nach Krafft-Ebing und vor allem von ihm
selbst homosexuelle Männer und Frauen, bei denen — um
mich der Worte des grossen Wiener Psychiaters zu bedienen
— „auch das ganze psychische Sein der abnormen Geschlechts-
empfindung entsprechend geartet ist“, zahlreich beschrieben
sind, dürfte es genügen, wenn wir hier zum , Vergleich mit
unseren Hauptfällen I — XVII je ein Beispiel eigener Be-
obachtung analoger Erscheinungen bei einem homosexuellen
Mann und einer ebenso veranlagten Frau anführen.
Zu den Fällen, die in den letzten Jahren einiges Auf-
sehen erregten, gehörte der tragische Selbstmord eines etwa
dreissigjährigen Mannes in Breslau, welcher unter der Spitz-
marke: „Ende einer männlichen Braut“ im Dezem-
ber 1906 durch die Presse ging. Es handelte sich um einen
Menschen, der in Rio de Janeiro als Sohn eines deutschen
Arztes und einer Brasilianerin geboren war, er war erblich
erheblich belastet, seine Mutter starb in einer Irrenanstalt,
in der sich sein älterer Bruder auch jetzt noch befindet. Von
Hause aus vermögend, war er nach Paris gegangen, wo er
alsbald als „Cointesse de Paradeda“ die Rolle einer sehr ele-
ganten jungen Dame spielte. Er gründete sich einen vor-
nehmen Hausstand, hielt sich Dienerschaft, Equipage,
sah viele Gäste bei sich, ohne dass jemand sein wahres Ge-
schlecht ahnte. Da ereilte ihn sein Schicksal, indem er sich
leidenschaftlich in einen schlichten deutschen Lehrer verliebte,
der sich zur Erlernung der französischen Sprache in Paris
aufhielt. Dieser von der gewinnenden, geistsprühenden Art,
vielleicht auch von dem Reichtum und der Liebe der Comtesse
angezogen, verlobte sich schliesslich mit ihr. Als er am 23.
Oktober 06 nach seiner Heimatstadt zurückkehrte, folgte sie
ihm. Zeitweise war ihm schon vorher vor ihrer stürmischen
Zuneigung etwas „unheimlich“ geworden; in Breslau aber
verstärkten seine Freunde und Verwandten diese Empfindung
in ihm; sie erkundigten sich nach dem Vorleben der Braut
und erfuhren schliesslich von ihrem nach Deutschland zurück-
gekehrten Stiefvater, dass er zwar einen Stiefsohn namens
Alfred, aber keine Stieftochter Alma besitze. Inzwischen nahm
ihre Leidenschaft zu dem Lehrer immer heftigere Formen an,
sie liess ihn nicht aus den Augen, verfolgte ihn mit grenzen-
loser Eifersucht und drohte, sie würde ihn töten, falls er
das Verlöbnis lösen würde. Als er sich darauf tatsächlich
zurückzog, versuchte sie mit Gewalt in seine Wohnung ein-
zudringen. Jetzt legte sich die Kriminalpolizei ins
Mittel. Am 6. Dezember 06, begab sich ein Kriminalkommissar
in ihre Wohnung, fand aber zunächst keinen Anlass zum Ein-
schreiten vor. Sie war sehr erregt und verlangte einen Nerven-
arzt, den sie bereits früher wegen „Herzbeklemmungen“ con-
sultiert hatte. Selbst behindert, schickte dieser einen Assistenz-
arzt, der eine genauere Körperuntersuchung vornehmen wollte.
Die Patientin weigerte sich. Als am folgenden Tage der
Nervenarzt persönlich kam, fand er sie in tiefster A^erzweif-
lun?, weil ihr Bräutigam sich von ihr getrennt, sie verlassen
191
habe. Als der Arzt darauf bestand, eine Untersuchung vor-
zimehmen, bat ihn Paradeda einen Moment zu warten und
begab sich ins Nebenzimmer, aus dem sie jedoch in knapp
einer halben Minute zurückkehrte, um mit den Worten: ,,nun
bitte schön, Herr Doktor“ dem Arzt gegenüber Platz zu
nehmen. Unmittelbar darauf machte sich aber schon die ent-
setzliche Wirkung, des Giftes bemerkbar, welches sie im
Nebenzimmer genommen hatte. Sie schrie laut auf und ver-
fiel in convulsivische Zuckungen; bereits nach einer Minute
war der Tod eiiigetreten. Der Kriminalkommissar, der gerade
mit einem Haftbefehl eintrat, fand sie als Leiche vor. Der
Tote stellte sich als männlichen Geschlechts heraus, Brüste,
Hüften und Perücke waren unecht. Ein Journalist, der, als
der sensationelle Vorfall bekannt wurde, in der "Wohnung des
Verstorbenen erschien, gibt folgenden anschaulichen Bericht:
„Es scheint, dass diesem Paradeda von der Natur Eigenheiten
verliehen waren, die ihn direkt dazu prädestinierten, eine Rolle
als Weib zu spielen. So mass seine Taillenweite nur 52 Zen-
timeter, sein zierlicher Fuss 32 Zentimeter; die Damen werden
die Bedeutung dieser Zahlen einzuschätzen wissen. „Tante
Didi“, wie er von dem Töchterlein der Wirtin angeredet
wurde, besass in jeder Beziehung einen vornehmen Geschmack,
und ein Blick in das Boudoir, vor allem ab^r in den mit den
allerkostbarsten Toiletten gefüllten Schrank, zeigen, dass es
der Pseudo-Komtesse auch nicht an Mitteln gefehlt hat, den
verwöhnten Ansprüchen zu genügen. Eine helle, leichte Robe
ist vollständig aus irischer Handstickerei gefertigt; ihr WArt
soll über 3000 Francs betragen. Wir sahen ferner eine weiss-
seidene Bluse mit handgearbeiteter, feiner Spachtelspitze, ein
zartes Spitzentaschentuch, das in seiner Feinheit als ein
kleines Kunstwerk der Handstickerei angesehen werden darf,
weiterhin einen prächtigen Fächer mit künstlerisch ausgeführter
Elfenbeinschnitzerei, zartrosafarbene, seidene Jupons, gleich-
falls mit kostbaren Spitzen besetzt, und viele andere Sachen,
wie sie nur eine Dame von Distinktion und Geschmack zu
tragen pflegt. Von gleicher Eleganz war die Fussbekleidung,
die in goldfarbenen Halbschuhen, schwarzen Lackschuhen und
seidenen Pantoffeln bestand. Die silbernen Toilettengegenstän-
192
\
de, wie Haarbürsten etc., tragen unter einer Krone das Mono-
gramm „A. P.“ Auch alle Hilfsmittel der Kosmetik waren
auf dem Toilettentisch zu finden. Sie besass neben anderen
gesellschaftlichen Talenten vor allem ein hervorragendes Er-
zählertalent, und wer im ersten Moment ihres Anblicks viel-
leicht etwas stutzig wurde, dem schwand sofort jedes Be-
denken, wenn sie den Mund auftat und brasilianische Ge-
schichten oder Episoden aus der Pariser Gesellschaft erzählte.
Man konnte, so wird uns erzählt, stundenlang zuhören und
jeder Besuch schied in dem Bewusstsein, einen genussreichen
Abend verlebt zu haben. Sie war nicht nur in weiblichen
Handarbeiten, in der Herstellung künstlicher Blumen, im
Garnieren von Damenhüten usw., sehr geschickt, man erfreut
sich nicht nur an ihrem verhältnismässig guten Klavierspiel,
— auch „ihre“ Kenntnisse in Küchenangelegenheiten waren
erstaunlich und die Pensionswirtin hat manche gute Lehre
aus diesen Kenntnissen schöpfen düi’fen. Von Interesse für
die Charakteristik des Verstorbenen dürfte es noch sein, dass
auf seinen Wunsch der grün tapezierte Salon seiner Wohnung
rosafarbene Tapete erhielt und die gleichfalls grünen Plüsch-
möbel mit rosa Satin überzogen werden mussten, weil ihm
diese Farbentönung sympathischer war.“
Auch das weibliche Seitenstück, was ich zu diesem männ-
lichen Paradigma anführen will, hat die Oeffentlichkeit inso-
fern interessiert, als es sich um die erste Frau handelt, die
unseres Wissens in Berlin die offizielle Erlaubnis erhalten
hat — nicht nur in ihrer Häuslichkeit und im Geschäft, son-
dern auch auf der Strasse — Männerkleider tragen zu dürfen.
Im Ausland, besonders in Frankreich ist dies, wie wir im
nächsten Kapitel noch näher ausführen werden, bereits öfter
behördlich gestattet worden. Das Nähere über den Fall er-
gibt sich aus dem Gutachten, das von dem Kollegen Karl
Abraham und mir verfasst wurde, um ihr Gesuch zu
unterstützen.
Ärztiiches Gutachten.
Fräulein Katharina T., geb. 1885 zu Berlin, hat in einer
Eingabe das Kgl. Polizei -Präsidium gebeten, keinen Einspruch
193
dagegen zu erheben, dass sie in männlicher Kleidung gehe
und sich einen männlichen Vornamen beilege.
Fräulein T. hat sich uns im Anfang des Monats Sep-
tember zur Untersuchung gestellt. Sie wünscht die erwähnte
Eingabe durch ein ärztliches Gutachten zu unterstützen. \Yir
haben die Petentin in körperlicher und geistiger Hinsicht ein-
gehend untersucht und längere Zeit hindurch beobachtet. Auf
Grund unserer so gewonnenen Kenntnisse und der eigenen An-
gaben des Frl. T. erstatten wir nachfolgend ein Gutachten
über ihren körperlichen und geistigen Zustand, mit besonderer
Berücksichtigung ihrer geschlechtlichen Eigenart.
Frl. T. hat uns über ihr Vorleben folgendes berichtet.
Sie stammt aus gesunder Familie und ist (ausser einem Stief-
bruder) einziges Kind ihrer Eltern. Sie verlor’ ihren Vater,
als sie 6 Jahre, ihre Mutter, als sie 11 Jahre alt war. Sie
wurde vom 11. Lebensjahre an von einer Tante erzogen.
Sie will sich, soweit ihre Erinnerung zurückreicht, nie als
Mädchen gefühlt haben. Wenn sie mit andern Kindern „Vater
und Mutter“ spielte, so wollte sie immer Vater sein. Sie
spielte am liebsten mit Helm, Säbel und Peitsche. Zwischen
dem 6. und 11. Lebensjahr will sie mit andern Mädchen gegen-
seitige Masturbation getrieben haben. Mit 8 Jahren ver-
liebte sie sich in eine Lehrerin, fasste auch in den folgenden
Jahren der Kindheit wiederholt eine schwärmerische Liebe für
andere Mädchen. Sie ging nie mit anderen Mädchen baden,
w^eil sie sich vor ihnen genierte, auch heute
will sie sich vor weiblichen Personen mehr als vor männlichen
genieren. Zu weiblichen Handarbeiten hatte sie keine Neigung.
Mit 12 Jahren begann sie zu rauchen, wodurch sie ihrer Tante
sehr auffiel. Diese habe auch in der folgenden Zeit ihre Ent-
wicklung mit Erstaunen verfolgt.
In der Pubertätszeit empfand sie kein Interesse für
Knaben, Sie pflegte immer nur schwärmerische Mädchenfreund-
schaften.
In der Schule kam sie mittelmässig vorwärts. Als sie
mit 15 Jahren die Schule verliess, sollte sie Verkäuferin wer-
den. Diese Tätigkeit missfiel ihr sehr, sie hielt an verschie-
Hirscbfeld, Die Tranaveatiten. 13
194
\
denen Stellen jeweils nur kurze Zeit aus. Sie wünschte sich
eine männliche Beschäftigung.
Die Periode trat im Alter von 15 Jahren ein und wieder-
holt sich seitdem in normaler Weise. Erhebliche Erkrankungen
hat Frl. T. nicht durchgemacht.
Mit 22 — 23 Jahren will sie ein Tiei'erwerdeu der Stimme
bemerkt haben.
Solange Frl. T. sich in Frauenkleidern zeigte, will sie
vielen Unannehmlichkeiten ausgesetzt gewesen sein. Obgleich
sie damals die Haare lang trug, hielt man sie für
einen verkleideten Mann. Die Strassenjugend sei
ihr oft nachgelaufen, kurz — ihr Erscheinen habe stets Auf-
sehen erregt. Unter ihrer unglücklichen gesellschaftlichen
Stellung will sie sehr gelitten haben. Zudem fühlte sie sich
in Frauenkleidern unbehaglich und hatte den intensiven
Wunsch nach einer Aenderung. Im März d. J. hat Frl. T.
ihre weibliche Kleidung mit männlicher vertauscht und ihre
Haare kurz schneiden lassen. Sie fühlte sich sofort weit zu-
friedener. Der Wunsch, zu w^eiblicher Kleidung zurückzu-
kehren. ist ihr nie gekommen. Sie lebte damals in Hamburg,
die dortige Polizei liess sie unbehelligt, obgleich man von
ihrem Geschlecht wusste. Seither haben alle die
früheren Unannehmlichkeiten aufgehört.
Frl. T. geht umher, ohne irgend welches
Aufsehen zu machen. Die früheren Neckereien
bleiben ihr erspart und infolgedessen hat sich ihre Stimmung
sehr gehoben.
Frl. T. fühlt sich vollkommen als
Mann, besonders im Zusammensein mit
weiblichen Personen. ^länner interessieren sie nicht.
Besonders fehlt ihr jede geschlechtliche Zuneigung zu Männern.
Sie hat für weibliche Kleidung, weiblichen Schmuck und Putz
kein Interesse. Dagegen interessieren die Herrenmoden sic
lebhaft. Sie hat eine Liebhaberei für Cravatten und Spazier-
stücke. Sie raucht viel und zwar hauptsächlich Cigarren,
daneben Cigaretten und eine kurze Pfeife. Sie ist mässig im
Alkoholgenuss, besucht aber oft ohne Begleitung Restaurants,
Billard ist ihr Lieblingsspiel.
195
Als Frl. T. uns in männlicher Kleidung zum ersten Male
aufsuchte, hatten wir keineswegs den Eindruck, dass eine
Frau in Männerkleidern vor uns stehe, sondern den Eindruck
eines jungen Mannes von etwa 18 — 20 Jahren mit etwas weib-
lichen Gesichts Zügen. Ihr Auftreten ist durchaus männlich,
durch Haltung, Geberden, Bewegungen etc. erweckt sie, wie
uns bekannt geworden ist. auch bei anderen Aerzten und bei
Laien stets den Eindruck eines jungen Mannes. Frl. T. ist
von kleiner, untersetzter Natur. Sie kleidet sich nach der
Mode, bietet aber in ihrer Kleidung nichts Auffälliges. Sie
bewegt sich in Männerkleidern, als hätte sie nie andere ge-
tragen. Beim Ankleiden und Auskleiden geht sie ganz ge-
schickt mit diesen um. Auch die Unterkleidung ist durchaus
männlich. Ihre Schuhe sind ziemlich breit, wie man sie nur
bei Herren sieht, ebenso ist sie mit einer Herrenuhr versehen.
Irgendwelchen Schmuck trägt sie nicht an sich. Sie besitzt
ein grosses Herrentaschenmesser, trägt auch sonst nach männ-
licher Art allerhand in den Taschen. Der Gang ist fest und
erfolgt in verhältnismässig grossen Schritten. Der Hände-
druck ist männlich kräftig.
Das Haar ist kurz geschnitten und zurückgestrichen. Ein
Schnurrbart fehlt. Ein ganz leichter Anflug von Backenbart ist
vorhanden. Frl. T. gibt an, dass sie sich hin und wieder
rasieren lasse. Der Teint ist hell, die Haut des Gesichte
(wie des übrigen Körpers) ist zart. Das Kinn ist rundlich,
die Gesichtsbildung weder ausgesprochen männlich noch weib-
lich. Die Stimme hält bezüglich der Tiefe zwischen männ-
lichem und weiblichem Typus die Mitte. Die Schultern
sind rundlich, die Hüften breit. Gesäss und Oberschenkel
zeigen typisch weibliche Formen mit starkem Fett-
ansatz. Die Brüste sind stark entwickelt, hängend. Die
äusseren Geschlechtsteile sind weiblich. Die Schambehaarung
ist ebenfalls von weiblichem T3rpus.
Bei den wiederholten ausführlichen L''nterredungen zeigte
Frl. T. gute Auffassung und gutes Gedächtnis. Ueberhaupt
Konnten Anzeichen einer geistigen Störung oder eines Nerven-
leidens nicht wahrgenommen werden.
13'
196
Gutachten.
Es liegt unseres Erachtens kein Grund vor, den Angaben
der Petentin zu misstrauen. Sie zeigen nirgends Widerspruch,
sondern geben in ihrer Gesamtheit ein geschlossenes typisches
Bild. Manche Einzelheiten lassen sich überhaupt nicht er-
finden. Die Angaben stimmen vollkommen überein mit unsern
eigenen Beobachtungen. Evt. könnten sie durch Aussagen
anderer Personen erhärtet werden.
Frl. T. hat einen durchaus weiblichen Körperbau. Es
liegt nicht etwa eine Zwitterbildung vor, sondern die Ge-
schlechtsorgane wie auch die sekundären Geschlechtsmerkmale
sind ausgesprochen weiblich. Die Menstruation ist vorhanden.
Nur die Formen des Gesichts und seine leichte Behaarung so-
wie die Stimme zeigen eine Annäherung an den
männlichen Typus.
Im schroffen Gegensatz zu ihrer kör-
perlichen Organisation steht bei Frl. T.
die psychische.
Von früher Kindheit an den weiblichen Spielen und Be-
schäftigungen abhold fühlte sie sich, je älter sie wurde, um
so weniger als Weib. Ihre geschlechtliche Nei-
gung war und ist nur auf weibliche Per-
sonen gerichtet, denen gegenüber sie sich als Mann
fühlt. Sie hat männliche Interessen und Liebhabereien. Nach
ihren ganzen Allüren, ihrem gesellschaftlichen Auftreten, ihrer
Haltung und ihren Bewegungen wird niemand vermuten, dass
er in ihr ein Weib vor sich habe. Verschiedenen uns bekann-
ten Laien ist es so ergangen, und auch wir haben uns dem
Eindruck, einen jungen Mann vor uns zu haben, nicht ent-
ziehen können.
Frl. T. hat sich früher in weiblicher Tracht
sehr unzufrieden gefühlt, da sie durch diese gehin-
dert wurde, ihrer inneren Veranlagung entsprechend zu leben
Sie fiel in Frauenkleidern dem Publikum auf und wurde zum
Gespött der Strassenjugend. Sie litt unter diesem Zustande
begreiflicherweise schwer. Seit März dieses Jahres kleidet sie
sich als Mann. Störungen haben sich daraus nicht ergeben,
197
sonst würde die Hamburger Polizei gewiss eingeschritten sein.
Im Gegenteil haben die Neckereien und Verhöhnungen, denen
Frl. T. früher ausgesetzt war, völlig aufgehört. Während
ihr Aeusseres früher geeignet war, die Aufmerksamkeit auf
sie zu lenken und in gewissem Grade öffentliches Aergernis
zu erregen, ist dergleichen jetzt nicht mehr der Fall. Infolge-
dessen hat sich auch ihr Gemütszustand, der früher sehr de-
primiert war, gehoben. Ihr Wunsch, diesen Zustand aufrecht
zu erhalten, muss jedem billig Denkenden einleuchten. Sie
besitzt jetzt keine Frauenkleider mehr.
Frl. T. besitzt ein kleines Vermögen, von dem sie augen-
blicklich lebt. Sie ist aber in Zukunft auf eigenen Erwerb
angewiesen, und wünscht sich auch selbst eine ihr zusagende
Tätigkeit. Auch in dieser Hinsicht kann man ihre Bestre-
bungen unseres Erachtens nur unterstützen. Nun wird ihr
aber, ob sie in einem Bureau oder sonstwo einen Posten sucht,
überall der weibliche Vorname hinderlich sein. Ueberall wird
man ihren Namen zu wissen verlangen. Schwerlich wird je-
mand einen Angestellten mit weiblichem Vornamen engagieren,
der in Männerkleidern geht. Und wenn sie eine Anstellung
fände, so würden die alten Neckereien von Seiten ihrer Mit-
arbeiter nicht ausbleiben. Durch Annahme eines männlichen
Vornamens würde sie diesen Schwierigkeiten entgehen. Die
Tolerierung dieser Namenswahl seitens der Behörde würde
ihr die Existenz ausserordentlich erleichtern. Frl. T. ist un-
bescholten. Zu der Annahme, dass sie in Zukunft gegen das
Strafgesetz verstossen werde, gibt ihr bisheriges Verhalten
keinen Anlass. Schon daraus, dass sie der Polizeibehörde
gegenüber aus ihrem Geschlecht kein Hehl macht, vielmehr
offen und ehrlich auftritt, dürfte hervorgehen, dass sie mit
ihrem Gesuch keine unlauteren Zwecke verfolgt. Da hin und
wieder geisteskranke Personen aus wahnhaften Motiven die
Kleidung des andern Geschlechtes anlegen, so haben wir unser
Augenmerk auch auf das etwaige Vorhandensein einer Geistes-
störung gerichtet. Das Ergebnis der Untersuchung war durch-
aus jedoch negativ. Ebensowenig konnten vir einen intellek-
tuellen Defekt feststellen. Für Frl. T. ist der Erfolg ihres
Gesuches geradezu eine Existenzfrage. Ueber
198
(lies kommt noch eine wichtige ärztliche Erfahrung in Be-
tracht. Sexuell abnorme Personen, welchen eine Lebensweise
aufgezwungen wir(,l, die mit ihrem Wesen in Widerspruch
steht, verfallen dadurch nicht selten in schwere gemütliche
Verstimmungen, die gelegentlich sogar zum Selbstmord führen.
Da Frl. T. früher in Frauenkleidung die deprimierendsten Er-
fahrungen hat machen müssen, so liegt im Falle des Ver-
botes, männliche Kleidung zu tragen, die Gefahr einer solchen
Verstimmung sehr nahe.
Wir fassen unser Gutachten wie folgt zusammen;
Für die Petentin ist in Anbetracht ihrer sexuellen Ab-
normität und psychischen Eigenart die männliche Kleidung
die natürliche. Die Genehmigung ihres Gesuches ist für sie
eine Existenzfrage. Der Zwang, als Weib zu leben, kann von
sehr nachteiliger Wirkung auf ihren Gemütszustand sein. Sie
erregt in männlicher Kleidung kein öffent-
liches Aergernis, während ihre weib-
liche Kleidung zu Störungen Anlass gab
Die sehr erschwerte Existenz der Petentin wird ausserordent-
lich erleichtert, wenn die Polizeibehörde die Führung eines
männlichen Vornamens seitens der Petentin toleriert. Be-
sonders würde sie vor der Lächerlichkeit in den Augen un-
verständiger Personen geschützt sein.
Vom ärztlichen Standpunkt müssen wir das Gesuch des
F rl. T. daher für begründet erklären.
Der Erfolg unseres Gutachtens war. dass sie zunächst
interimistisch mündlich, dann auch vom Polizeipräsidenten von
Stubenrauch schriftlich die Erlaubnis erhielt, in Männer-
kleidern weiter gehen zu dürfen. Die Freude des jungen Mädchens
über diese Entscheidung wurde nur dadurch beeinträchtigt, dass
ihrem weiteren Wunsche, auch ihren weiblichen Vornamen in
einen männlichen umwandeln zu dürfen aus rechtlich-formalen
Gründen nicht stattgegeben werden konnte.
Bloch hat vorgeschlagen*) zum Unterschied von der
echten Homosexualität als „angeborenen, originären und dau-
•) Sexualleben, 20. Kapitel: die P.seudo-Homoeexualität.
199
ernden Weseiisausfluss der Persönlichkeit“ die sexnalmeta-
morphotischen Zustände Heterosexueller als Pseudoho-
m 0 s e X u a 1 i t ä t zu bezeichnen. Dieser Ausdruck scheint
mir für homosexuelle Anwandlungen und Handlungen nicht
homosexueller Personen, wie sie namentlich auch als Puber-
tätsphänomen auftreten, recht glücklich gewählt. Auch die
analoge Bezeichnung „Pseudoheterosexualität“ für hetero-
sexuelle Empfindungen und Aeusserungen ab origine nicht
heterosexueller Personen verdiente acceptiert zu werden. Etwaige
homosexuelle Akte heterosexueller Transvestiten könnte man
von diesem Standpunkt auch als p s e u d o homosexuelle auf-
fassen, dagegen scheint mir für die vorliegende Erscheinung i n
t 0 t 0 der Blochsche Ausdruck nicht entsprechend. Denn bei den
Personen, von denen hier die Rede ist, ist ja gerade das
Nicht Vorhandensein homosexueller Neigungen das
wesentliche; wir können doch nicht einen Mann, der sagt,
„der blosse Gedanke an gleichgeschlechtlichen Verkehr ekelt
mich direkt an“ oder einen, von dem wir hören: „Die Idee
der Komplementierung meines Zustandes durch einen Mann ist
mir nie gekommen“ als pseudohomosexuell be-
zeichnen.
Höchstens könnte man hier insofern an eine Art „Homo-
sexualität in zweiter Potenz“ denken, als sich diese Weib-
männer wie homosexuelle Frauen zu Frauen
hingezogen fühlen. Verschiedentlich wird von ihnen angegeben,
dass sie die Frau als ihre „intimste Freundin“ betrachten. In
meinem „Wesen der Liebe“ (pag. 88) habe ich bereits ..nor-
malsexuelle" mannliebende Frauen mit starken männlichen Ein-
schlägen, die von sich selbst sagten, sie kämen sich wiehomosexu-
elle Männer vor, kurz erwähnt. Es waren solche, die sich von
femininen Männern irgend welcher Schattierung stark gefesselt
fühlten. Aehnlich könnte man unsre transvestitischen w'eib-
lichen Männer mit lesbischen Frauen vergleichen, doch hat
die Konstruktion etw'as gekünsteltes angesichts der ein-
fachen Tatsache, dass diese Personen doch ihren körperlichen
Verhältnissen entsprechend vollkommen normale Ehegatten
und Väter sind.
Da es, wie oben erwähnt, bei manchen der Transvestiten
200
den Anschein hat, als ob sie nicht nur das Weib ausser sich,
sondern auch in sich lieben und die blosse Verkleidung, wie
wir sahen, bei einigen genügt, erotische Empfindungen aus-
zulösen. käme für die Erklärung unserer Fälle auch der
„Auoomonosexualismus“*) Rohleders in Frage. Demgegenüber
ist zu betonen, dass das, was Rohleder als tj'pisch für den
Automonosexualismus erachtet: dass nämlich das Individuum
sich selbst in seiner Vorstellung, im Traum und Spiegelbild
gerade so liebt, wie es ist, nicht etwa m
andersgeschlechtlicher Gestalt, hier nicht zutrifft; vor allem
steht mit seiner Schilderung im Widerspruch, dass sich diese
Personen nicht mit sich selbst begnügen, sondern dass in
allen unseren Fällen ein ausgesprochenes Annäherungs-
bedürfnis an ein zweites Objekt vorhanden
ist, dass durch die Verkleidung geradezu noch eine Steigerung
erfährt. Was also Rohleder als Charakteristikum des Auto-
monosexualismus bezeichnet; „dass der Trieb auf
sich selbst einzig und allein gerichtet
i 6 t“, „das betreffende Individuum selbst und zwar allein
Ausgangspunkt und Endziel des sexuellen Triebes ist“ besteht
hier nicht.
Gemeinsam ist beiden Formen eine gewisse psychische
Spaltung und Lockerung der Persönlichkeit und wenn der eine
der beiden Rohlederschen Fälle auf die Frage des Arztes, ob
es ihm denn nicht leid tue, dass er mit keiner anderen Person
geschlechtlichen Umgang habe, antwortet (in wie R. sagt
„geradezu klassischer, für den Zustand charakteristischer
Weise“): „o, durchaus nicht, ich genüge mir voll-
kommen ; unwillkürlich kommt mir der Gedanke, mein
Spiegelbild sei ein zweites lebendes Ich, dass
ich also in zwei Personen existiere. Dieses zweite Ich, das
in meiner Phantasie, obgleich ich schon dagegen angekämpft
habe, stets als lebend mir vorkommt, ist das inbrünstig von
mir geliebte Wesen. Dieses Bildnis, mein eigenes Ich ist es
*) Dr. H. Rohleder; Geschlechtstrieb und Geschlechtsleben des Menschen.
Fischers mediz. Buchhandlung. 1907. Band II. Anhang. LX. Vorlesung,
pag. 509 ff.
201
auch, was ich im Traum im Spiegel gesehen habe.“. — so
könnte man eine ähnliche Antwort theoretisch auch
einmal von einem Transvestiten erwarten, nur, dass in praxi
dies noch nicht beobachtet wurde und dass von dem, was
Eohleder weiterhin als für seine Fälle symptomatisch anführt,
einem „ganz krassen Egoismus und Selbstdünkel, Selbstüber-
schätzung verbunden mit Herzlosigkeit gegen alles, was nicht
die eigene Person betrifft“, hier ganz und gar nicht die Rede
sein kann.
Noch weniger wie mit Rohleders Automonosexualismus
haben unsere Fälle mit dem zu tun, was H. Ellis*) Auto-
erotismus genannt hat, dem „Phänomen der spontanen
geschlechtlichen Erregung ohne irgend welche Anregung
direkt oder indirekt seitens einer anderen Person“. (Latamendi
in Madrid wählte für dieselbe Erscheinung das Wort „A u t o-
erastie“.) Diese Geschlechtserregungen ohnePartner
stehen wiederum in gewisser Verwandschaft mit dem, was Hufe-
land in seiner Makrobiotik „geistige Onanie“, Kaan
nach ihm in seiner Psychopathia sexualis (1844) „0 n a n i a
p s y c h i c a“, Gustav Jäger „monosexuelle Mastur-
bation“, Kurkiewicz nicht übel „Ipsatio“ nannte, alles
Nüancen jener Triebrichtung, die ein deutscher Satyriker mit
dem verbreiteten recht bezeichnenden Wortspiel; „Liebe an
und für sich“ glossiert hat. Auch das von Näcke**) und
nach ihm von Fere als Narcismus (auch der Ausdruck
Narcissismus findet sich) beschriebene „Verliebtsein in sich
selbst“, das Märzbach***) mit Recht als „Egoismus in der
Liebe in höchster Potenz, da die Einwirkungen der Reize
einer zweiten Person als unnötig in Fortfall kommen“ defi-
niert hat, gehören in dieselbe alles in allem wenig scharf um-
*) H. Ellis: Geschlechtstrieb und Schamgefühl. Würzburg 1901,
pag. 163 — 291.
•*) Psychiatrischen en neurologischen Bladen 1S99 und VIII. Band
des Jahrbuchs für se.xuelle Zwischenstufen 1906, pag 603.
***) Die krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinns. Wien,
Holder, 1909.
202
grenzte, im einzelnen nicht klar genug präzisierte
Gruppe, deren a u t o e r o t i s c h e r , sexualegoistischer Ge-
samtcharakter sie. von sonstigen Symptomen abgesehen, sehr
wesentlich von unseren Verkleidungsfällen unter-
scheidet.
Verkleidungstrieb und Fetischismus.
Ist somit die Frage nach dem homosexuellen sowie monn-
sexuellen Grundcharakter dieser Fälle negativ zu beant-
worten, so haben wir nunmehr die Aufgabe, zu untersuchen,
welche .''teilung dieser eigenartigen Abweichung von der Norm
innerhalb der heterosexuellen Triebrich-
tung eingeräumt werden muss. Zwei Gebiete kommen hier
in Frage: Der Fetischismus und der Masochis-
mus. Rein äusserlich betrachtet erinnert die intensive
Neigung zur Frauenkleidung stark an den Kleidungsfetischis-
mus; die Vertreter beider Richtungen suchen sich im Gegen-
satz zu der grossen Mehrzahl ihnr Geschlechtsgenossen in den
Besitz von Kleidungsstücken zu setzen, die dem Geschlecht
eigentümlich sind, welchem sie körperlich nicht angehören;
Fachleute, mit denen ich unsere Fälle besprochen habe, haben
daher zunächst stets eine fetischistische Basis des Ver-
kleidungstriebes vermutet. Die Transvestiten selbst, die be-
greiflicherweise viel über ihren seltsamen Zustand nachdenken
und zwar naturgemäss mehr dabei von ihrem inneren Empfiu-
dungsleben ausgehend, fühlen sich allerdings von dieser Er-
klärung ebensowenig befriedigt, wie von einer Zurückführung
ihres Effeminationstriebes auf homosexuelle Grundlagen. Nament-
lich diejenigen, deren Vorbildung ihnen ein sachliches Urteil
ermöglichte, empfanden sich als Fetischisten nicht richtig
rubriziert: sie meinten, da.<s ihr Verweiblichungsdrang
dann eher noch als eine Art Masochismus, eine Form sexueller
Erniedrigung aufgefasst weruen könnte. Ich halte beide An-
nahmen für irrtümlich; weder der Fetischismus noch der
Masochismus lösen trotz mannigfacher Berührungspunkte das
Problem, ebensowenig wie es die Homosexualität und der
Automonosexualismus konnte.
203
Von den Fetiächisten unterscheiden sich die Transvestiten
im wesentlichen durch folgendes: „Das sexuelle Interesse des
Fetischisten konzentriert sich — ich zitiere hier Krafft-Ehing*)
ausschliesslich auf einen bestimmten Körperteil des Weibes
oder auch auf bestimmte Stücke der weib-
lichen Kleidung.“ Der starke erotische Reiz, den ein Teil
oder die stoffliche Bedeckung eines solchen vor allen anderen aus-
übt, wofür ich im „Wesen der Liebe“**) die Ausdrücke ;„T ei 1 -
anziehung“ oder partielle Attraktion vorgeschlagen habe,
ist hier eben das ausschlaggebende Moment. Eine T e i 1 an-
ziehung, die sich auf das ganze Aeussere eines Weibes
.,vom Scheitel bis zur Sohle" erstreckt ist e i n W i d e r -
Spruch in sich, ein Unding. Ferner sehen wir beim
Fetischisten auch ganz anders wie beim Transvestiten, dass
er das Objekt seiner Neigung in erster Linie in Verbindung
mit einer zweiten Person, in mehr pathologischen Fällen auch
von dieser losgelöst, allein für sich liebt, (z. B. einen abge-
schnittenen Zopf, ein entwendetes Taschentuch) keineswegs
aber hauptsächlich als Teil von sich selbst.
Der Fetischist nimmt den Frauenschuh oder Unterrock wohl
auch gelegentlich zwecks sexueller Erregung zu sich ins Bett,
legt auch wohl, um „das geliebte Wesen“ in möglichst enge
Berührung mit sich zu bringen, unter seinem Anzug getragene
Frauenwäsche an — und zwar viel lieber getragene, während
der Transvestit charakteristischerweise der neuen den
Vorzug gibt — im allgemeinen aber bedient sich der Fetischist
keineswegs im gewöhnlichen Leben der Kleidungsstücke in der
von ihm geliebten fetischistischen Form, im Gegenteil die
Liebhaber von elegantem Schuhwerk, feinen Lackstiefelletten
tragen oft unförmige Zug- oder gar Schaftstiefel, die Fe-
tischisten für blondes Frauenhaar pressen dieses wohl leiden-
schaftlich an sich, denken aber garnicht daran, sich eine
Frauenperücke aufzusetzen, sowenig wie Brustfetischisten sich
die Brüste ausstopfen. Kurz es fehlt bei den Fetischisten der
*) Psych. sex. pag. 108.
•*) Vergl. Wesen der Liebe, Kapitel VI: „Ueber Teilanziehung“,
pag. 134 — 284.
204
in unseren Fällen so ausgeprägte Drang, die Gestalt des ge-
liebten Gegenstandes anzu nehmen, sich mit ihm
zu identifizieren, quasi in sie sich zu verwandeln.
Es erscheint auch hier nicht nötig, zum Vergleich beider
Anomaüeen die bereits vorhandene reiche Kasuistik über Klei-
dungsietischismus durch Wiedergabe neuer Beobachtungen zu
vermehren. E i n Beispiel dürfte genügen, den krassen Unter-
schied zwischen beiden näher zu veranschaulichen: Vor
einiger Zeit wurde ich aufgefordert in der Ehescheidungssache
eines in Paris lebenden Ehepaares ein Gutachten abzugeben.
Ans den vorgelegten Akten und Briefen ergab sich mit Sicher-
heit, dass der Ehemann an hochgradigem Taillen-Fetischismus
litt. Ich gebe hier die Hauptstellen des Gutachtens,
aus denen das nähere ersichtlich ist, wieder.
Ärztliches Gutachten.
Wertvoll für die Entscheidung der Frage ob der Ehemann
R. tatsächlich an einem pathologischen Fetischismus leidet
sind in erster Linie die Briefe des französischen Arztes Dr. P.,
der den Ehemann R. längere Zeit behandelt und beobachtet
hat. Aus dem ersten Brief vom 31. Oktober geht hervor, dass
auch der andere Spezialarzt, der den Ehemann R. untersucht
hat Dr. V. die Auffassung seines Kollegen teilt. Nach den
beiden Briefen des Dr. P. vom 30. und 31. Oktober 1905 be-
zeichnet dieser Arzt den Herrn R. als einen Kranken und
zwar nennr er seine Krankheit eine „Obsession mor-
bide“, es handelt sich dabei nicht um eine blosse Neu-
rasthenie. welche wahrscheinlich auch vorhanden gewesen ist
und noch vorhanden sein mag, sondern es besteht kein Zwei-
fel, dass der Arzt die mit dem Sexualakt zusammen-
hängende -Obsession“ des R. meint.
Die Bezeichnung „Obsession morbide“, krankhafte Zwangs-
vorstellung ist hier für den krankhaften Fetischismus gewählt.
Zwar verbinden die deutschen Spezialforscher mit diesem Be-
griffe im allgemeinen nicht die sexuellen Anomalien, aber an
und für sich ist auch der Fetischismus eine Art Zwangsvor-
stellung und es ist besonders hervorzuheben, dass in' Frank-
205
reich die Aerzte oft die sexuelle Anomalie einfach unter die
obsessions morbides rechnen. Indem daher die französischen
Aerzte, welche den R. beobachtet und behandelt haben, eine
eigentümliche Sucht nach einer schmalen Taille seiner Frau
als Obsession morbide bezeiclinen, sagen sie, dass es sich nicht
um die normale Vorliebe für besondere Eigenschaften, sondern
um die charakteristische pathologische Anomalie des Fetischis-
mus handelt.
Auch der mit der Familie gut bekannte Dr. W.,
welcher einen näheren Einblick in die Verhältnisse der Ehe-
leute erhalten hat, nennt dies Begehren des R. nach einer
schmalen Taille eine „idee fixe“, eine fixe Idee, eine Zwangs-
vorstellung. Aus dem Eingang dieses Briefes wo der Arzt
von dem sexuellen Unvermögen des Herrn R. spricht, darf man
auch den Schluss ziehen, dass die Impotenz des R. in Zu-
sammenhang mit seinem Fetischismus zu bringen ist, d. h.
dass er eben nur potent ist, wenn die Taille seiner Frau
möglichst verengt, möglichst schmal gemacht wird.
In den Briefen der Ehefrau R. wird das Verhalten ihres
Ehemannes derart geschildert, dass ihre Mitteilungen auf einen
charakteristischen Fetischismus pathologischer Art deuten.
Darnach behauptet die Ehefrau R., dass ihr Mann fortgesetzt
verlangt habe, sie solle sich möglichst eng schnüren, dass er
sich immer wieder um'ihr Korsett, ihre Leibeszucht bekümmert,
und beim Verkehr alles Gewicht auf ihre Taille gelegt habe.
In dem Brief an ihn vom 30. April 1906 schreibt sie
einen Satz, der mit wenigen Worten die sexuelle Anomalie
ihres Mannes treffend schildert und mit absoluter Deutlichkeit
zeigt, dass bei R. eine sexuelle Anomalie vorhanden ist.
Sie schreibt: „So lange Du impotent sein wirst bei einem
Weib, weil sie nicht in ein Korsett geschnürt ist, wirst Du
krank sein.“
Diese Aeusserung in dem Munde einer Frau, welche wohl
sicherlich von sexueller Anomalie wenig weiss und keine me-
dizinischen Bücher hierüber studiert hat, trägt den Stempel
der Wahrheit und es ist undenkbar, dass sie nicht lediglich
die im sexuellen Verkehr mit ihrem Manne empfangenen Ein-
' drücke wiedergibt.
•206
Dieses I ni p o t e n t s e i n ohne das Eiu-
schnüren der Taille zeigt aber deutlich, dass eben
die schmale Taille conditio sine qua non für die sexuelle libido
des R. ist, also dass wirklicher Fetischismus vorliegt.
Auch die Briefe des R. selber bestätigen völlig diese An-
nahme.
Wie so mancher sexuelle Anomale sucht er seine Ano-
malie durch allerlei ästhetische, ja sogar hygienische Motive
zu beschönigen und zu erklären.
An und für sich gibt er seine Vorliebe, seine Passion für
die schmale Taille zu, im Brief vom 31. Oktober erkennt er
an, dass ihn die Fragen der Enge der Taille, des Korsetts usw.
beschäftigt haben und er ihnen entsagen wolle. — Nur findet
er seine krankhafte Sucht natürlich.
Im Brief vom 27. Oktober sagt er selber, er habe seiner
Frau geraten den Leib gut zu schnüren, es sei dies aber eine
gute hygienische Massregel.
Im Schreiben vom 18. November scheint er seine .Ano-
malie selber als krankhaft zu empfinden.
Im Brief vom 21. April gibt er seine sexuelle Impotenz
zu und aus dem folgenden Satz „il est des mets qu’on aime“
es gibt Speisen, die man liebt, gibt er zu erkennen, dass seine
Potenz von der Art der Speisen, die er liebt, d. h. von dem
Vorhandensein der engen Taille, des Schnürens abhängig ist
In dem gleichen Brief will er seine Frau durch Mitteilung dei
Ansichten des Dr. U. über seinen Fall zu überzeugen suchen,
dass sie ihm in seinem Fetischismus entgegenkomme, indem
er ihr beweisen will, dass sowohl nach Dr. ü.’s Ansicht als
auch nach seinem in Wirklichkeit nicht abzuändernden, in
seiner Natur eingepflanzten sexuellen Trieb eben nur der sexu-
elle Verkehr in der von ihm gewünschten — d. h. tatsächlich
fetischistischen krankhaften, wenn auch von R. als natürlich
empfundenen — Weise möglich ist. Der Brief vom 7. Mai
zeigt die Angst des R. seine Frau könne noch dicker werdet\
und am Schlüsse sagt er es deutlich, dass seine Krankheit
darin bestehe, dass es ihm unmöglich ist, seine Frau in einem
., physischen d. h. dickeren Taillen-Zustand zu sehen, der
ihm nicht gefällt. Dieses Nichtgefallen ist aber nicht ein ge-
207
wohnliches ästhetisches Nichtgefallen, sondern wie auch der
Brief vom 6. Juni besagt, die stärkere Taille hindert, dass
er seine Frau (sexuell) begehrenswert findet. Wie schon bei
ihm sich beim sexuellen Verkehr alles auf die schmale Taille
konzentriert, geht aus dem gleichen Brief vom 6. Juni und
dem vom 11. Juni und zwar aus der Tatsache hervor, dass
er die Bedingung seiner Frau im Brief vom 1. Juni und im
Brief vom 10. Juni, wonach an ein weiteres Zusammenleben
nur zu denken sei, wenn er schriftlich und in aller Ehrlich-
keit erkläre, die Taillenfrage bei dem sexuellen Verkehr sei
ihm gleichgültig geworden“ (Brief der Frau vom 1. Juni) ein-
fach für ganz unmöglich erklärt.
Endlich gibt er auch in dem Brief vom 12. April an
Dr. U. seine fixe „Idee“, seinen Fetischismus zu und zweifelt
an der Möglichkeit von ihm lassen zu können. Auch die
weniger nichtigen Briefe der sonstigen Familienmitglieder
zeigen, dass die Familie allmählich zum Bevuisstsein kam,
dass bei R. ein mit der festen Taille der Ehefrau R. zu-
sammenhängende sexuelle Anomalie besteht.
Die sexuelle Anomalie, mit der R. behaftet ist, kommt
dem R. selber nicht als etwas krankhaftes — wenigstens nicht
in allen Briefen zum Bewusstsein. Es ist wahrscheinlich, das
noch andere krankhafte Symptome insbesondere neurasthe-
nischer Art bei R. vorhanden sind, wenn auch die sexuelle
Anomalie das wenigstens nach aussen hin allein oder doch das
am deutlichsten sich bemerkbar machende krankhafte Svunpfom
darstellt.
Auf keinen Fall darf man aber die sexuelle Anomalie
leugnen aus dem Grunde, weil R. im übrigen intelligent, viel-
leicht sogar in manchen Beziehungen sehr begabt ist oder
weil von eigentlicher Geisteskrankheit bei ihm keine Rede sein,
kann. Denn tatsächlich haben die sexuellen Anomalien mit
Psychosen im gewöhnlichen Sinn des Wortes nichts zu tun,
sie führen so gut wie nie zu wirklichen Geisteskrankheiten, sie
finden sich auch oft sogar bei geistig hoch begabten Leuten,
trotzdem bilden Anomalien wie der in Rede stehende Fetischis-
mus eine krankhafte Erscheinung.
Für diese Anomalie an und für sich ist R. auch nicht
208
verantwortlich zu machen. Es handelt sich nicht um eine
Marotte, um eine Sucht nach neuen Reizen, um eine Eigen-
tümlichkeit, die er nach seinem Willen ablegen könnte, viel-
mehr um einen seiner Natur eingepflanzten eigenartigen Trieb.
Dabei ist es auch gleichgültig, wie man sich die Entstehung
dieses Triebes denkt, ob man ihn für angeboren hält oder in-
folge zwingender Association in der Jugend entstanden. Jeden-
falls hat sich dieser Fetischismus bei R. eingepflanzt und dies
sicherlich schon lange. Eine derartige willkürliche
und infolge von Exzessen entstandene Anomalie
wird überhaupt in Forscherkreisen, nachdem jetzt ein ausge-
dehntes Gebiet durchstudiert und geprüft ist, kaum noch für
möglich gehalten. Aus dem Wesen und der Dauer der Nei-
gung des R. folgt auch, dass die Heilbarkeit so gut wie aus-
geschlossen ist.
Dass R. durch die Behandlung bei den Aerzten Dr. P.
und V. nicht geheilt werden würde, war zu erwarten. Das
Gegenteil wäre nur zu verwundern gewesen. Brom, Bäder
und dergl. können den Geschlechtstrieb im allgemeinen
herabsetzen, können den R. dazu bringen, weniger häufig
mit seiner Frau verkehren zu wollen. Auf die psychische
Notwendigkeit für R., dass beim sexuellen Verkehr die Be-
dingung der engen Taille vorhanden sein muss, kann diese
Art der Behandlung keinen Einfluss haben.
Wenn er auch ohne diese Voraussetzung, sei es durch die
blosse A’orstellung einer Frau mit einer engen Taille
— eine Vorstellung, die aber durch eine damit in Wider-
spruch stehende Realität leiclit ihrer erregenden
Kraft beraubt wird — sei es durch manuelle Manipulationen
zur Erektion und Ejakulation fähig werden sollte, so würde
dies doch niemals eine ihm adäquate Befriedigung darstellcn
und auf die Dauer würde er sich kaum hiermit begnügen. Er
muss eben seinen Fetisch bei dem sexuellen Verkehr haben.
Dass einer Frau ein Verkehr in der geforderten Weise nicht
zuzumuten ist, bedarf keiner Ausführung.
Was die Verantwortung des R. für seine sexuelle Ano-
malie anbelangt, so ist das Bestehen der Anomalie von deren
Betätigung zu unterscheiden.
209
Für das Bestehen der Anomalie kann R. nicht verant-
wortlich gemacht werden. Es handelt sich nicht um eine von
seinem Willen abhängige Eigentümlichkeit, sondern um eine
eingepflanzte gegen Willen und Vernunft sich geltend machen-
de Einpfindungsweise. Dabei ist es gleichgültig, wie man sich
die Entstehung dieses Triebes denkt, ob man ihn für an- oder
eingeboren hält oder der Meinung ist, er sei infolge zwingender
Association in der Kindheit oder Pubertät entstanden. Jeden-
falls muss der Gedanke einer willkürlichen, infolge von Ex-
zessen entstandenen Anomalie abgelehnt werden.
Demnach ist für mich kein Zweifel, dass die Anomalie
des R. nicht etwa erst seit seiner Verheiratung entstanden
ist, sondern schon vorher und sicherlich schon längst seiner
Natur eingepflanzt gewesen ist. An einer Stelle der
Korrespondenz findet sich auch direkt eine Andeutung, dass
R. schon längst in der sexuell anomalen Weise empfunden
haben muss, es wdrd dort von dem seit seiner Jugend vor-
handenen Ideal von ästhetischen, schmalen Frauen gesprochen,
ein Ideal, das aber bei R. sich eben nicht begnügte ein Ideal
zu sein, wie man ihm bei vielen ästhetisch empfindenden
Männern begegnet, sondern — wie der Verkehr mit seiner
Frau gezeigt hat — ein in sexuellen Fetischismus ausge-
artetes Ideal .darstellt. Für therapeutische Erfolge ist bei R.
schon aus dem Grunde w'enig Hoffnung vorhanden, weil aus
seinen Briefen hervorgeht, dass er die Bedingung seiner Frau
„seine Korsett- und Taillenideen“ aufzugeben, glattweg zu-
rückweist, also sich psychisch einer Gegensuggestion gegen-
über schon in einem ungünstigen Renitenzzustand befindet.
Was nun das Weitere, die Verantwortung des R. für die
aus seiner Anomalie fliessenden sexuellen Handlungen angeht,
so macht das Vorhandensein eines anomalen Triebes den davon
Betroffenen nicht ohne weiteres unverantwortlich für die Betäti-
gung des Triebes. Es lässt sich vielmehr sehr wohl behaupten,
dass R. versuchen kann, den Verkehr mit seiner Frau durch
ev. blosse Vorstellung einer Frau mit enger Taille zu er-
möglichen, ohne seine Frau mit Schnüren, Korsettragen,
Quälen und Drängen zu belästigen. Man kann auch ihn viel-
leicht insofern verantwortlich machen, als er überhaupt anstatt
Hirachfeld, Die Transvestiten. 14
210
seiner Frau einen (lualvollen sexuellen Verkehr aufzudrängen,
lieber auf solchen ganz verzichten sollte.
Da R. aber nur bei möglichster Einschnürung der Taille
seiner Frau eine wirkliche, sexuelle Befriedigung empfindet,
und er ohne diese Vorbedingung entweder überhaupt nicht
potent wird oder nur einen als onanieartigen Akt empfun-
denen Verkehr vornehmen kann, ist sein Widerstand seine
„Idee“ zu lassen, erklärlich. Nur kann selbstverständlich einer
Frau nicht zugemutet werden, unter dieser Anomalie zu leiden
und einen sexuellen Verkehr mit ihrem Mann unter den für
sie peinlichen und peinigenden Umständen zu dulden. Dass
der Fetischismus und insbesondere die konkrete Anomalie, mit
der R. behaftet ist, das Fehlen einer persönlichen Eigenschaft,
nämlich der sexuellen Normalität und der Fähigkeit, nor-
malen sexuellen Umgang zu pflegen, darstellt, bedarf kaum
der Hervorhebung. Dass die Frau, wenn sie
diesen Fehler gekannt hätte, dadurch
von der Eingehung der Ehe abgehalten
worden wäre, daran wird man nicht zwei-
feln können, ebensowenig daran, dass das Nichtein-
gehen der Ehe des R. in diesem Falle aus der Würdigung des
Wesens der Ehe hervorgegangen wäre.
Hierbei ist zu berücksichtigen, dass es nicht einmal
darauf ankommt, ob R. lediglich beim Coitus seine Frau
etwa schnürt oder mit seinen Taillcnideen quält; sondern das.s
schon das fortgesetzte Drängen, ihre Taille zu verengern, das
Anraten und Eingeben von Mitteln zur Verhinderung der Zu-
nahme der Taille usw. zum Zweck dem Ehemann überhaupt
den Koitus möglich zu machen, eine derartige Belästigung
der Frau darstellen, dass schon ein derartiges Verhalten im
gewöhnlichen häuslichen Leben, — hervorgegangen aus sexu-
ellem Fetischismus — Fehler sind, welche die Frau, wenn
sie sie gekannt hätte, mit Recht an der Eingehung der Ehe
gehindert haben würden. Auch in der Literatur über
diese Frage wird sexuelle Anomalie als Anfechtungs-
g r u n d anerkannt, so ausdrücklich von H o c h e sowie von
Numa Praetorius in dem Jahrbuch für sexuelle
Zwischenstufen.
211
Schliesslich ist auch die Frage zu bejahen, ob die Ehe-
frau erst allmählich und erst nach ärztlicher Behandlung
ihres Mannes seine Anomalie als solche erkennen konnte.
Eine Frau, die wie die Klägerin, in sexueller Hinsicht
vollständig unwissend ist, konnte unmöglich das Perverse,
Krankhafte solcher Triebe aus sich selbst erkennen, um so
mehr, als am Anfang, da ihre Taille noch eng war, die For-
derungen, welche ihr Mann stellte, nicht übermässig waren.
Sie war hierzu erst imstande, als trotz der Behandlung bei
Dr. P. in Paris, bei dem Besuch des Beklagten im Januar
und April 1906 bei ihren Eltern es sich herausstellte, dass
das alte Uebel immer noch vorhanden war.
Ich fasse daher mein Gutachten wie folgt zusammen:
I. Auf Grund der mir mitgeteilten Schriftstücke bin ich
der Ueberzeugung, dass Herr R. mit einem dauernden, unheil-
baren oder schwer heilbaren sexuellen Fehler behaftet ist, dessen
Vorhandensein das Wesen der Ehe in der Weise beeinträchtigt,
dass man einem Ehegatten nicht zumuten kann, die Ehe weiter
fortzusetzen, wenn er das Vorhandensein dieser Perversität
als solche erkennt.
II. Aus den Schriftstücken und aus der Natur der Krank-
heit ist zu schliessen, dass der Fehler seit Eingehung der
Ehe vorhanden war.
III. Die Ehegattin war entsprechend ihrer Erkenntnis-
fähigkeit und der eigenartigen Natur der Krankheit nicht
imstande, ihren Irrtum binnen 6 Monaten nach Eingehung der
Ehe zu entdecken. Es konnte dies vielmehr erst ganz all-
mählich und zwar erst nach jahrelangem Zusammenleben er-
folgen.
Gemeinsam ist dem Kleidungsfetischismus und Verklei-
dungstrieb, dass in beiden Fällen, wenn auch wiederum in
sehr verschiedener Weise die Kleidungsstücke als die Aus-
drucksform eines seelischen Zustandes, als „Spiegel des geisti-
gen Wesens“,*) als „Messapparat für das Besondere und Eigene
•) Bloch, Sexualleben, pag. 153.
14
212
in einem Menschen“,*) als „eine ideale Nacktheit“**) anzuseheu
sind. Im „Wesen der Liebe“ (pag. 153) habe ich auseinander-
gesetzt, dass ich mit Krafft-Ebing und Einet nicht darin über-
einstimmen kann, dass die Vorliebe für einen bestimmten Fe-
tisch auf ein zufälliges Jugenderlebnis, ein accidentelles Er-
eignis („choc fortuit“) zurückzuführen sei, dass ich vielmehr
annehme, dass sie auf Ideenverbindungen beruht, die von der
psychosexuellen Eigenart des Fetischisten abhäugen,
seine endogene Besonderheit in ein concentriertes Symbol pro-
jizieren. So ist auch die Entstehung des eben beschriebenen
Korsettfetischismus nicht auf dem Boden jeder beliebigen
Psyche denkbar, sondern hat einen bestimmten Sexual-
typus zur Voraussetzung, der erstens heterosexuell, zweitens
sadistisch und drittens so veranlagt ist, dass verwickelte
ihm eigentümliche Gedankenverknüpfungen (deren Möglich-
keiten zu erörtern hier zu weit führen würde) die besondere
Empfänglichkeit gerade für den Reiz der engen Taille her-
vorgerufen haben. Diese associativen Vorgänge im Geistes-
leben, die oft sehr verwickelten Zusammenhänge der Vor-
stellungen aufzufinden, stösst nicht selten auf recht erheb-
liche Schwierigkeiten.
Das gilt auch für den besonderen Fall, dem ich mich
jetzt zuwende, vor allem auch, um zu zeigen, dass zwischen
fetischistischen und transvestitischen Neigungen die Diffo-
rentialdiagnose nicht immer so einfach ist. Ich stütze mich
dabei auf die „Briefe Richard Wagners an eine
Putzmacherin“, veröffentlicht von Daniel Spitzer,***)
ein Buch, welches bei seinem Erscheinen das grösste Aufsehen
machte. So wenig wne der 1877, sechs Jahre vor Wagners
Tode erfolgte Abdruck dieser Briefe in der Wiener Neuen
Freien Presse (die aus den Jahren 1864 — 68 stammenden Ori-
ginalien befinden sich jetzt im Besitze der „Gesellschaft der
•) L u k i a n 0 s; „Erotik und Kleidung“ in der Fackel von Karl Kraus.
Wien, Nr. 198, pag. 12.
**) Hermann Bahr; Zur Reform der Tracht. Dokumente der Frauen.
1902. Bd. VI. Nr. 23. pag. 665.
•**) Die letzte unverkürzte Ausgabe erschien 1906 in Wien im Verlage
von Carl Konegen (E. Stülpnagel).
213
Musikfreunde“ in Wien) zu billigen war, so wenig vor allem
die Absicht Spitzers Anerkennung verdient, der, wie er selbst
sagt, mit der Publikation dieser Briefe „dem Publikum eine
Posse bieten“, ihr einen deutschen Mann zeigen wollte, „mit
dem sich auch die putzsüchtigste Pariserin nicht zu messen
vermag“, so sehr scheint es mir an der Zeit, diese bemerkens-
werten Dokumente fachmännisch einer sine ira vorgenommenen
psychologischen Würdigung zu unterziehen. Es ist ein
grosser Unterschied ob ein erbitterter Antiwagnerianer diese
Briefe mit hämischen Glossen versieht, um die angeb-
liche „mehr als weibische Putzsucht“ des Schreibers „zu
geissein“ oder ob sie unter die wissenschaftliche Lupe ge-
nommen dazu dienen, die Seelenkunde zu bereichern und die
Schlüsse zu berichtigen, die Spötter und Nichtwisser aus ihnen
fälschlich gezogen haben. Unrichtig ist es, aus der Korrespon-
denz mit der Modistin ein homosexuielles Empfinden Wagners
zu folgern, das unseres Erachtens auch Hanns Fuchs in seinem
interessanten Buch „Richard Wagner und die Homosexu-
alität“*) (in dem übrigens auf diese Briefe nicht näher Bezug
genommen ist) nicht erwiesen hat.
Noch viel unrichtiger aber ist es, wie es ungeschickte An-
hänger Wagners noch heute tun, den Inhalt dieser Briefe als
psychologisch belanglos durch ein äusseres Hautleiden er-
klären zu wollen, an dem der Meister gelitten haben soll. Die
ganze detaillierte Art der Bestellungen, ihre Fülle, der W^ert,
welcher auf die Farbenzusammenstellungen gelegt wird, die ge-
naue Beschreibung, wie die Gewänder anzufertigen sind, wieder-
legen diese Angabe, ganz abgesehen davon, dass der Atlas an
den meisten Stellen garnicht die Haut berührte und nach Mit-
teilung von Hautspezialisten auf eine etwaige Hautkrankheit
eher nachteilig gewirkt haben würde. Auch die Auffassung,
die sich in einer Stelle in F e d o r W e h l’s Tagebüchern
(„Zeit und Menschen“, Altona 1889 Bd. I S. 31) findet, trifft
nicht das Richtige. Dieser Passus lautet; „Am 2. Juni 1865.
Herbert König berichtete uns gestern von dem Sybaritismus
Richard Wagners und behauptete unter anderem: er sei mit
•) Mit dem Untertitel: „unter besonderer Berücksichtigung der sexuellen
Anomalien seiner Gestalten“ erschienen bei H. Barsdorf in Berlin 1903.
2U
) I
wohlriechenden Kissen ausgepolstert. Es ist kein
Zweifel, dass tiefiiiu erliche psycholo-
gische M 0 m e n t e die seltsame Neigung Wagners bestimm-
ten. Wie intensiv diese Neigung war, zeigen die von Wagners
eigener Hand aufgesetzten Rechnungen, die fast noch auf-
schlussreicher sind, wie die Briefe selbst, aus denen hervor-
geht, dass das Bestellte zu eigenem Gebrauch diente. So
lautet eine Rechnung;
Rechnung :
Gelber Atlas,
Lila „
Carmoisin Atlas
Blau „
Grün
Hellrot „
Chamoix „
Hellgrau „
8 Ellen
27 „
20 „
30 „
8 .
8 „
8 „
8 .
Stiefel:
1 Paar weiss
1 „ rosa
1 „ blau
1 „ gelb
1 r grau
1 „ grün
in Rosen-
bouquet
ä 7 fl.
.7^ „
. 7 „
7 „
„ 7 „
r*
r> ^ yy
r " r
„ 7 „
Rosa
32
. 7 „
Weiss „
32
. 7 „
Dunkleres Grün
20
„ 5 „ = fl
Weiss
50
„ 4 „ = 200 _
Grau
50
„ 3 „ =• 150 „
Rosa (aus Baumwolle)
100
„ 3 „ = 300 „
Blau (aus Baumwolle)
60
„ 3 „ = 180 „
Blau (licht)
30
Blaue Bettdecke und weiss gefüttert.
Rosen-Guirlanden
60
4 „ = 240 „
Peone-Rosen zu drei Körben
60 ..
1 weisse Atlas und Stickerei.
3 Paar Einsätze ä 25 bis 30 fl.
Breites weisses mit Guirlande.
20
20 „ = 120
215
] ff ^ l Decke ä 200 fl. = 400 fl.
i blciiiG j
Spitzenhemd 100 Ellen ,, 4 = 400 .,
Blondenspitzen 100 „ „ 1
50 Ellen breite 1 fl. 10 kr.
Band: rosa ä 18. 10 Stück. Blau, hellgrün. \ 9n • -lo
gelb, dunkel und hell. 10 Stück. j
3010 fl.
Stickerei: 2 kleine runde Kissen
2 grössere Kissen
in Rosenbouquets, reich.
Wir sehen aus dieser Rechnung, die Spitzer mit den sar-
kastischen Worten begleitet: ..Dreitausendundzehn Gulden!,
das scheint vielleicht manchem viel für die Rechnung eines
deutschen Mannes bei einer Putzmacherin“, dass Wagner
ausser den kostbaren Atlasgewändern in allen Farben auch
ein Spitzenhemd für 400 Gulden gebrauchte, ferner farbige
Atiasstiefel, sowie reich gemusterte Kissen, Körbe, Decken
aus gleichem Stoff. Die Beschaffenheit der Gewänder zeigt
unter anderen der sechste Brief, in dem es heisst;
Liebes Fräulein Bertha!
Geben Sie mir doch genau an, wie viel Geld ich Ihnen
zu schicken haben würde, wenn Sie mir dagegen einen Haus-
rock nach der beiliegenden Angabe lieferten. Die Farbe würde
Rosa sein, nach einem der beiliegenden Muster, welche ich
mit 1 und 2 bezeichnet habe, damit Sie mir die Preise von
beiden berechnen, von denen ich vermute, dass sie verschieden
sein dürften. Der von Nr. 2 ist etwas steif und im Rücken
gering — vermutlich österreichisches Fabrikat — doch ist
mir die Farbe angenehm. Also — genaue Berechnung.
Von dem Blau wähle ich nach dem beiliegend zurückge-
sandten Muster, welches hoffentlich nicht zu teuer ist. Ich
brauche 18 Ellen. Wenn Sie nicht mit dem zu den* neuen
Auslagen bestimmten Gelde ausreichen, so schicke ich hier
noch 25 Taler, welche Sie mir gefälligst verrechnen. Schicken
Sie mir mit dem blauen Atlas jedenfalls noch für 10 fl. von
den vergessenen ganz schmalen Blonden zu Hemdengarnituren,
Sie wissen, etwa ein Zoll breit.
Frau V. Biilow erwartet ihre Ret;hnung für die Mappe,
welche sie sogleich berichtigen wird.
Also — wie viel würde mich der beiliegend bezeichnete
Hausrock kosten?
Besten Gruss, Ihr ergebener
Rieh. Wagner.
Luzern. 1. Februar 1867.“
In einer Nachschrift findet sich dann mit Zeichnung fol-
gende Beschreibung:
„Rosa-Atlas. Mit Eiderdaunen gefüttert und in C a r r e s
abgenäht, wie die graue und rote Decke, welche ich von
Ihnen habe; gerade diese Stärke, leicht, nicht schwer; versteht
sich Ober- und Unterstoff zusammen abgenäht. IMit leichtem
weissen Atlas gefüttert. Die untere Rockweite auf sechs
Bahnen Breite, also sehr weit. Dazu extra angesetzt, nicht
auf das Gesteppte angenäht! — eine geschoppte Rüsche vom
gleichen Stoff, ringsum; von der Taille an soll die Rüsche
nach unten zu in einen immer breiter werdenden geschoppten
Einsatz (oder Besatz) ausgehen, welchen das Vorderteil ab-
schliesst
Sehen Sie genau hierfür die Zeichnung an: unten soll
dieser Aufsatz oder Schopp, welcher besonders reich und
schön gearbeitet sein muss, auf beiden Seiten sich bis zu einer
halben Elle Breite ausdehnen und dann eben aufsteigend bis
zur Taille sich in die gewöhnliche Breite der rings ein-
fassenden geschoppten Rüsche verlieren. Zur Seite des
Schoppens drei bis vier schöne Maschen vom Stoff. Die
Aermel, wie Sie mir dieselben zuletzt in Genf gemacht haben,
mit geschoppter Einfassung — reich; vorne eine Masche und
eine breitere, reiche, inwendig unten am herabhängenden Teil.
Dazu eine breite Schärpe von fünf Ellen die volle Breite des
Stoffes, nur in der Mitte etwas schmäler. Die Achseln
schmäler, damit die Aermel nicht herabziehen: Sie wissen.
•217
Also unten sechs Bahnen Weite (gesteppt) und zu jeder Seite
noch eine halbe Elle weiter Schopp vorne. Somit unten
sechs Bahnen und eine Elle breit.“
Spitzer fügt diesem Briefe folgende Erläuterung bei, die
von der satyrischen Form abgesehen, iuancherlei Beachtens-
wertes enthält;
„Der sechste Brief ist das wertvollste Stück der ganzen
Sammlung, ja, er ist ein Unikum, indem er zwei Federzeich-
nungen von des Meisters Hand enthält, nämlich die Zeichnung
des mit Eiderdaunen gefütterten Schlafrockes aus Rosa-Atlas,,
ein Prachtstück, in dem jede Hofdame Furore machen würde,
sowie die kleinere Zeichnung der fünf Ellen langen Schärpe, von
der wir nur besorgen, dass ihr Träger, der kUiner Statur ist,
über sie beim Gehen häufig stolpern werde. Die Zeichnung
des Schlafrockes verrät eine ausserordentliche Bildung nach
den besten Mustern der Mode- Journale. Die „abgenähten
Carres“ sind mit sanften Strichen ausgeführt und verraten
eine grosse Zartheit der Empfindung. Die „geschoppten
Rüschen und Maschen“ zeigen uns eine breite Federführung
und eine energische Hand. Der „geschoppte Einsatz“ vorne
ist phantastisch ausgeführt — in Callots Manier. Und
welches Leben ist in dem Ganzen; die Liebe des Meisters zu
ihm hat ihn belebt, wie die Pygmalions die Statue. Ja. dieser
Schlafrock hat eine Seele; in diesen abgesteppten Carres pul-
sieren die . Eiderdaunen; diese Rüschen sind nicht geschoppt,
es schwellt sie die Empfindung; diese Maschen atmen. Es
liegt ein zielbewusstes Streben in diesem Schlafrocke, es ist,
als ob er nach vorwärts stürmte und eine Stimme in ihm
triumphierend riefe: „Ich bin kein gewöhnlicher Schlafrock;
unter mir wogt nicht der verwerfliche Busen einer jüdischen
Bankiersfrau; in mir schlägt das Herz eines grossen Refor-
mators der deutschen Kunst; mich trägt Wagner. Wohl
weiss ich, dass ich bald sterben muss und vielleicht einem
geblümten weissen Atlas-Schlafrock Platz machen werde; aber
was liegt daran, besser acht Tage von dem grossen ernsten
Manne, der mich ergründet hat und versteht, als durch lange
Jahre von einem „im üppigsten Schosse des Luxus dahin-
lächelnden Rossini“ getragen zu werden, diesem „wollüstigen
/
- 218 -
Sohne Italiens’“, ..dessen lüstern schweifendes Auge meine
Reize kalt lassen". Wenn die Wagnerianer den Meister als
Musiker über alle Musiker vor ihm und nach ihm und als
Dichter neben Sophokles gestellt haben, so werden sie, nach-
dem er dieses Bild geschaffen, ihn als Schlafrock-Rafael in
die Reihe der grössten Maler stellen.“
Wie der Herausgeber der Briefe über sie dachte, zeigt er
in dem Motto, das er ihnen voransetzte, den Worten aus
dem ersten Aufzug der Walküre: „W ie gleicht er dem
Weibe"; er wiederholt sie am Ende seiner Ausführungen
mit der Bemerkung:
„Ich glaube, der Leser wird, nachdem er diese Briefe ge-
lesen, das Motto gerechtfertigt finden, das ich denselben mit-
gegeben habe: „Wie gleicht er dem Weibe!“ Hunding, der
Mann Siglindens, ruft dies in der Walküre, nachdem er die
Züge seines Gastes Siegmund gemessen, und fährt fort: „Der
gleissende Wurm glänzt auch ihm aus dem Auge.“ Wenn
man diese an eine Modistin gerichteten Briefe liest, wenn man
sieht, wie in denselben ausschliesslich und mit dem lebhaftesten
Interesse vom Putz gesprochen wird, und wenn man von den
grossen Summen erfährt, die für gleissenden Atlas verschwen-
det werden, man müsste glauben, läse man nicht die Unter-
schrift eines Mannes, es seien die Briefe eines Weibes.“
Auch wir sind der Meinung, dass die eigenartige Lieb-
haberei Wagners zur Annahme eines femininen Ein-
schlags in seiner Psyche berechtigt, der aber keineswegs
Spott und Hohn verdient, im Gegenteil für den nicht an der
Oberfläche haftenden Psychologen die ungemein reiche und
feine Kompliziertheit seines Seelenlebens bekundet, dessen ein-
gehendes Studium für einen modernen Psychoanalytiker eine
ebenso schwierige wie dankenswerte Aufgabe bilden würde.
Dass diese Feminität nicht mit Homosexualität iden-
tisch ist. wie Hans Fuchs anzunehmen scheint, wenn er
sagt:*) „Dass Nietzsche die geistige Homosexualität des alten
Wagner klar erkannt hat, zeigt sein Wort: „denn Wagner
) loco citato pag. 271.
war in alten Tagen durchaus feminini generis", dies beweisen
evident unsere hier monographisch erörterten Fälle, unter
denen namentlich der 111. mancherlei Züge aufweist, die
Wagners bisher so rätselhaft scheinende Neigung verständ-
licher zu machen geeignet sind, so. wenn dieser ebenfalls
künstlerisch schaffende Mann wörtlich schreibt: ..Hundertmal
habe ich bestätigt gefunden, dass mich mein heller Morgen-
rock besonders zur Abfassung wissenschaftlicher Arbeiten dis-
poniert, dass ein anderer blauer Morgenrock äusserst stark
auf den Stil wirkt, dass ein Strassenkostüm mit weisser Zier-
schürze also gewisserinassen eine Kabinettsrobe mich ohne
weiteres und aus der drückendsten Müdigkeit und Unlust her-
aus zu einer künstlerischen Arbeitsfähigkeit treibt, die ich
in sonst gar keinem Zustand kenne.“
Bei manchen Personen ist die Abhängigkeit ihrer geisti-
gen Schaffensmöglichkeit von der Beschaffenheit ihrer Klei-
dung ganz besonders gross, namentlich hört man dies häufig
von Künstlern und Gelehrten. Eine kleine Anekdote, die, als
sie seiner Zeit veröffentlicht wurde, viel belacht wurde, hat
neben ihrer komischen auch ihre psychologisch interessante
Seite. „Als der badische Staatsrat Nebenius eines Tags zum
Grossherzog Leopold gerufen ward, um eine eilige Depesche
sofort zu verfassen, sagte er: „Ja, königliche Hoheit, das
geht nicht so geschwind, da muss ich erst meine Pfeife haben.“
„Nun, Pfeifen können sie genug haben,“ entgegnete der Gross-
herzog. „Ja, aber ich muss auch ein Paar Babuschen haben“.
Auch diese wurden herbeigeschafft. „Ja. aber ich muss auch
einen Schlafrock haben." Das war dem Grossherzog doch zu
arg und er rief: „Gottsdonnerwetter, so gehen Sie nach
Hause.“*) Uebrigens soll auch Beethoven nur im
Schlafrock haben komponieren können und von Haydn wird
berichtet, dass er es nur vermochte, wenn er „seine feinste
Toilette“ angelegt hatte.
Von irgendwelchen masochistischen Unterströmungen findet
sich in den Angaben, welche so beredt die durch das Kleid
*) vgl. Dr. R. Schulze: Modenarrheiten. Berlin 1868. p. 235.
•220
bewirkte Aktivitätssteigerung schildern, nicht das geringste.
Diese Feststellung ist wichtig für die Beziehungen zwischen
Verkleidungs trieb und Masochismus, denen
wir jetzt unsere Aufmerksamkeit zuwenden wollen.
Verkleidungstrieb und Masochismus.
Masochismus ist Lust am Leide, gleichwohl ob es
mehr ein Erleiden körperlicher Schmerzen oder ein Erdulden see-
lischer Qualen, mehr eine leibliche oder geistige Gebunden-
h e i t ist. Das Wesentliche des Masochismus ist die
lustbetonte Abhängigkeit, wie das des Sadismus die sexuelle
Beherrschung, das Unwesentliche die ganz ausserordentlich
vielgestaltige Art und Weise, in der das Leiden-Wollen und
Leiden-Lassen-WoUen, die Sklaverei undTyrannei
der Liebe symbolistisch zum Ausdruck gelangt.
Wie bei allen sexuellen Anomalien zeigen sich auch beim
Masochismus bereits im frühen Kindesalter leise Andeutungen
des späteren Triebcharakters; auch unter unseren Fällen be-
finden sich einige, bei denen deutliche masochistische Züge
lange vor der Pubertät nachw^eisbar sind; so erfahren wir von
I _das3 der Vortrag der Passionsgeschichte in der Schule bei
ihm Erektionen bewirkte, die sich zuweilen wiederholten, wenn
von Strafen oder Misshandlungen gesprochen wurde“. Ein an-
derer (VII) erzählt: „ich empfand eine sinnliche Befriedigung,
w'enn ich mich als kleiner Knabe platt auf die Erde legte und
wenn meine Mutter dann ihren Schuh auszog, mit dem Fuss
sanft über meinen Rücken strich und tretende Bewegungen
machte. Ich nannte das Paddetre'^en und bat im Alter von
5 — 6 Jahren meine Mutter fast täglich darum.“ XII schwärzte
sich als Kind das Gesicht heimlich mit gebranntem Kork und
masturbierte dabei; er schämte und sträubte sich aber sehr,
an dem Kinderspiel „Schw^arzer Peter“ teilzunehmen, bei
welchem dem Verlierer mit geschw'ärztem Kork ein Bart an-
gemalt wird. Er fügt sehr bezeichnend hinzu: „ich teile dies
mit, weil gerade das. worüber ich mich schämte, in meiner
Phantasie heiss begehrt wurde.“ Später stellte er sich, um
221
sich sexuell zu erregen, vor, dass .,geliebte Frauen ihn in
einen kohlschwarzen Neger oder in einen weissbemalten bunt-
ausstaffierten Clown verwandelten.“
Auch bei unseren erwachsenen Transvestiten findet sich
mancherlei, was einen masochistischen Eindruck macht; so
wird von einigen das Einstecken der Ohrringe, das enge Ein-
schnüren in das Korsett als besonders wohltuend erwähnt,
auch der Wunsch einiger, möglichst dienende' Stellungen als
Kammermädchen, Hausmagd einzunehmen, die Vorliebe für
recht „energische“ männliche Frauen, Aeusserungen wie die
von XIII: „vom Weibe erwarte ich den Angriff“ namentlich
der fast durchgängige Trieb in actu succumbentes zu sein,
deuten auf geschlechtlichen Passivismus; hauptsächlich aber
wird von einigen die Weiberrolle selbst als etwas sexuell
her ab würdigendes empfunden. Am stärksten gibt diese Auf-
fassung unser Fall XII wieder: „Gibt es eine grössere De-
mütigung“ — meint er, — „als wenn der körperlich starke
Mann gezwungen wird, die Gestalt des Weibes anzunehmen“.
Er setzt dann auseinander, dass für den echten Mann die
Befriedigung des Geschlechtstriebes nur eine „zu seinem Wohl-
befinden nötige Körperübung“ sei, für seinen „grosszügigen
schaffenden Geist“ seien die Frauen „nur Vergnügungsobjekte“.
„Was ist nun aber wohl erniedrigender, als wenn ein solcher
Mann in die kleinen Grenzen des Frauengeistes gebannt wird,
gezwungen wird, das zu sein, was ihm die Frau sein
sollte, ein Werkzeug zur Befriedigung von Geschlechtstrieb
und Laune“. Viel demütigender, als „brutaler Uebergewalt“
zu erliegen, sei für einen ernstlich widerstrebenden Masochisten,
wenn er dauernd in eine für ihn schmachvolle oder lächerliche
Eolle hineingezwungen wird, in der er zwar äusserlich schein-
bare Bewegungsfreiheit besitzt, während ihm dennoch jeden
Augenblick ins Bewusstsein gerufen wird, dass alles, worauf der
Mann sonst stolz ist, seine männlichen Fähigkeiten, seine
Stärke, sein Ernst, seine Ueberlegenheit über das weibliche
Geschlecht gleichsam lahm gelegt sind. „Nicht grobe über-
mächtige Gewalt, sondern der eigene Schwächezustand, in
den ihn das Weib klug versetzt hat, wird ihm zum Hinder-
nis.“ Bei solchen Gedankengängen ist es nicht verwunderlich,
22’2
wenn vsich der Wunsch Weib zu sein schliesslich trotz hetero-
sexueller Veranlagung zu der temporaren Vorstellung steigert,
von einem „Hünen“ vergewaltigt zu werden. In höchster
Ekstase ruft M. in seinem Tagtraum aus: „Tausend Dank, ge-
liebter Mann, Dir will ich g e h ö r e n für immer. Töte
mich, aber lass mich Dein Weib sein.“
Wir haben hier den verhältnismässig seltenen Fall vor uns,
dass der homosexuelle Drang eines Menschen auf dem Umwege
der Effeminations- und Hörigkeitsidee einer maso-
chistischen Wurzel entwächst.
In noch höherem Grade, wie unser Fall XII scheint der
Verfasser eines englischen Werkes effeminierter Masochist oder
masochistischer Effeminierter zu sein, das ein Seitenstück zu
der oben referierten Bekenntnisschrift: „Weiberbeute“ darstellt.
Es handelt sich um das Buch „Gynaecocracy, a narrative of
the adventures and psychological experiences of Julian Ro-
binson (afterwords Viscount Ladywood) under petticoat-rule,
written by himself“.
Die uns vorliegende Ausgabe umfasst 3 Bände und ist
datiert „Paris and Rotterdam 1893".*) Ob sie das frühste
Original ist oder ein späterer Nachdruck, ist schwer zu sagen.
Jedenfalls darf man die Entstehung des Werkes in die acht-
ziger Jahre des vorigen Jahrhunderts verlegen. Der anonyme
Autor hat sich bisher nicht ermitteln lassen; sein wahrer
Name kann uns auch gleichgültig sein; soviel aber ist klar,
dass er ein ^lann von erlesener Bildung und bedeutender
schriftstellerischer, wenn nicht künstlerischer Begabung war,
und dass er den höheren Gesellschaftskreisen Englands ange-
hörte, möglicherweise noch angehört. Sein anonymes WXrk
ist freilich stellenweise ein ziemlich freies Eroticum, aber so
•) Nacliträglich sehe ich, dass neuerdings auch eine deutsche Ueber-
setzung obigen Werkes angezeigt wird unter dem Titel;
„Weiberherrschaft', die seelischen und körperlichen Erlebnisse des Julian
Robin.son, nachmaligen Viscount Ladywood. Von ihm selbst niedergeschrieben
zu einer Zeit, wo er unter dem Pantoffel stand. Erste und vollständige
Uebertragung nach der englischen Originalausgabe von Erich von Berini-Bell.
Mit sechs farbigen Zeichnungen von Carl Maria Diez. Einmalige AuQage in
500 Exemplaren zu Preisen von 50 und 100 Mk.“
223
hervorragend an psychologischer Beobaclitung, dass es unter
den englischen Eroticis fast einzig dasteht und auch in der
Weltliteratur dieser Art von - Selbstbekenntnissen
neben den Werken Rousseau's, Retifs, de Sades einen erst-
reihigen Platz einnimint. Wir geben aus seinem reichen In-
halt einige für unser Thema besonders beachtenswerte Stellen
wieder:
„Julian, ein junger Mann „in den Flegeljahren“, hat sich
dem Dienstmädchen gegenüber „eine erste Ungezogenheit“ her-
ausgenommen. „Seine Instinkte sind erwacht“. Er soll des-
halb aus dem vornehmen väterlichen Hause getan werden und
in reguläre Schulzucht kommen. Ein Onkel von ihm hat drei
minderjährigen Töchtern einen schönen Landsitz hinterlassen,
auf dem dieselben unter Leitung einer „Mademoiselle“, unter-
stützt von entsprechendem Dienstpersonal, erzogen werden. In
diese Umgebung von lauter Frauen wird Julian versetzt und
vom ersten Augenblick an nicht als „Mann“, sondern mehr
„als Bagatelle und nichtssagende Puppe“ behandelt. Das
widerspenstige Bürschchen kriegt gehörige Ohrfeigen, wobei
ihn das kräftige Dienstmädchen Elise festhalten muss. Hier-
bei wird ihm die erste Aufklärung von der weiblichen Ueber-
gewalt über die Sinne zu teil: „Ich wurde dessen gewahr, was
Zola das mächtige weibliche Parfüm nennt — odore di femina“.
„Zu seiner weiteren Zähmung“ wird er nun
unter dem schadenfrohen Gelächter der Zuschauerinnen in
die Ecke gestellt, mit einem Unterrock um den Kopf,
als Symbol seiner zukünftigen Lebensdominante, und danach
überhaupt ganz und gar in ein weibliches-
Kostüm getan. Das Heer seiner widerstreitenden Ge-
fühle beschreibt er unter anderm: „Eine Art mesmerischen
Einflusses war anscheinend aus jenem durch und durch weib-
lichen Kleidungsstück in mich gefahren, aus jenem Unterrock,
der zuerst mit Madeinoiselles Leib in so engem Kontakt und
dann so lange über meinem Kopf und vor meinem Gesicht ge-
wesen war, während ich, der in Ungnade Gefallene, im Win-
kel stand! Er hatte mir jedenfalls meine Stärke, meine ganze
Widerstandskraft, meine Selbstachtung genommen und mich
vor mir selbst verächtlich gemacht — kurz,.
mich völlig entmannt. Ich fühlte meine Mannes-
kraft deutlich in der Zeit schwinden, als
ich mit dem roten Unterrock dastand, der mir über Augen.
Nase und Mund bis über die Schultern herabhing und mich
an nichts anderes denken liess, als dass es eines Weibes Hock
sei, den ich trage, und dass etwas so spezifisch Weibliches
mir, ob ich wollte oder nicht, aufgezwungen wurde. Ich
musste nach und nach der Flut weiblichen Einflusses w'eichen,
die da über mich hereinbrach; musste Stück für Stück der
Macht des Weibes nachgeben.“ . . . „Der Leser möge jedoch
nicht glauben, dass ich mit einem Male unterjocht wurde. Es
gab mehr als einen Rückfall. Mein Mannestum war in an-
dauernder Empörung begriffen und es bedurfte vieler harter
Lehren, um es völlig zu töten. Ich aber muss bekennen, dass
meine Abscheu mit der Zeit nachliess; meine Wutausbrüche
wurden seltener, und schliesslich wnirde ich ein elender Pan-
toffelheld.“ . . . „Mademoiselle half mir dann beim An-
legen des Kostüms. Wie sonderbar mich das alles berührte!
Entehrt fühlte ich mich jedoch, als ich hörte, dass ich über
allen Kleidungsstücken noch eins von Mademoiselles Spitzen-
höschen tragen müsse, dessen Schnürbänder um meinen Hals
zugezogen wurden, während meine Arme durch die Beinlöcher
durchschlüpfen mussten, und ich somit die Hosen als Aermel
trug. Mit Strumpfbändern waren sie an den Handgelenken
umspannt. In diesem Aufzug sollte ich in Gegenwart der
Mädchen am Essen teilnehmen, zum Zeichen meiner Un-
terwerfung und der Unschädlichmachung meines !Mannes-
tums. Nicht genug daran, dass ich die Unterröcke ertragen
musste! Die Beinkleider taten das ihrige, um meine Ernie-
drigung zu vervollständigen. Immerhin zogen die Ungew^ohnt-
heit und Unbequemlichkeit der Kleidung meine Aufmerksam-
keit ein wenig von der grossen Demütigung ab, die ich durch-
machte, wozu auch die Anstrengung beitrug, die ich auf-
bringen musste, um mich überhaupt richtig zu bewegen. Denn
das Gehen in Mädchenschuhen mit hohen Absätzen war keine
Kleinigkeit; die \ielen Knöpfe drückten mich, die Schuhe
waren so klein, dass die Füsse in sie hineingezwängt werden
mussten, und die Absätze kamen mir wie Berge; vor. Ich
225
errötete wie ein Mädchen, als ich bedachte, dass sich mein
Körper in Frauengewänder schmiege, und dass meine Arme
in Damenbeinkleidern steckten. Wahrhaft mädchenhafte
Empfindungen aber wurden in mir ausgelöst, durch das zarte,
zierliche, spitzenbesetzte, für den Bedarfsfall unverwendbare
Taschentuch, das ich in der Hand hielt, und ich machte mir
tatsächlich Gedanken darüber, ob ich nicht wirklich ein Mäd-
chen sei, als ich ins Speisezimmer geschoben und den Cousinen
als Fräulein Julia vorgestellt wurde.“ . . . „Ich war
mir eines subtilen, undefinierbaren Einflusses bewusst, aber
seine Ursache war mir noch ein Geheimnis, seine Macht ein
Rätsel. Ich wusste nicht, warum ich erectionem permagnam
et effluxionem liquoris viscosi bekam. Bei alle dem an die
Fortpflanzung der Menschheit zu denken, fiel mir nicht im
geringsten ein. Das schien mir einer jener trockenen und ge-
lehrten Gegenstände zu sein, wie sie in den Einleitungen zu
Geographiebüchern bei der Erklärung der Jahreszeiten, der
Umdrehung der Erde usw. abgetan werden.“
Julia erfährt nun durch Mademoiselle weitere praktische
Aufklärungen über die ars amandi. Dann wird in die Er-
zählung eine Art Mannweib eingeführt, „Lord Alfred
Ridlington“. Bei Gelegenheit eines Balles vürd er ihr als
„Fräulein Julia“ vorgestellt. „Lord Alfred führte mich zu
Tisch. Er bediente mich in der aufmerksamsten Weise, wie
es sich für einen Kavalier seiner Dame gegenüber schickt. Ich
wiederum bemühte mich, so gut ich es konnte, einer jungen
Dame gleich zu sein. Ich nahm darauf Bedacht, ihn nicht
zu sehr zu ermutigen, gab mich in Miene und Gebärde, wie
ein Mädchen, mit ihrem hübschen Wählerischtun, den ko-
ketten Eigensinnigkeiten und Launen.“ . . . „Er war ein nett
aussehender junger Mann, blond, stämmig, mit vuinderschönem
Munde, Zähnen, Ohren und Händen; über seinem Brustkorb
war eine ungewöhnlich grosse, schneeweisse Hemdbrust ge-
spannt, in der drei strahlende Brillantknöpfe steckten. Es
fiel mir auf, wie weiss und ungewöhnlich wohlgeformt sein
Hals war, und eine gewisse Sanftmut, ich möchte fast sagen,
Weiblichkeit in der Art sich zu geben, drängte mir die Frage
- auf, ob auch er derselben Zucht unterworfen gewesen sein
Hirschfeld, Die Transvestiten. 15
•226
moclite, die ich durchmachte. Es stimmte mich traurig, wenn
ich daran dachte, wie bitter enttäuscht er wäre, w'enn er je
erführe, dass ich ein Mann sei.“
Fräulein Julia gerät schliesslich mit dem vermeintlichen Lord
iu eine Situation, in der dieser „ihre“ Mannheit entdecken
muss. Aber der Lord tut so wenig verwunderlich, dass bei
Julia gerechte Zweifel über sein Geschlecht aufsteigen. „Trotz-
dem er mich erkannte, glänzten seine Augen, seine Lippen
waren auf meine gepresst, und er schien von einer starken
leidenschaftlichen Erregung befallen zu sein, die meiner ähnelte,
war er wirklich ein Mann?“
Die Erzählung steigt nun weiterhin zu ihrem dramati-
schen Höhepunkt an. Julia und Maud, die eine seiner Cou-
sinen, beide naiv und „absolut unwissend“, „vergessen sich“
coitum perficientes. Die Szene mit der schliesslichen Ueber-
raschung des Paars durch Mademoiselle ist sehr bewegt und
gehört zu den besten des Buchs. Das Resuine, das der Autor
aus diesem Erlebnis zieht, ist merkwürdig genug. Er fühlt
sich (wenn er es auch re vera in actu nicht w'ar) dennoch
als den passiven Succubus. Er schreibt: „Als Her-
kules infolge des Mordes an Iphitus schwer erkrankte und
vom Orakel erfuhr, dass er nicht eher gesunden könne, bis
er nicht auf die Dauer von drei Jahren um Lohn gedient
habe, verkaufte ihn. Hermes an Omphale — die ihn zum
Vater mehrerer Kinder machte! Ja, daran erinnere ich mich
sehr gut. Zweifellos wird der Leser bemerkt haben, dass die
Abenteuer, oder vielmehr dieses eine Abenteuer des Herkules
einen tiefen Eindruck auf mich machte und grosses Interesse
in mir wachrief. Ich war immer der Ansicht, dass Herkules
durch seine Strafe ausserordentlich beglückt
worden sei, und man mag die Stärke dieser Meinung aus der
eigentlich nebensächlichen Feststellung erkennen, dass Herku-
les durch Omphale Vater von sieben Kindern wurde! Glück-
licher Mann! Wir kennen den Kopf der Omphale; welch ko-
ketten kleinen Kopf und wie eine pikante Nase sie hatte.
Und dann: dieser entschlossene und dennoch wollustatmende
Mund, diese grossen Augen, aus denen ein strahlendes Leuchten
kam — , Augen, die feucht erglänzten und aussahen, wie
227
blasse Wasserlilien auf durchsichtig klarem Teich, wenn ihre
Besitzerin aus der Fassung gebracht oder geärgert wurde,
oder wenn Herkules ihr weh tat, worauf sie ihm dann wegen
ungeschickten Benehmens im Arbeitszimmer Schläge verab-
folgte. “
„Wie verächtlich mag zuerst ihr vorwurfsvoller Blick,
wie rasch der Uebergang von nachgiebiger Laune zu feuriger,
rachesprühender Glut gewesen sein! Gleich waren ihre lydi-
schen Mädchen zur Hand, um Herkules denSchnür-
leib anzulegen undunmässig festzuziehn.
Dann schleppten sie ihn ins Ankleidezimmer der Königin, wo
er zweifellos, gefesselt auf dem Rücken liegend — denn
sonst wäre er unzähmbar gewesen — dem reizenden Weibe
die Strafe für sein schlechtes Benehmen zahlen musste; jenem
Weibe, das durch göttliche Bestimmung ebenso sehr wie durch
ihre Reize seine unumschränkte Herrin war.“
„Es ist bemerkenswert, wie diese Geschichte, durch ein
scheinbar allgeuieines Einverständnis der Männer, in Ver-
gessenheit geraten ist. Es gibt nur wenige bildliche Dar-
stellungen dieser Periode ira Leben des Herkules, wenn es über-
haupt welche gibt. Statuen, die eine Darstellung der Venus
bringen, wie sie Cupido schlägt, sind im Ueberfluss vorhan-
den. Auch die Darstellung des Circe kennt man, wo diese
nackt in einem Sessel liegt und den einen Fuss auf den Kopf
des knieenden, bewaffneten Ulysses gestellt hat. Wo aber
findet man — mit Ausnahme der borghesischen Statue —
einen Herkules, wie er von Omphale geschlagen wird, oder
Herkules in F r a u e n k 1 e i d e r n?“
„Omphale herrschte, wie Mademoiselle, durch die Ver-
einigung von Gewalt und Liebe. Ich bin zu dem Schluss ge-
kommen, dass alle Männer von Frauen beherrscht werden.
Warum verschweigt man das? Es verliehe mir einigen Trost,
wenn dem nicht so wäre. Ich weiss von vielen meiner Leidens-
genossen, und das ermutigt mich beim Niederschreiben dieser
Erlebnisse. Aber ich kann keine offenen S3rmpathien erringen.
Wenn man einen Klub von Pantoffelhelden gründen wollte,
fände sich sicherlich nur ein einziges Mitglied, und das wäre
i c h. Und ich bezweifle noch sehr, ob ich den Mut hätte,
15*
228
beizutreten, wenn nicht s i e mich dazu zwänge. Es ist aller-
dings nur zu wahrscheinlich, dass sie es täte.“
, Sieben Kinder! Glücklicher ilann! Ja, zweifellos muss
Herkules durch Gewalt oder durch Liebe und Ehrfurcht nieder-
gehalten worden sein und Omphale in der Umkehrung
des normalen Vorgangs tarn diu incubuisse, bis
er völlig erschöpft war; erschöpft, wie jener andere Mann,
von dem Brantome erzählt, wie er sein Weib aufge-
weckt habe. Man kennt die Geschichte. Femina marito in-
cubuit atque semel, bis, ter, quater copulam iniit, sodass er
ohnmächtig zusammenbrach. Du wirst mich nicht mehr aus
dem Schlaf stören, sagt sie dann, ich habe dir eine anständige
Lektion erteilt!“
Julian soll nun zur Strafe für seinen Frevel an der Cou-
sine nach London gebracht und dort kastriert werden,
um auch äusserlich dem Weibe mehr ähnlich zu sein. Diese
Drohung macht ihn sehr bestürzt; in Wirklichkeit wird ihm
indessen bloss seine Phimose operiert, „natürlich von einer
Aerztin“. Zuvor aber muss er noch verschiedene Stadien
der „Disziplin“ durchlaufen, deren Resume hier nicht weiter
interessiert. Dagegen seien noch verschiedene theoretische Aus-
lassungen angeführt:
„Worin liegt der Reiz und der verborgene Einfluss des
Weibes? In der Kleidung? Tatsächlich üben die Unterröcke,
die Hosen, das Mieder und die langen Strümpfe einen mäch-
tigen und geheimnisvollen Zauber aus. Maud, als sie nackt
war, beherrschte mich nicht so sehr, wie bekleidet. Und als
ich splitternackt vor Beatrice gelegen hatte, während sie be-
kleidet war, Hess mich eben das den Unterschied so tief
empfinden; wäre auch sie nackt gewesen, so hätte ich mich
nicht so sehr geschämt. Es gibt nichts ärgeres für einen
jungen Mann, als in Gegenwart bekleideter Damen nackt zu
sein. Woher kommt aber dieser subtile Einfluss der Kleidung?
Wenn das Weib seine Kleider zu gunsten eines sogen, ver-
nünftigen oder reformierten Kostüms aufgibt, so büsst es
gleichzeitig viel von seiner Herrschaft über den Mann ein.
Macauly sagt in seiner Geschichte Englands: „Das Gift, das
gewisse Schriftsteller verabreichten, war so stark, dass es in
229
kurzer Zeit zu Uebelk eiten führte. Keiner von ihnen hatte
Verständnis dafür, wie gefährlich es sei, Darstellungen uner-
laubten Vergnügens mit allem zu verknüpfen, was lieblich
und veredelnd ist. Keiner von ihnen war sich dessen bewusst,
dass sogar die Libido eines gewissen Dekorums bedürfe, dass
Kleidung verführerischer sein mag, als
Nacktheit, und dass die Phantasie viel mehr durch
zarte Andeutungen bewegt werden könne, die sie dazu bringen,
aus sich herauszugehn, als durch rohe Beschreibungen, die
sie untätig in sich aufnimmt.“ „Wenn das Weib ein Bild
unerlaubten Vergnügens ist, so versteht ee zumindest völlig
die Kunst, seine liebliche Person mit lockenden und adelnden
Kleidungsstücken zu umgeben, die mit Rüschen, Aufschlägen
und Spitzen geputzt sind und die erlesene Schönheit seines
Körpers halb enthüllen, um so die Phantasie durch das, was
verborgen wird, um so mehr zu reizen. Hätte ich zur Zeit
der Liebeshöfe gelebt, so hätte ich die Frage aufgeworfen, ob
Jener Liebhaber glücklicher sei, der seine Herrin nackt oder
Jener, der sie en grande tenue gesehen habe. Und ich hätte
von Jedem Mitglied des Tribunals ein schriftliches, genau be-
gründetes Urteil verlangt.“
In London wird Julian in ein Modemagazin geführt, wo
ihm die verschiedensten Kostümröcke angemessen werden. Bei
dieser Gelegenheit fallen die markantesten Expektorationen
über ein Kleidungsstück, das in der englischen Erotik eine
grosse Rolle spielt, über das Korsett. „Schnürleiber“, lässt der
Autor eine Verkäuferin sagen, „sind nicht so radikal wie der
Rohrstock, aber immerhin wirksam genug. Oder bereiten sie
Ihnen vielleicht Schmerzen? Es liegen keine abgerissene Knos-
pen und Holzsplitter auf dem Boden umher; der Schnürleib
macht nicht solchen Lärm, wie der pfeifende Stock, und dann
ist er schliesslich ein Teil der weiblichen Kleidung, nicht
wahr? Ich glaube, wenn Sie einmal heiraten, werden Sie
ordentlich unter dem Pantoffel stehn. Es ist das beste für
den Mann. Und Ihre Frau wird schon dafür sorgen, dass Sic
die Schnürleiber fürchten! Wissen Sie, Gnädige, wandte sie
sich an Mademoiselle, viele Damen bringen ihre Männer oder Lieb-
haber hier her, um sie unter die Herrschaft der Stahlschienen
230
zu bekommen. Erst neulich brachte eine junge Dame ihren
Bräutigam her und erklärte, dass sie ihn nur unter der Be-
dingung heiraten werde, dass er eins unserer engsten Mieder
anlege und Danienbeinkleider trage, um ihm zu beweisen, dass
er nicht länger sein eigener Herr sei, sondern einer Ilernn zu
gehorchen habe und deren Eigentum darstelle.“ Bei der
Aerztin, die bei ihm die Circumcision vornimmt, werden ihm
auch die Ohrläppchen durchbohrt, da er goldene Ohrringe
tragen soll.
Trotzdem sich nun Julian in ausgedehntem Masse sexuell
als Mann betätigt, führt er in Kleidung, Gewohnheiten und
Beschäftigungen ganz das Dasein eines Mädchens. Sein
Entzücken über „Dessous“ und alles andre wächst in dem Masse,
wie er diese Dinge selber trägt. Der vermeintliche Lord tritt
wieder in die Erscheinung. Julian benimmt sich ganz mäd-
chenhaft verschämt: „Ich gedachte der Tage“, schreibt er,
„wo ich ein roher, ungeschliffener Bursche war und staunte
selbst über die überraschend vollkommene Wandlung, die ich
durchgemacht hatte. Mein früheres Benehmen flösste mir Ent-
setzen ein. Ich schämte mich und errötete. Die Vergangen-
heit wmr doch wirklich beschämend für jemand, der sein
ganzes Leben in Röcken hätte stecken
sollen. Die Zucht, die ich durchmachte, war so lückenlos,
dass ich noch heute, wo ich doch alles w^eiss und mir auch
im Klaren darüber bin, wie man mich täuschte, den starken
Eindruck nicht los w’erden kann, der ungeschwächt seine wun-
derbar zähmende Wirkung auf mich ausübt.“
Mademoiselle sucht ihm einzureden, er sei eigentlich ein
Hermaphrodit, und schliesslich behandelt sie ihn ganz ernst-
haft als ihresgleichen. Ich warf Mademoiselle einen dank-
baren Blick dafür zu. Die Betonung der Gleich-
heit des Geschlechts brachte in mir eine Flut von
angenehmen Empfindungen hervor. Ich war verwirrt und
konnte mich dem wunderbaren Einfluss nicht entziehen, den
die Aeusserung auf mich ausübte, dass unter meinen ^Mädchen-
kleidern ein wirkliches Mädchen stecke.“ Es war aber nur
eine kurze Freude und bald schämt er sich wieder seiner
virilen Körperlichkeit: „Ich fühlte nur zu sehr den Mangel
231
eines anatomischen Gebildes, das zur Empfängnis notwendig
ist. Der Lord hatte mir Empfindungen vermittelt, die, wie
ich \vusste, zu keinem Ergebnis führten." Alle diese Vor-
stellungen führen im Roman schliesslich dazu, dass der
Lord, das verkleidete Mannweib, die Julia,
den verkleideten Weib mann, cum apparatu pä-
diziert.
Der Roman schildert weiterhin noch "sdelfach variierte
Abenteuer unter den immer gleichen Auspizien und zum
Schluss die Ehe des Verfassers, die natürlich auch keinen
andern Verlauf nimmt. Das Schlusswort lautet; „Die Frau
macht den Mann. Erstens macht sie ihn wirklich, denn sie
empfängt das Kind und bringt es zur Welt; zweitens macht
sie ihn durch ihre Zucht, durch die Einwirkung ihres gesun-
den Menschenverstandes und dadurch, dass sie ihn unter dem
Pantoffel hält. Wäre ich sonst geworden, was ich bin, wenn
ich nicht so streng unter der Herrschaft des Weibes gestanden
hätte? Auf die Gefahr hin, dass man mich be-
mitleide und bedaure, muss ich gestehn,
dass ich meineFesseln undmeineTyrannin
liebe. Sie hat meine geistige und körperliche Entwicklung
gefördert. Und es gibt doch viele und grosse physische Ent-
schädigungen. Es liegt eine w'underbare Lust darin, sich
einem Weibe beugen zu müssen, und es bereitet
einen viel grössern Genuss, seine Befehle auszuführen, als auf
eigene Faust zu handeln. Wenn ich durch irgend etwas daran
erinnert werde, dass ich meiner Herrin Wäsche am Leibe
trage, so geht es mir durch Mark und Bein. Und was die
Führung meiner Geschäfte anbelangt, so besorgt meine Frau
das besser als ich. Dennoch habe ich das unbestimmte Ge-
fühl, dass der Mann nicht nur für das Weib da sei.
Diese Welt ist des Weibes, und sie gehört ihm
ganz. Sein ist die Herrschaft, betrachte man es wie man wolle.
Ich glaube daiier, dass es noch eine andere Welt geben muss,
wo der Mann die Hauptrolle spielt. Doch — auch dort geht
es wahrscheinlich nicht ohne die Frau, ohne ihren Einfluss
und das grosse Mysterium ihres Geschlechtes ab. Sollte es
so zu verstehn sein, dass geschrieben steht, in ein gewisses
232
Königreich werden die Weichlinge nicht kommen? Wer ist
übrigens ein Weichling? Verweichligung kann doch nicht die
Folge einer gesunden Zucht sein?“
Trotzdem in dieser Geschichte des Engländers wie in
Fall XII Verkleidungstrieb und Masochismus fast identisch er-
scheinen, halte ich beide doch sowohl hier als überhaupt für
gesonderte Erscheinungen und zwar aus folgenden Gründen:
Zunächst findet man keineswegs bei allen Transvestiten maso-
chistische Züge, stärker ausgeprägte sogar nur bei verhält-
nismässig wenigen, ja bei einigen findet sich das gerade
Gegenteil davon, so bei YI, dem „die Mädchen weglaufen,
weil er sie zu sehr tyrannisiert“ und bei VIII, der nur bei
stuprumartigem Verkehr mit „erzwungenem basium linguorum“'
zur Befriedigung gelangt. Vor allem ist zu berücksichtigen,
dass, wie Krafft-Ebing dies in seinem vortrefflichen „Versuch
einer Erklärung des Masochismus“ überzeugend klargelegt hat,,
dieser an und für sich eine Ausartung spezifisch weib-
licher Eigenschaften darstellt, während „der Sadismus als
eine pathologische Steigerung des männlichen Ge-
schlechtscharakters in seinem psychischen Bei-
werk“ anzusehen ist. Bei unseren Transvestiten lassen sich
fast alle Züge, die zunächst als masochistische imponieren,
zwanglos auf den Effeminationswunsch zurückführen, so die
Neigung in actu zu succumbieren, die Sehnsucht ein ener-
gisches Weib zu besitzen und von ihm den Angriff zu er-
fahren, letzten Endes auch die Lust an zunächst unbequemen
und schmerzhaften Attributen der Weiblichkeit, wie am
Durchstechen der Ohrläppchen, am Tragen eines eng ge-
schnürten Korsetts, an Schuhen, „in die die Füsse hinein-
gezwängt werden müssen und deren Absätze einem wie
Berge verkommen“. Es w'ird hier eben das körperliche
Unbehagen durch das seelische Behagen weibliches zu
erfüllen und zu empfinden überkompensiert.
Gibt es unter den Transvestiten nur "wenig algophile
(schmerzliebende), so findet sich auf der ander en Seite unter
der, wie es scheint, recht ausgedehnten Gemeinde maso-
chistischer Männer nur höchst selten einer, bei dem der Trieb
sich als Weib zu kleiden, vorhanden ist. Gewerbsmässige
233
Berliner „Maitressen". — das Wort hier in seiner Ableitung,
von „Maitre“ im Sinne von Herrin gebraucht — die-
über eine grosse masochistische Klientel verfügen, teilten mir
auf Befragen mit, dass unter ihren Kunden solche, die eine-
Weiberrolle spielen wollen, verhältnismässig selten Vor-
kommen; ich konnte nur von zweien erfahren, die ehe sie
ihre „domina“ aufsuchen, einen Karton mit Damengarderobe
vorausschicken, am sich vor der Züchtigung als Frau zu
kleiden. Dies dürften wohl Fälle sein, die, wie unser Polizist
(VIII.), der ja auch Masseusen frequentiert, zu den wirk-
lichen Transvestiten gehören, die nebenbei masochistische
Neigungen haben. Eine Vergesellschaftung von Transvesti-
tismus mit Masochismus scheint auch bei dem zu seiner Zeit
als höchst eigenartiges Original sehr bekannten Eng-
länder George Augustus Selwyn*) (1719 — 1792) Vorge-
legen zu haben. Sehr geschätzt wegen seiner grossen Kennt-
nisse, seinem feinen Humor und künstlerischem Geschmack,
der fast 40 Jahre in London tonangebend war, dabei „sanft und
gutherzig wie ein Kind“, verfolgte er „mit schmerzlich rätsel-
hafter Wonne“ alle Einzelheiten begangener Mordtaten und
hatte eine wahre Leidenschaft, zumeist als
Frau verkleidet, Hinrichtungen beizu-
wohnen. Sein Freund Horace Walpole, der bekannte
Dichter, erzählt zahlreiche Anekdoten über diese seltsamen
Gelüste. Als er 1756 eigens wieder von London nach Paris
geeilt war, um der Hinrichtung Damiles beizuwohnen, der
wegen seines Attentats auf Ludwig XV. in niartervollster
Weise getötet werden sollte, drängte er sich, dieses Mal aus-
nahmsweise als Herr gekleidet, so nahe durch die Menge
an das Schafott, dass man ihn fragte; „Sind Sie der Scharf-
richter?“, worauf ihm die bezeichnende Antwort entfuhr;
„Non, non, monsieur, je n'ai pas cet honneur, je ne suis
q’u n amateur.“
*) Vgl. über SelTvyn Jesae: George Selwyn and bis contemporains etc.
London 1882; Roscoe u. Gergue: George Selwyn, bis letters and bis life,
London 1899. Ferner Iwan Blocb; Geschlechtsleben in England. Berlin 1903.
Bd. II. p. 170 u. Bd. III. p. 74.
234 —
Etwas häufiger ist es, dass Masochisten einzelne weib-
liche Kleidungsstücke verwenden, sich eine Schürze verbinden
oder einen Unterrock überziehen lassen, am verbreitetsten ist
der Gebrauch von Korsetts und Gürtein, die aber offenbar
mehr die Aufgabe von Marterwerkzeugen haben, als dass sic
weibliche Symbole versinnbildlichen. Auch in der Fachlite-
ratur über Masochismus finde ich keine den unsrigen analoge
Fälle. Märzbach,*) der dieser Erscheinung ein ausgezeichnetes
Kapitel gewidmet hat, führt unter den metamorphotischen
Formen des Masochismus nur an, dass Personen wie Diener,
Schüler, Kinder, Sklaven, Tiere (z. B. wie Hunde) behandelt
zu werden wünschen, nicht aber als Weiber, geschweige denn,
dass sie wirklich in weiblicher Gestalt auftreten. Meine an
fängliche Vermutung, dass Märzbachs Fall „Elisabeth“
(pag. 129 — 131) möglicherweise transvestitisch sei, bestätigte
sich nicht, insofern nähere Erkundigungen bei seiner „Ge-
bieterin“ ergaben, dass .er sich nur ein weibliches Pseudonym
beilegte und keineswegs Frauenkleider, sondern nur Korsett
und Gürtel trug; von seinen Briefen will ich gleichwohl den
kürzeren hier wiedergeben, weil er die Verschiedenheit
zwischen beiden Anomalien noch w'eiter kennzeichnet. Seine
Zeilen lauten: „Sehr geehrte und allerstrengste Herrin, grau-
same Gebieterin! Hiermit melde ich mich, wie Sie mir be-
fohlen haben, und bitte Sie, die mir zugedachte Behandlung
an mir zu vollziehen. Ich sehe ein, wie schwer ich mich
gegen Sie. meine gütige Herrin, durch meinen Ungehorsam
vergangen habe, und dass ich es nur dadurch gutmachen
kann, dass ich mich der von Ihnen über mich verhängten
grausamsten Marterung unterziehen werde. Für jeden Geissel-
schlag will ich Ihnen, wenn ich in der Pracht meiner Gürtel
vor Ihnen stehen werde, dankbar sein, jeder Geisselschlag
wird für mich eine glückliche Stunde in meinem Leben be-
deuten, und ich bitte Sie nur, wenn die Folterung zu Ihrer
Zufriedenheit ausfallen wird, mir Ihre Verzeihvmg dadurch zu
gewähren, dass Sie die Klarierung sofort noch einmal an mir
vollziehen. Ihre treuergebene Dienerin und Sklavin Elisabeth.“
*) loc. cit. pag. 116 ff.
235
Nach allem können wir den Masochismus nur als ge-
legentliche Begleiterscheinung, keineswegs als ursäch-
liches Motiv des Verkleidungstriebes ansehen und ebensowenig
diesen als Erscheinungsform des Masochismus. Wie unter den
Frauen selbst, gibt es auch unter denen, die es sein möchten,
masochistische und sadistische, solche, die von beiden etwas
und solche, die von beiden nichts besitzen. Alles dies bezieht
sich mutatis mutandis auch auf Frauen, die als Männer auf-
treten, auch hier fällt Viraginität und Sadismus keineswegs
zusammen.
Geschlechtsverkleidungstrieb und Ge-
schlechtsverwahdlungswahn.
So sehr sich die transvesti tischen Männer in ihrer Ver-
kleidung als Frauen, die Frauen als Männer fühlen, so
bleiben sie sich doch stets bewusst, dass sie es in Wirk-
lichkeit nicht sind. Wohl bilden sich manche von ihnen
ein — wenn je, so ist hier der Wunsch der Vater des Ge-
dankens — dass ihre Haut zarter, ihre Formen runder, ihre
Bewegungen graziöser seien, wie die gewöhnlicher Männer,
aber sie wissen ganz genau und sind oft deprimiert darüber,
dass sie körperlich nicht dem von ihnen geliebten und be-
gehrten Geschlecht angehören. Würden sie sich, ob verkleidet
oder nicht, tatsächlich für Frauen halten, wie sich ein von
Grössenwahn befallener für einen Messias oder Milliardär oder
auch „für Kaiser und Papst in einer Person“ hält, dann
wären es wahnhafte Vorstellungen und der
Zustand müsste als Geisteskrankheit, als Verrücktsein, als
Paranoia angesprochen werden. Solche Fälle von Geschlechts-
verwandlungs wahn — Metamorphosis sexualis p a r a n o i c a
— kommen auch vor, wenngleich im Verhältnis zu anderen
Wahnideen selten. Krafft-Ebing hat fünf gesehen, von denen
er zwei beschrieben hat, ausserdem publiziert er einen in der
Anstalt Illenau beobachteten; ausser diesen sind je einer von
Arndt und Serioux, zwei von Esquirol veröffentlicht; ich
selbst kenne zwei hierher gehörige Personen, einen körperlich
236
völlig normal gebauten Mann, der mich aufsucate, damit ich
ihm bestätige, dass er vagina und mammae habe, einen
anderen, von dem ich sehr eingehende Aufzeichnungen habe,
die ich aber zur Zeit leider nicht publizieren kann.
Um geschlechtlichen Verwandlungswahn scheint es sich
auch in folgenaem Falle zu handeln, den der bekannte Afrika-
reisende Dr. Stuhlmann mir mitzuteilen die Güte hatte.
„Im Juli 1905 lief in A. oft ein Mann umher, der
stets Frauenkleider trug. Nähere Erkundigungen ergaben,
dass er Mwatsche a seme („lass das reden“) sich nannte und
aus U. stammte. Er ist klein aus seinem Heimatsland nach
P. gekommen, lebte dann in K. und teils in M. In P. hat
er sich verheiratet und zwei Kinder gezeugt. In K. sei er
verzaubert worden. Er sei damals an schwerem Durchfall er-
krankt und hatte einen Monat gelegen; nach einem Viertel-
jahre hätte sich die Krankheit wiederholt und von da
ab fühle er sich als Weib. Seit der Zeit a.. habe
er gar keine Erektionen mehr gehabt, müsse sich aber wie
eine Frau kleiden, und könne nur weibliche Arbeit machen.
Er behauptet, seitdem nie Geschlechtsverkehr weder mit
Frauen noch mit Männern gehabt zu haben, auch gar kein
Bedürfnis danach zu empfinden.“
Ein originärer Verkleidungstrieb ist bei diesen meist erb-
lich stark belasteten Patienten selten; das typische ist, dass
sie ihre Genitalien weiblich umgewandelt fühlen, es kommt
ihnen vor. als wüchsen ihnen weibliche Brüste, als hätten
sie lange Zöpfe, als sei ihre in Wirklichkeit männliche Klei-
dung weiblich. Meist wird ihnen dies von Stimmen be-
stätigt, so hörte einer sagen: „er sei eine Hure“, ein anderer
wollte auf der Strasse die Aeusserung gehört haben; „seht
doch das Mensch, die alte Duttel“. sie träumen auch davon,
dass an ihnen, wie an einem Weibe der Koitus vollzogen
wird, einer berichtet, es sei ihm .,dabei die Natur gekommen.“
Ganz besonders interessant ist der in Illenau beobachtete
Patient, ein Pianist, der 1865 im Alter von 23 Jahren dort
aufgenommen wurde. Anfangs an typischem Verfolgungswahn
leidend, traten später mehr und mehr erotische Ideen in den
Vordergrund, er hört fortwährend unzüchtige Reden, sieht
237
allenthalben Prostitution treiben, dabei masturbiert er ex-
zessiv; „er sei vergiftet durch Geilgift, das auf den Ge-
schlechtstrieb wirke; „er wolle eine Onanistin heiraten.“
daneben bestehen Grössenwahnideen, er besitze eine wunder-
bare Augengedankenausstrahlung, die 20 Millionen wert sei,
seine Kompositionen seien 500 000 Frcs. wert. Im August
1872, nachdem er also bereits 7 .Jahre in der Irrenanstalt
ist, verlangt er in die Frauenabteilung untergebracht zu
werden, er sei ein Weib, dann will er in die Entbindungs-
anstalt, da er schwanger sei.
„Vom Dezember 1872 ab ändert sich sein Persönlichkeits-
bewusstsein endgültig in ein weibliches.
Er sei von jeher ein Weib, aber vom 1. — 5. Lebens-
jahre habe ihn ein französischer Quäkerkünstler mit männ-
lichen Genitalien versehen und ihm durch Einreiben und Zu-
richten des Thorax das spätere Hervorkommen der Brüste
verhindert.
Er verlangt nun energisch Unterbringung in der Frauen-
abteilung, Schutz vor Männern, die ihn prostituieren wollen
und Damenkleidung. Eventuell wäre er auch erbötig, in
einem Spielwarengeschäft sich mit Stepp- und Ausschneide-
arbeit oder in einem Putzgeschäft mit weiblicher Arbeit zu be-
schäftigen. Vom Zeitpunkt der Transformatio sexus an be-
ginnt für Patient eine neue Zeitrechnung. Seine eigene
frühere Persönlichkeit fasst er in der Erinnerung als seinen
Vetter auf.
Er spricht von sich vorläufig in der dritten Person, er-
klärt sich für Gräfin V., die liebste Freundin der Kaiserin
Eugenie, verlangt Parfüms, Korsetts usw. Hält die anderen
Männer der Abteilung für Frauenzimmer, versucht sich einen
Zopf zu flechten, verlangt ein orientalisches Enthaarungs-
mittel, damit man nicht mehr an seiner Damennatur zweifle.
Er sei von der Hebamme untersucht und als Dame be-
funden worden. Von dem Wahn, Gräfin V. zu sein, ist er
nicht mehr abzubringen. Als er keine Damenkleider und
Stöckelschuhe bekommt, verbringt er fast die ganze Zeit
im Bett und geriert sich als vornehme leidende Dame, tut
zimperlich, verschämt; er flechtet sich das Haar so gut wie
■238
möglich in Zöpfen, zupft sich den Bart aus und verfertigt
sich Brüste aus Semmeln. 1874 stirbt er an Tuberkulose.“
Trotzdem der geschlechtliche Verkleidungs trieb und der
Geschlechtsverwandlungs wahn sich in ausgeprägten Fällen
sehr verschieden darstellen und wohl kaum miteinander ver-
wechselt werden können, sind auch hier wiederum wie bei
allen bisher zum Vergleich herangezogenen Anomalieen Grenz-
und Uebergangsformen vorhanden, bei denen die Sicherstellung
der Differentialdiagnose gewisse Schwierigkeiten bietet. Eine
hierhergehörige höchst interessante Autobiographie wurde
Krafft-Ebing im Jahre 1890 von einem ungarischen Arzte
übersandt. Er hat sie in einer der späteren Auflagen seiner
Psychopathia sexualis unter dem Titel; Uebergangs-
stufe zur Metamorphosis sexualis para-
n 0 i c a“ publiziert. Dieser Fall, den Krafft-Ebing selbst als
eine „für die Wissenschaft höchst wertvolle Auto-
biographie“ bezeichnet, ist, soweit ich sehe, in der Fachlite-
ratur der einzige, ausführlicher beschriebene, der zu den
unsrigen eine weitgehende Verwandtschaft aufweist. Aus diesem
Grunde und weil er von einem Arzte herrührend, nicht nur
durch seine Analogieen, sondern auch durch seine Reflexionen
wichtige psychologische Einblicke in das Seelenleben der
anderen Transvestiten gewährt, scheint mir die Wiedergabe
dieser Lebensbeschreibung trotz ihrer Ausführlichkeit (man
könnte auch sagen, wegen ihrer Ausführlichkeit) an dieser
Stelle geboten, wo sie ihrer Isoliertheit entheben durch den
Zusammenhang mit den übrigen Fällen erst zur vollen
Geltung kommt. Patient schreibt:
„1844 in Ungarn geboren, war irh lange .Tahre das einzige Kind meiner
Eltern, da die meisten anderen Geschwister an Lebensschwäche starben; erst
spät kam noch ein Bruder nach, welcher das Leben behielt.
Ich stamme aus einer Familie, in welcher Nerven- und psychische Leiden
vielfach vorgekommen sind. Als kleines Kind soll ich sehr hübsch gew’esen
sein, mit blonden Locken und durchsichtiger Haut; sehr folgsam,
still, bescheiden, soda^s man mich in jede DamengeseUschaft mit-
nahm, ohne dass ich geniert hätte.
Bei sehr reger Phantasie, meiner Feindin das ganze Leben hindurch,
entwickelten sich meine Talente schnell. Mit 4 Jahren konnte ich lesen und
schreiben, mein Gedächtnis reicht bis ins 3. Jahr zurück; ich spielte mit
239
allem, was mir unter die Hände fiel, mit Blekoldaten oder Steinen oder
Händern aus einem Kinderladen; nur einen Apparat zum Holzmachen, den
man mir schenkte, mochte ich nicht. Am liebsten v/ar ich zu Hause bei
meiner Mutter, diemein Alles war. Freunde hatte ich zwei bis drei,
mit denen ich gutmütig verkehrte, aber grade so gerne mit ihren Schwestern,
welche mich auch stets wie ein Mädchen behandelten, was mich anfangs nicht
genierte.
Ich muss auf dem Wege gewesen sein, ganz wie ein Mäd-
chen zu werden, ich weiss wenigstens noch gut, wie es stets hiess:
„das schickt sich für einen Buben nicht.“ Darauf bemühte ich mich, den Buben
zu spielen, machte alles meinen Kameraden nach und suchte sie an
Wildheit zu übertreffen, was auch gelang: es war mir kein Baum und kein
Gebäude zu hoch, um es nicht zu besteigen. An den Soldaten hatte ich
grosse Frejjde, den Mädchen wich ich mehr aus, da ich mit ihren Sachen
doch nicht spielen sollte, und es mich auch stets wurmte, dass sie mich so
ganz wie ihresgleichen behandelten.
In Gesellschaft Erwachsener war ich aber stets gleich bescheiden und
gleich gerne gesehen. Phantastische Träume von wilden Tieren, die mich
einmal aus dem Bette trieben, ohne dass ich erwacht wäre, peinigten mich
häufig. Ich wurde stets zwar einfach, aber höchst zierlich gekleidet und be-
kam dadurch eine Neigung zu schönen Kleidern; eigentümlich scheint es
mir, dass ich schon von der Schulzeit an Hinneigung zu Frauen-
handschuhen hatte, die ich heimlich anzog, so oft ich konnte; so er-
eiferte ich mich, als meine Mutter einmal ein Paar solcher verschenkt hatte,
ganz energisch dagegen und teilte meiner Mutter auf Befragen mit; ich hätte
sie lieber selber gerne gehabt; ich wurde tüchtig ausgclacht und hütete mich
von da an sehr, meine Vorliebe für weibliche Sachen zu zeigen.
Und doch war meine Freude daran so gross. Besonders hatte ich an Masken-
kleidern meine Freude, d. h. nur an weiblichen; sah ich solche, so
beneidete ich die Besitzerin; am liebsten sah ich zwei als weisse
Damen, allerdings wunderschön verkleidete junge
Herren mit sehr schönen Mädchenmasken vor den Gesichtern, und doch
hätte ich mich um keinen Preis vor anderen als Mädchen gezeigt, so sehr
fürchtete ich mich vor dem Spotte. In der Schule zeigte ich den grössten
Fleiss, war stets vorne an; meine Eltern lehrten mich von Kindheit an, dass
zuerst die Pflicht komme, und gaben mir auch stets hiervon das Beispiel;
auch war mir der Besuch der Schule ein Vergnügen, denn die Lehrer waren
mild und die älteren Schüler plagten die jüngeren nicht. Nun verliesscn
wir meine erste Heimat, da der Vater gezwungen war, seinem Beruf zuliebe
sich auf ein Jahr von der Familie zu trennen; wir zogen nach Deutschland.
Hier herrschte ein strenger bis roher Ton, teils unter den Lehrern, teils
unter den Schülern, und ich wurde wegen meiner Mädchenhaftig-
keit verspottet.
Meine Mitschüler gingen so weit, dass sie einem Mädchen, welches
genau meine Züge hatte, meinen Namen gaben und mir den ihrigen, sodass
ich das Mädchen, mit dem ich mich, als sie verheiratet war, später be-
240
freundete, hasste. Meine Mutter fuhr fort, mich zierlich zu kleiden, und dies
war mir zuwider, da es mir stets Spott eintrug, sodass ich froh war, als
ich endlich ganz richtige Hosen und ganz richtige Männerröcke bekam. Doch
kam mit diesen eine neue Plage; sie genierten mich an den Genitalien, be-
sonders wenn das Tuch etwas rauh war, und die Reriihrung des Schneiders
beim Anmessen war mir durch ihren Kitzel, der mich zusammenschaudern
machte, ganz unerträglich, besonders an den Genitalien; nun sollte ich
turnen, und da konnte ich einfach alles nicht machen oder nur schlecht, was
Mädchen nicht auch leicht machen können; beim Baden plagte mich das
Schamgefühl des Entblössens, ich tat es aber sehr gerne; ich hatte bis
zum 12. Jahre eine grosse Schwäche im Kreuze. Schwimmen lernte ich spät,
nachher aber gut, sodass ich grosse Touren machte. Mit 13 Jahren hatte ich
Pubes, war etwa 6 Fuss gross, aber im Gesicht ein Weibsbild, dies bis zu
IS Jahren, wo der Bart stark kam und ich vor der Weiberähnlich-
keit Ruhe hatte. Eine mit 12 Jahren erworbene, erst mit 20 Jahren
geheilte Inguinalhernie genierte mich sehr, besonders beim Turnen; es kam
hinzu vom 12. Jahre an bei langem Sitzen und besonders bei Nachtarbeit,
die häufig lang war, ein Jucken, Brennen, Zittern von dem Penis an bis
über das Kreuz hinaus, welches sitzen und stehen erschwerte und sich durch
Erkältung steigerte; ich ahnte aber im Entferntesten nicht, dass dies mit
den Genitalien Zusammenhang haben könnte. Da keiner meiner Freunde
daran litt, so kam es mir ganz fremd vor, und brauchte ich die äusserste
Geduld, es zu ertragen, um so mehr, als überhaupt der Unterleib mich oft
genierte.
In sexualibus war ich noch ganz unwissend, hatte aber jetzt, so mit
12—13 Jahren, das sichere Gefühl, lieber ein Frauenzimmer sein
zu wollen. Ihre Gestalt gefiel mir besser, ihr ruhiges Auftreten, ihr
Anstand, aber besonders ihre Kleider gefielen mir sehr, ich
hütete mich aber wohl, es merken zu lassen, doch weiss ich gewiss, dass ich
das Castrationsmesser nicht gescheut hätte, um meinen Zweck zu erreichen.
Hätte ich sagen sollen, warum ich lieber in Fraucnkleidern stäke, so hätte
ich bloss sagen können; es zieht mich eben mit Gewalt hinein; vielleicht
kam ich mir auch wegen meiner selten weichen Haut eher wie ein Mädchen
vor; diese war nämlich, besonders im Gesicht und an den Händen, sehr
empfindlich. Bei den Mädchen war ich gerne gesehen; obgleich ich lieber
stets unter ihnen gewesen wäre, so verhöhnte ich sie, wo ich konnte, denn
ich musste übertreiben, um nicht selbst weiblich zu erscheinen,
und beneidete sie im Herzen doch beständig; besonders war mein Neid gross,
wenn eine Freundin lange Kleider bekam, in Handschuhen und Schleier ging.
Als ich mit 15 Jahren eine Reise machte, schlug mir eine junge Dame, bei
der ich wohnte, vor, mich als Dame zu maskieren und mit ihr auszugehen;
ich ging aber, da sie nicht allein war, nicht darauf ein, so gerne ich es
getan hätte. Eine ganz geputzte Dame erschien mir wie
eine Göttin, berührte mich ihre Glacehand, so war ich glücklich und
neidisch, hätte eben zu gerne an ihrer Stelle in den schönen Sachen und der
zierlichen Gestalt gesteckt. Nichtsdestoweniger studierte ich sehr fleissig,
241
machte Realschule und Gymnasium in 9 Jahren durch, legte eine gute Matu-
ritätsprüfung ab. Ich erinnere mich, mit 15 Jaliren das erste Mal zu einem
Freunde den Wunsch geäussert zu liaben, ein Mädchen zu sein; auf seine
Frage nach dem Grunde, konnte ich keine Antwort geben. Im 17. Jahre
war ich in lockere Gesellschaft gekommen, ich trank viel Bier, rauchte und
suchte mit Kellnerinnen zu scherzen; diese verkehrten gerne mit mir. aber
man behandelte mich stets, als ob ich auch Röcke trüge. Die Tanzstunde
konnte ich nicht besuchen, es trieb mich hinaus; hätte ich als Maske hin-
gehen können, dann wäre es anders gewesen. Meine Freunde liebte ich zärt-
lich, nur einen hasste ich, der mich zur Onanie verleitet hatte. Pfui über
jenen Tag, der mir für mein Leben lang gesehadet hat; ich trieb sie ziem-
lich stark, kam mir aber dabei \^de ein doppelter Mensch vor; ioh kann
das Gefühl nicht beschreiben; ich glaube, es war männlich, aber mit weib-
lichem gemischt. An ein Mädchen konnte ich nicht ankommen, ich fürchtete
dieselben, und doch waren sie mir nicht fremd; sie imponierten mir aber doch
mehr als meinesgleichen, ich beneidete sie, ich hätte auf alle Freuden ver-
zichtet, wenn ich hätte zu Hause ein Mädchen sein dürfen, und wenn ich
vollends so hätte ausgehen dürfen; eine Krinoline, ein knapper
Handschuh war eben mein Ideal.
Ich empfand bei jedem Damenanzuge, den ich sah, wde ich mich darin
fühlen v/ürde, nämlich als Dame; eine Sehnsucht nach Männern
hatteichnicht.
Ich erinnere mich zwar, mit ziemlicher Zärtlichkeit an einem bild-
schönen Freunde mit Mädchengesicht und dunklen Locken gehangen zu
haben, glaube aber nur den Wunsch gehabt zu haben, dass wir beide
.Mädchen sein möchten.
Auf der Hochschule gelangte ich endlich einmal zum Koitus; hoc modo
eensi, me libentius sub puella concubuisse ot penem meura cum cunno
m u t a t u m maluisse. Das Mädchen musste auch zu seinem Erstaunen mich
wie ein Mädchen behandeln, auf was sie gerne einging (sie war noch ziem-
lich unerfahren und verspottete mich deshalb nicht).
Als Student war ich zur Zeit wild, fühlte aber stets, dass ich diese
Wildheit nur mehr als Maske vornahm; ich trank, schlug mich, konnte aber
wieder nicht Tanzunterricht nehmen, weil ich mich zu verraten
fürchtete. Meine Freundschaften waren innig, aber ohne Neben-
gedanken; am meisten freute es mich, wenn ein Freund eich als Dame
maskierte, oder wenn icli die Toiletten der Damen auf einem Balle mustern
konnte; ich hatte alles Verständnis dafür und fing allmählich an zu fühlen
wie ein Frauenzimmer.
Wegen unglücklicher Verhältnisse machte ich zwei Selbstmordversuche;
ohne Grund schlief ich einmal 14 Tage nicht, hatte viel Hallucinationen
(Gesicht und Gehör zugleich), verkehrte mit Verstorbenen und Lebenden zu-
gleich, was mir bis heute geblieben ist.
Auch eine Freundin hatte ich, die meine Liebhaberei kannte, meine
Handschuhe anzog, aber mich eben auch nur als Mädchen gelten liess. So
verstand ich die Weiber besser, als ein anderer Mann, und wie sie das her-
H i r 3 c h l e 1 d , Die Transvestiten. 16
242
aus halten, bO wurde ich eben wieder more feminarum behandelt, als hätte
man eine Freundin getroffen. Ich konnte es im Ganzen auch nicht aus-
stehen, wenn gezotet wurde, und tat es eigentlich auch nur Bramarbasierens
halber, wenn es geschah. Den anfänglichen Ekel gegen Gestank und Blut
legte ich bald ab bis zum Gegenteile, einzelne Gegenstände jedoch konnte
ich nie sehen ohne Ekel. Nur das eine fehlte mir stets, dass ich über mich
stets im Unklaren war; ich wusste, dass ich weibliche Neigungen habe, glaubte
ich doch ein Mann zu sein, doch zweifle ich, ob ich ausser den Koitusver-
suchen, die mir nie Vergnügen machten (was ich der Onanie zuschricb), je
einmal ein Weib bewunderte ohne den Wunsch, dasselbe zu sein,
oder mich zu fragen, ob ich es sein möchte oder in seinem Putze auftreten
möchte. In der Geburtshilfe, welche zu lernen mir sehr schwer wurde (ich
schämte mich für die aufliegenden Mädchen und hatte Mitleid mit ihnen),
habe ich bis zum heutigen Tage ein Gefühl des Schreckens zu überwinden;
ja, es kam mir schon vor, dass ich die Traktionen mitzufühlen ver-
meinte. An mehreren Stellen mit Erfolg als Arzt verwendet, machte ich
einen Feldzug mit als freiwilliger Arzt. Das Reiten, welches mir schon als
Student peinlich war, weil die Genitalien dabei mehr weibliche Gefühle ver-
mittelten, fiel mir schwer (nach Frauenart wäre es leichter
gegangen!.
Immer noch glaubte ich, ein Mann mit undeutlichen Gefühlen zu sein,
und immer, wenn ich mit Damen zusammenkam, wurde ich bald eben wieder
als uniformierte Dame behandelt (wäre, als ich das erste Mal die Uniform
trug, viel lieber in ein Damenkostüm mit Schleier geschlüpft;
es war mir ein störendes Gefühl, wenn man auf den stattlichen Uniformierten
schaute). In der Privatpraxis hatte ich in allen drei Hauptbranchen Glück,
dann machte ich nochmals einen Feldzug mit; in diesem kam mir meine
Natur zugute, da ich glaube, dass seit dem ersten Esel auf der Welt kein
Grautier so viel Geduld an den Tag zu legen hatte, als ich. Dekorationen
blieben nicht aus, doch Hessen sie mich kalt.
So schlug ich mich durch das Leben, so gut es ging, nie zufrieden
mit mir, voller Weltschmerz, zwischen Sentimentalität oder Wildheit, die
zwar meist affektiert war, schwankend.
Ganz eigentümlich ging es mir als Heiratskandidat. Am liebsten hätte
ich garnicht geheiratet, aber Fandlienveihältnisse und Praxis zwangen mich
dazu. Ich heiratete eine energische, liebenswürdige
Dame aus einer Familie, wo Weiberherrschaft blühte.
Ich war in sie verliebt, so gut es unser einer sein kann, d. h., was er
liebt, liebt er mit ganzem Herzen und geht in ihm auf, wenn er auch nicht
so stürmisch erscheint, wie ein ganzer und echter Mann: er liebt seine
Braut mit aller weiblichen Tiefe, fast wie einen Bräu-
tigam, nur gestand ich mir diese Seite nicht ein, weil ich immer noch
glaubte, nur ein verstimmter Mann zu sein, der durch die Ehe wohl ganz zu
sich selber kommen und sich finden werde. Aber schon in der Hochzeitsnacht
fühlte ich, dass ich nur als männlich gestaltetes Weib fungierte; sub femina
locum meum esse mihi visum est. Wir lebten im Ganzen zufrieden und
243
glücklich, blieben ein paar Jahre kinderlos. Nach einer schweren Schwanger»
Schaft, während welcher ich in Feindesland zu Tode lag, kam auf eine
schwere Geburt der erste Knabe, dem eine melancholische Natur bis heute
noch anhängt; dann ein zweiter, welcher ganz ruhig ist, ein dritter voller
Streiche, ein vierter, ein fünfter; allein sämtliche haben schon Anlage zur
Neurasthenie. Da ich mich nie an meinem Platze fühlte, so ging ich viel in
lustige Gesellschaft, arbeitete aber immer, was des Menschen Kraft vermochte,
studierte, operierte, experimentierte mit vielen Arzneimitteln und Kur-
methoden, auch stets an mir selber. In der Ehe überliess ich meiner Frau
das Regiment im Hause, da sie das Haushalten sehr gut versteht. Meine
Pflichten als Ehemann verrichtete ich so gut, als es ging, aber ohne Be-
friedigung für mich; vom ersten Koitus bis heute ist mir die männliche
Stellung dabei zuwider und zu schwer gewesen. Ich hätte viel
lieber die andere Rolle gehabt. Musste ich meine Frau
entbinden, so brach es mir beinahe das Herz, da ich ihre Schmerzen zu
würdigen wusste. So lebten wir lange zusammen, bis schwere Gichterkran-
kung mich in verschiedene Bäder trieb und mich neurasthenisch machte. Zu-
gleich wurde ich so anämisch, dass ich alle paar Monate eine Zeitlang
Eisen nehmen musste, andernfalls war ich wie chlorotisch oder hysterisch oder
beides zusammen. Stenocardie plagte mich oft, dann kamen halbseitige Krämpfe
im Kinn, Nase, Hals, Kehlkopf, Hemikranie, Zwerchfell- und Brustmuskelkrampf;
etwa 3 Jahre lang dauerndes Gefühl, als wenn die Prostata vergrössert
wäre , ein Expulsionsgefühl , wie wenn ich etwas gebären
sollte, Schmerzen in der Hüfte, perennierendes Kreuzweh u. dergl. ; doch
wehrte ich mich mit der Wut der Verzweiflung gegen diese mir weibisch oder
weiblich imponierenden Beschwerden, bis vor 3 Jahren ein ganz heftiger An-
fall von Arthritis mich vollständig brach.
Noch ehe dieser furchtbare Gichtanfall eintrat, habe ich in der Ver-
zweiflung, um die Gicht zu tilgen, heisse Bäder, der Körperwärme so nahe
als möglich, genommen. Da geschah es einmal, dass ich mich plötzlich ver-
ändert und dem Tode nahe fühlte; ich sprang mit der letzten Kraft aus der
Therme heraus, hatte mich aber ganz als iVeib mit Libido gefühlt. Fernei
zur Zeit, als das Extr. cannabis ind. aufkam und sogar gepriesen wurde,
nahm ich aus Angst vor meinem drohenden Gichtanfalle (und von Gleich-
gültigkeit gegen das Leben gepeinigt) etwa die 3 — 4fach gebräuchliche Dosis
von Extr. cannabis ind. und machte eine Haschischvergiftung
auf Leben und Sterben durch. Lachkrampf, Gefühl von unerhörter Körper-
kraft und Schnelligkeit, eigenartiges Gefühl in Gehirn und Augen, Milliarden
von Funken, vom Gehirne aus die Haut durchzuckend, stellten sich ein, doch
konnte ich mich noch zum Sprechen zwingen; allein auf einmal sah
ich mich von den Zehen bis zur Brust als Weib, fühlte,
wie früher in der Therme, dass die Genitalien eingestülpt wurden, das
Becken sich erweiterte, die Brüste herausschossen, eine unsägliche Wollust
sich meiner bemächtigte. Da schloss ich die Augen, sodass ich wenigstens
das Gesicht nicht verändert sah. Mein Arzt hatte dabä das Aussehen, als
hätte er eine Riesenkartoffel statt des Kopfes, meine Frau hatte den VoU-
16*
244
mond auf diun Rumpfe. Und dennoch war ich stark genup;, als beide das
Zimmer auf kurze Zeit verlicssen, in mein Notizlmcli meinen kurzen letzten
Willen einzutragen.
Aber wer beschreibt meinen Schrecken, als ich am anderen Morgen, mich
vollständig zum Weibe verwandelt fühlend, erwachte und beim Gehen und
Stehen eine Vulva und Mammae fühlte.
Als ich endlich aus dem Rette mich erhob, fühlte ich, dass mit mir
eine ganze Umwälzung vorgegangen sei. Schon während der Krankheit
sagte ein Besuch: ,für einen Mann ist er zu geduldig", und machte mir einen
blühenden Blumenstock zum Geschenk, was mich befremdete, aber doch freute.
Von nun an war ich geduldig, wollte nichts mehr im Sturme tun, wurde
zäh wie eine Katze, dabei aber mild, versöhnlich, niclit mehr nachträglicli,
kurz wie ein Weib dem Gemüt nach. Während der letzten
Krankheit hatte ich viele, Gesichts- und Gehörliallucinationcn, sprach mit
den Toten usw., sah und hörte Spiritus familiäres, fühlte mich als eine
doppelte Person, doch merkte ich auf dem Krankenlager selber noch nicht,
dass der Mann in mir erloschen war. Meine Gemütsveränderung war ein
Glück, da mich ein Schlag traf, der mich bei meiner früheren Stimmung auf
den Tod getroffen hätte, den ich aber jetzt mit Ergebung hinnahm, sodass
ich mich selbst nicht mehr erkannte. Da ich die Erscheinungen der Neu-
rasthenie noch oft mit Gicht verwechselte, so gebrauchte ich noch viele
Bäder, bis ein Hautjucken mit der Empfindung der Krätze durch eine Therme
so zunahm statt abznnehmen, dass ich alle äusserliche Therapie aufgab
wurde immer anämischer durch die Bäder) und mich abhärtete, so gut es
ging. Aber das weibliche Zw'angsgefühl blieb und
wurde so stark, dass ich nur die Maske des Mannes
trage, sonst aber mich in jeder Beziehung als voll-
kommenes Weib nach allen Teilen fühle und von der alten
Zeit zurzeit die Erinnerung verloren habe.
Was die Gicht noch etwa übrig gelassen hatte, ruinierte die Influenza
vollends.
Status praesens: Ich bin gross, Haarboden gelichtet, Bart
wird grau, meine Haltung fängt an, gebückt zu werden: habe seit der In-
fluenza etwa ein Viertel der rohen Kraft verloren. Gesicht sieht infolge
eines Klappenfehlers etwas gerötet aus; Vollbart; chronische Conjunctivitis;
mehr muskulös als fett; linker Fuss scheint varicose Venen zu bekommen,
schläft öfters ein, ist noch nicht sichtbar verdickt, aber scheint es zu werden.
Die Mammillargegend hebt sich trotz Kleinlicit deutlich ab. Der Bauch
hat die Form eines weiblichen Bauches. Füsse nach Frauenart gestellt,
Waden usw. wie diese; mit den Armen ist es gerade so und mit den Händen.
Kann Frauenstrümpfe und Handschuhe 7/.j bis tragen; ebenso trage icli
ohne Beschwerde ein Korsett. Gewicht wechselt zwischen 168 bis 164 Pfund.
Urin ohne Eiweiss, ohne Zucker, enthält über die Norm Harnsäure; enthält
er aber nicht viel Harnsäure, so ist er hell, fast wasserhell nach jeder Auf-
regung irgend einer Art. Stuhl meist regelmässig, ist er es aber nicht, so
kommen alle weiblichen Beschwerden der Obstipation. Schlaf schlecht, oft
245
viele Wochen lang nur 2 — 3 Stunden dauernd. Appetit ziemlich gut, doch
im ganzen erträgt der Magen nicht mehr als der einer starken Frau
und reagiert gegen scharfe Speisen sofort durch Hautausschlag und Brennen
in der Harnröhre. Haut ist weiss, im ganzen fühlt sie sich sehr glatt an;
unerträgliches Jucken in derselben seit 2 Jahren, hat in den letzten Wochen
abgenommen, zeigt sich nur noch mehr in der Kniekehle und am Sciotum.
Neigung zu Schweiss; Ausdünstung früher so gut wie nicht vorhanden,
macht jetzt alle hässlichen Nuancen der weiblichen Ausdünstung,
besonders am Unterleibe durch, sodass ich mich noch reinlicher halten muss
als eine Frau. (Parfümiere das Taschentuch, benütze parfümierte Seifen und
Bau de Cologne.)
Allgemeingefühl : Ich fühle mich als Frauenzimmer in
Mannesgestalt ; wenn ich auch manchmal noch die Form des Mannes
fühle, so fühlt das betreffende Glied dennoch weiblich, so z. B. der Penis als
Clitoris; die Urethra als Urethra und Scheideneingang, ich fühle sie stets
etwas nass, auch wenn sie noch so trocken ist; das Scrotum als Labia
majora; kurz, ich fühle eben stets eine Vulva, und was das zu bedeuten hat,
weiss nur, wer selber so fühlt oder gefühlt hat. Aber die ganze Haut am
ganzen Körper fühlt weiblich, nimmt alle Eindrücke, seien es solche des
Tastens, dei Wärme oder feindselige, als Weib auf und habe ich die Emp-
findungen eines solchen; mit blossen Händen kann ich nicht gehen, da Hitze
und Kälte mich gleich sehr peinigen: wenn die Zeit, wo es uns Herren ge-
stattet ist, den Sonnenschirm zu tragen, vorüber ist, so habe ich grosse
Pein in meiner Gesichtshaut zu leiden, bis wieder der Sonnenschirm gebraucht
werden darf. Erwache ich morgens, so dämmert es in mir einige Augen-
blicke, es ist, als ob ich mich selber suche, dann erwacht das Zwangsgefühl,
Weib zu sein. Ich fühle das Gefühl der Vulva (resp. dass eine solche da ist),
und begrüsse den Tag mit einem stillen oder lauten Seufzer, denn ich habe
schon wieder Angst vor dem jetzt kommenden Theaterspielen den ganzen
Tag. Es ist keine Kleinigkeit, sich als Weib zu fühlen
und als Mann handeln zu müssen. Alles musste ich wie neu
lernen; die Messer, die Apparate, alles fühlte sich seit drei Jahren ganz
anders an, und bei dem geänderten Muskelgefühl musste ich alles wie neu
erlernen. Es ist auch gelungen, nur die Führung der Säge und' des Knochen-
meisseis macht mir noch zu schaffen; es ist beinahe, als ob die rohe Kraft
nicht ganz ausreichte. Dagegen habe ich mehr Gefühl bei der Arbeit mit
dem scharfen Löffel in den Weichteilen; widerwärtig ist es, dass ich bei
Untersuchung von Damen oft ihre Gefühle mitiühle, was dieselben oft
befremdet. Am allerwiderwärtigsten fühle ich eine Kindsbewegung mit; eine
Zeitlang, mehrere Monate, quälte mich das Gedankenlesen bei beiden Ge-
schlechtern, gegen welches ich jetzt noch anzukämpfen habe; bei Weibern
ertrage ich es noch eher, bei Männern ist es mir zuwider. Vor 3 Jahren habe
ich noch nicht bewusst die Welt mit Weiberaugen angesehen; es kam
diese Aenderung im Eapport des Opticus zum Gehirn unter heftigem Kopf-
weh fast plötzlich. Ich war bei einer geschlechtlich verkehrt fühlenden Dame,
da sah ich sie plötzlich so verändert, als ich mich
246
jetzt fühle, nämlich sic als". Mann und fühlte mich als
Weib ihr gegenüber, dass ich mit schlecht verhohlenem Aerger sie
verlioss; dieselbe war damals sich noch nicht klar geworden über ihren
Zustand.
Seitdem machen alle Sinne ihre Wahrnehmung in weiblicher Form und
ebenso ihren Rapport. Dem Cerehralsystem schloss sich fast unmittelbar das
vegetative an, sodass alle Beschwerden sich in weiblicher Weise äusserten;
die Empfindlichkeit aller Nerven, besonders die des Acnsticus, Olfactorius
oder Trigeminus steigerten sich zur Nervosität; klappt nur ein Fenster, so
fahre ich zusammen, d. h. innerlich — der Mann darf ja nicht; ist eine Speise
nicht absolut frisch, so habe ich Kadavergeruch in der Nase. Dem
Trigeminus hätte ich nie zugetraut, dass so. launenhaft die Schmerzen von
einem Ast auf den andern überspringen, von einem Zahne ins Auge.
Doch ertrage ich seit meiner Aenderung Zahnweh und Migräne leichter,
habe auch weniger Angstgefühl bei Stenocardie. Eine eigentümliche Be-
obachtung scheint es mir, dass ich mich als ein ängstliches schwächeres
Wesen fühle, bei drohenden Gefahren aber viel mehr Kaltblütigkeit und
Ruhe besitze, ebenso bei schweren Operationen. Der Magen rächt den
leisesten (gegen die Diät einer Frau) begangenen Fehler unnachsichtlich in
Weiberart, sei es durch Ructus oder sonstige Beschwerden, besonders einen
Alkoholmissbrauch ;derKater des sich Weib fühlenden Mannes
ist viel infamer, als der kolossalste akademische
Katzenjammer; es kommt mir beinahe vor, als ob man als Weib
fühlend, ganz unter der Herrschaft des vegetativen Systems stehe.
So klein meine Brustwarzen sind, so wollen sie Platz und fühle ich
sie als Mammae, wie zwar auch schon in Pubertätsjahren die Warzen
schwollen und schmerzten; deshalb geniert mich jedes weisse Hemd, die
Weste, der Rock. Vom Becken habe ich das Gefühl, als ob es ein weib-
liches sei, dito von After und Nates; störend waremir im Beginn das Weib-
lichkeitsgefühl des Bauches, welcher in keine Hosen will und stets das Ge-
fühl der Weiblichkeit hervorbringt oder besitzt. Auch habe ich das Zwangs-
gefühl einer Taille. Es ist mir,^ wie wenn ich, einer eigenen Haut beraubt,
in eine Weiberhaut gesteckt wäre, die sich alles genau anpasst, aber alles
genau fühlt, wie wenn sie ein Weib umgäbe, und dessen Gefülüe durch den
ganzen eingeschloesenen Manneskörper strömen Hesse und die männlichen
exmittiert hätte. Die Hoden sind, wenn auch nicht atrophisch oder degene-
riert, doch keine Hoden mehr und machen mir oft Sclimerzen, mit dem Ein-
drücke, als ob sie in den Bauch hincingehörten und festsitzen sollten; die Be-
weglichkeit derselben peinigt mich oft.
Alle 4 W'oehen, zur Vollmondszeit, habeichSTage
lang alle lilolimina wie eine Frau, körperlich und
geistig, nur dass ich nicht blute, während ich das Ge-
fühl von Abgang von Flüssigkeit, ein Gefühl von Geschwollen-
sein der Genitalien und des Unterleibes (innen) habe; eine sehr ange-
nehme Zeit, besonders wenn nachher und später ein paar Tage in der
Zwischenzeit das physiologische Gefühl der Bbgattungsbedürftigkeit kommt
247
mit seiner ganzen, das Weib durchdringenden Kraft; der ganze Körper ist
dann von diesem Gefühle voll, ■wie ein eingetauchtes Zuckerstück voll Wasser
gesogen ist oder so voll wie ein nasser Schwamm; da heisst es: zuerst liebe-
bedürftiges Weib, dann erst Mensch, und zwar ist das Bedürfnis, wie mir
scheint, mehr ein Sehnen nach Empfängnis als nach Koitus. Der immense
Naturtrieb oder die weibliche Geilheit lässt aber das Schamgefühl zurück-
treten. sodass indirekt der Koitus gewünscht wird. Männlich habe ich den
Koitus höchstens dreimal im I-eben gefühlt, wenn es überhaupt so war,
gleichgültig in allen sonstigen Fällen; in den letzten 3 Jahren aber fühleich
ihn deutlich passiv als Frauenzimmer, sogar manchmal mit weiblichem Eja-
culationsgefühl ; stets fühle ich mich begattet und ermüdet wie ein Weib,
oft auch unwohl darauf, wie es einem Manne niemals zu Mute ist. Einige
Male verursachte der Koitus mir einen so grossen Genuss, dass ich denselben
mit nichts vergleichen kann; es ist einfach das wonnigste, gewaltigste Gefühl
auf Erden, um welches alles geopfert werden kann; in diesem Augenblicke
ist das Weib bloss Vulva, welche die ganze Person verschlungen hat.
Das Gefühl Weib zu sein, habe ich seit 3 Jahren
keinen Augenblick verloren, es ist mir dieses jetzt durch die
Gewöhnung nicht mehr so peinlich, obgleich ich mich seitdem minderwertig
fühle, denn sich Weib zu fühlen ohne Genussverlangen, ist auch für einen
Mann zum aushalten; aber wenn Bedürfnisse kommen! Dann hört die Ge-
mütlichkeit aut: das Brennen, die Wärme, das Turgorgefühl der Genitalien
(bei nicht erigiertem Penis, die Genitalien fallen wie aus der Rolle). Ein
bei starkem Andrange auf tretendes Gefühl von Ansaugen in der Vagina und
Vulva ist geradezu schrecklich, eine Höllonpein der Wollust, aber kaum aus-
zuhalten. Bin ich dann in der Lage, einen Koitus auszuführen, so ist es
besser ; aber er bewirkt wegen mangelnder Empfängnis keine vollständige Be-
friedigung, das Gefühl der Sterilität stellt sich ein mit seinem ganzen be-
schämenden Drucke, nebst dem Gefühle der passiven Begattung, des verletzten
Schamgefühles; man kommt sich fast wie eine Lustdime vor. Der Verstand
hilft nichts dagegen, das Zwangsgefühl der Weiblichkeit be-
herrscht und bezwingt alles. Wie schwer man in solchen
Zeiten beruflich arbeitet, ist leicht zu ermessen; doch dazu kann man sich
zwingen. Freilich ist es beinahe nicht möglich, zu sitzen, zu gehen, zu
liegen, wenigstens kann man von diesen drei Zuständen keinen lange aus-
halten, dazu die stete Berührung der Hosen usw.. ist unausstehlich.
Die Ehe macht dann, ausser dem Moment des Koitus, wo der Mann
sich begattet fühlen muss, noch den Eindruck des Zusammen-
lebens zweier Weiber, von denen eines sich nur als Mann mas-
kiert betrachtet. Bleiben diese periodischen Molimina einmal aus. so kommen
die Gefühle der Gravidität oder der sexuellen Uebersättigung, die der Mann
sonst nicht kennt, die aber den ganzen Menschen geradeso in Beschlag
nehmen wie das Weiblichkeitsgefühl, nur dass sie spezifisch widerwärtig sind,
sodass man gerne die regelmässigen Molimina wieder sich gefallen lässt. Wenn
erotische Träume oder Vorstellungen kommen, so sieht man sich in der
Form, welche man als Weib hätte, und sieht erigierte Glieder, die sich
248
prasentioron ; es wäre, da auch der After weiblich fühlt, garnicht schwer, zum
Kinäden zu werden, nur das positive religiöse Verbot hindert daran, alle
anderen Rücksichten würden hinfällig werden.
Da solche Zustände wohl jedem widerwärtig sein werden, so ist eine
Sehnsucht vorhanden, geschlechtslos zu sein oder sich machen zu dürfen.
Wenn ich ledig wäre, so hätte ich längst Hoden und Scrotum samt Penis
den Abschied gegeben.
Was hilft das höchste weibliche Genussgefühl,
wenn man doch nicht konzipiert? Was nützen die Regungen
weiblicher Liebe, wenn man zur Befriedigung wieder eine Frau hat? wenn
auch die Begattung sie uns als Mann empfinden lässt. Wie entsetzlich be-
schämend ist die weibliche Ausdünstung! Wie erniedrigt den Mann das Ge-
fühl der Freude an Kleidern und Schmuck! Er möchte selbst in der um-
gewandelten Form, selbst wenn er des männlichen Geschlcchtsgef übles sich
nicht mehr erinnern kann, eben doch nicht als Weib fühlen müssen; er weiss
noch ganz gut, dass er früher nicht stets geschlechtlich fühlte, dass er auch
ein blosser Mensch war, unbeeinflusst vom Geschlecht! Jetzt auf einmal
soll er stets seine bisherige Individualität nur als Maske empfinden, stets
sich als Weib fühlen, eine Abwechslung nur haben, wenn er alle 4 Wochen seine
periodischen Beschwerden und zwischenhinein seine weibliche nicht zu be-
friedigende Geilheitszeit hat? Wenn er erwachen darf, ohne sofort sich als
Weib fühlen zu müssen? Zuletzt sehnt er sich nach einem Augenblick, wo
er seine Maske lüften könnte, der Augenblick kommt nicht! Erleichterung des
Elendes kann er nur finden, wenn er ein .Stück Weiblichkeit, Schmuck, ein
Unterkleid usw. anziehen kann, denn als Weib darf er ja doch nicht gehen;
alle seine Berufspflichten mit dem Gefühle einer als Herr kostümierten Schau-
spielerin erfüllen zu müssen und kein Ende abzusehen, ist keine Kleinigkeit.
Die Religion allein schützt vor grobem Lapsus, hindert aber das Peinliche nicht,
wenn die Versuchung an das weiblich fühlende Individuum so herantritt wie
an ein wirkliches Weib und so gefühlt und durchgemacht werden muss!
Wenn ein angesehener Mann, der im Publikum ein seltenes Vertrauen ge-
niesst und eine Autorität besitzt, sich mit seiner wenn auch imaginären
Vulva herumschlagen muss; wenn man vom schweren Tagewerk herkommt
und ist genötigt, die Toilette der nächstbesten Dame zu mustern, mit
Weiberaugen zu kritisieren, aus ihrem Gesichte ihre Gedanken abzulesen,
wenn ein Mode Journal (das hatte ich schon als Kindl
das gleiche Interesse einflösst, wie ein wissenschaft-
liches Werk? Wenn man seinen Zusland vor seiner Gattin, deren
Gedanken man, sobald man sich Weib fühlt, abliest vom Gesichte, verbergen
muss, während ihr doch klar wird, dass man sich an Leib und Seele geändert
hat? Die Qualen, welche die zu überwindende weibliche Weichlichkeit verur-
sacht! Es gelingt zwar manchmal, wenn man im Urlaub
allein ist, einige Zeit mehr als Frau zu leben, z. B.
weibliche Kleider usw., besonders bei der Nacht zu tragen, die Handschuhe
fast stets anzubehalten, einen Schleier oder eine Maske im Zimmer vorzu-
nehmen, dass man dann vor der übermässigen Libido Ruhe hat, aber die ein-
249
mal eincedruriKene Weiblichkeit verlangt gebieterisch, dass sie anerkannt
werde ; sie begnügt sich oft mit einer bescheidenen
Konzession, des Umnehmens eines Armreifs hinter der Manschette, z. B.,
aber eine Konzession in irgend einer Art verlangt sie gebieterisch. Das
einzige Glück ist nur das, dass man sich ohne Scham weiblich kostümiert
sehen kann, ja, dass man, wenn das Gesicht verschleiert oder maskiert ist,
sich lieber so sieht und sich natürlich vorkommt; man hat dann, wie jede-
andere Modegans, den Geschmack der laufenden Mode, so sehr wird und ist
man umgewandelt! Bis man sich an den Gedanken gewöhnt hat, selbständig
nur als Weib zu fühlen und die frühere Denkweise gewissermassen nur aus-
der Erinnerung zum Vergleiche herzuholen, und dann als Mann sich zu
äussern, dazu gehört lange Zeit und unsägliche üeberwindung.
Trotzdem wird es noch Vorkommen, dass man sich auf einer weiblichen
Gefühlsäusserung ertappt, sei es in sexualibus, dass man sagt: man fühlt
so und so, was aber ein Nichtweib nicht wissen kann, oder dass man zu-
fällig verrät, dass einem die w'eibliche Kleidung gang und gäbe ist. Vor Frauen
allein macht dies nichts aus. da sich eine Frau in erster Linie geschmeichelt
führt, wenn man von ihren Sachen etwas versteht, nur darf es nicht vor der
eigenen Frau passieren! Wie erschrak ich einmal, als meine Frau ihrer
Freundin sagte, dass ich für Damenartikel einen sehr feinen Geschmack be-
sitze! Wie war eine hochmütige Modedame überrascht, als ich ihr, die im
Begriffe war, ihr Töchtercheu ganz falsch zu erziehen, alle weiblichen Ge-
fühle schriftlich und mündlich darlegte (ich log ihr zwar vor, ich hätte mein
Wissen aus Briefen geschöpft); aber ebenso gross ist ihr Zutrauen jetzt,
und das Kind, auf dem Wege verrückt zu werden, ist vernünftig geblieben
und ist fröhlich. Es hatte nämlich alle Regungen der Weiblichkeit als
Sünden gebeichtet, jetzt weiss es, was es als Mädchen ertragen und durch
Willen und Religion beherrschen muss, und fühlt sich als Mensch. Die
beiden Damen würden herzlich lachen, wenn sie wüssten, dass ich nur aus-
eigener, trauriger Erfahrung geschöpft habe. Beifügen muss ich noch, dass
ich seither ein viel feineres Temperaturgefühl habe, dazu aber noch ein mir
vorher unbekanntes Gefühl für die Elastizität der Haut, für Spannung der
Gedärme bei Patienten, dass aber bei Operationen und Sektionen feindliche
Flüssigkeiten meine (unverletzte) Haut leichter durchdringen. Jede Sektion
macht mir Schmerzen, jede Elntersuchung einer Dime oder einer Frau mit
Fluor, Krebsgeruch und dergl. berührt mich geradezu peinlich. Ueberhaupt
stehe ich jetzt stark unter dem Einflüsse von Antipathie und Sympathie,
vom Farbensinne an bis zur Beurteilung einer ganzen Person. Frauen sehen
einander die sexuelle derzeitige Stimmung gewöhiüich an, deshalb trägt eine
Dame den Sclüeier, wenn sie ihn auch nicht stets vornimmt und parfümiert
sich gewöhnlich, wenn es auch nur Taschentuch oder Handschuhe sind, denn
ihre Geruchsempfindung ihrem Geschlecht gegenüber ist enorm; überhaupt
wirken Gerüche auf einen weiblichen Organismus ganz unglaublich ein; so
zum Beispiel benihigt mich Veilchen und Rose, andere Gerüche ekeln mich
an, mit Ylang könnte ich es vor geschlechtlicher Erregtheit nicht aushalten-
Berührung einer Frau erscheint mir homogen, Koitus mit meiner
250
Frau erscheint mir dadurch möglich, dass sie etwas
männlicher ist, eine feste Haut besitzt und doch ist
es mehr ein Amor lesbicus.
Zudem fühle ich mich stets passiv. Wenn ich oft nachts vor Auf-
regung nicht schlafen kann, geht cs endlich, si femora mea distensa habeo,
sicut mulier cum viro concumbens, oder auf eine Seite mich lege, nur darf
dann kein Arm oder kein Bettstück die Mamma berühren, sonst ist es mit
dem Schlafe wieder aus; auch der Rauch will nicht gedrückt sein. In
Frauen hemd und Bettjacke schlafe ich am besten,
und dann noch mit Handschuhen, denn es friert mich leicht an
den Händen: in weiblichen Unterhosen und Unterröcken behagt es mir auch,
weil sie die Genitalien nicht berühren. Am liebsten waren mir Frauenkleider zur
K r i n 0 1 i n e n z e i t. F r a u e n k 1 e i d e r genieren den weiblich
fühlenden Menschen nicht, da er sie, wie jedes. Weib,
als zu seiner Person gehörend fühlt, nicht als fremde
Gegenstände.
Mein liebster Verkehr ist eine an Neurasthenie leidende Dame, welche
seit dem letzten Wochenbette männlich fühlt, sich aber, seit ich ihr (fiese
Gefühle gedeutet habe, so gut als möglich darein schickt, coitu abstinet,
was ich als Mann eben nicht tun darf; diese hilft mir durch ihr Beispiel
meinen Zustand tragen. Sie hat die Frauengefühle noch klarer in Erinnerung
und hat mir schon manchen guten Rat gegeben. Wäre sie ein Mann und ich
ein junges Mädchen, diese würde ich zu erwerben suchen, von dieser würde
ich mir des Weibes Schicksal gefallen lassen. Aber ihre jetzige Photographie
ist ganz anders als die früheren; sie ist ein höchst elegant kostümierter
Herr trotz Blusen usw. und Frisur; sie spricht aber auch kurz und bündig
und hat an allem, was mir Spass macht, keine Freude mehr; sie hat eine
Art von Weltschmerz, trägt aber ihr Schicksal mit Ergebung und Würde,
findet ihren Trost nur in Religion und Pflichterfüllung, geht zur Zeit der
Menses fast zugrunde; sie liebt Frauengescllschaft und Frauengespräche nicht
mehr, ebenso keine Süssigkeiten.
Ein Jugendfreund fühlt seit erster Zeit des Lebens nur als Mädchen,
hat aber Zuneigung zum männlichen Geschlechte: seine Schwester hatte es
umgekehrt, und als der Uterus doch sein Recht verlangte und sie sich als
liebendes Weib sah, trotz ihrer .Männlichkeit, machte sie es kurz und ent-
leibte sich durch Ertränken.
Was ich als Hauptveränderungen an mir seit der vollständigen Efte-
minatio beobachtet, ist: 1. das stete Gefühl, Weib zu sein vom Scheitel bis
zur Zehe, 2. das stete Gefühl, weibliche Genitalien zu besitzen, 3. die
Periodizität der vierwöchentlichon Molimina. 4. regelmässig eintretende weib-
liche Begehrlichkeit, aber ohne Lust zu einem bestimmten Mann, 5. beim
Koitus weibliches passives Gefühl, 6. nachher das Gefühl der futuierten
Partei, 7. bei Bildern von Koitus das weibliche Gefühl, 8. beim Anblick von
Frauenzimmern das Gefühl der Zusammengehörigkeit und das weibliche Inter-
esse daran, 9. beim Anblick von Herren das weibliche Interesse daran,
10. beim Anblick von Kindern dasselbe, 11. das veränderte Gemüt, die viel
251
grössere Geduld, 12. die endlich gelungene Ergebung in mein Schicksal, was
ich zwar nur der positiven Religion verdanke, sonst liätte ich mich hingst
entleibt.“
Aus dem Begleitbrief des Patienten, in dem er Krafft-
Ebing für seine Schriften dankt, nach deren Lektüre er, der
„seine Standespflichten als Arzt, Bürger, Vater und Ehe-
mann erfüllt, sich doch wieder zu den Menschen rechnen
kann“, sei noch folgender Passus erwähnt:
„Endlich wollte ich auch Euer Wohlgeboren das Resultat
meiner Erinnerung und meines Nachdenkens deshalb vorlegen,
um zu beweisen, dass man auch mit weiblichem Fühlen und
Denken Arzt sein kann; ich halte es für ein grosses Unrecht,
dem Weibe die Medizin zu verschliessen ; ein Weib kommt
manchem Uebel durch das Gefühl auf die Spur, wo der Mann
trotz der Diagnostik im Finstern tappt. Jedenfalls bei Frauen-
und Kinderkrankheiten. Wenn ich es machen könnte, so
müsste Jeder Arzt ein Vierteljahr lang die W^eiblichkeit
durchmachen, er hätte dann mehr Verständnis und mehr
Achtung für die Seite der Menschheit, won welcher er ab-
stammt, und wüsste dann die Seelengrösse der Frauen zu
schätzen, andererseits auch die Härte ihres Schicksals.“
Gemeinsam mit unseren Hauptfällen ist diesem Fall
die schon sehr früh auftretende ausserordentliche Vorliebe für
Av eibliche Kleidungsstücke, vom 12. Jahre ab der W^imsch
„lieber ein Frauenzimmer sein zu wollen“, der immer stärker
werdende Trieb, als solches zu leben, der auch einige Male
in die Tat umgesetzt wird; dabei ausgesprochene Hetero-
sexualität; nur als Jüngling verliebt er sich einmal in einen
„bildschönen Freund mit Mädchengesicht“, hat aber schon da
den charakteristischen Wunsch, sie möchten beide Mädchen
sein. Als er sich mit seiner späteren Frau, „einer energischen
Dame aus einer Familie, wo Weiberherrschaft blüht“ ver-
lobt, hängt er an seiner Braut „mit aller weiblichen Tiefe,
wie an einem Bräutigam.“ Aus ihrer im ganzen glücklichen
Ehe, die ihm aber wie das Zusammenleben zweier Weiber
vorkommt, gehen fünf Knaben hervor.
Abweichend von unseren Fällen ist, dass er sich schliess-
lich auch körperlich als Weib fühl t. Die ersten Anzeichen
252
davon traten bei dem schwer neurasthenischen Patienten im
Anschluss an eine ernste Tlaschisclivergiftung auf. Seitdem
fühlt er sich alle 4 Wochen 5 Tage unwohl“, auch in der
Zwischenzeit hat er weibliche Sensationen, so berührt das
Oberhemde die geschwollenen Brustwarzen schmerzhaft; Becken
und Taille empfindet er weiblich, ebenso den Bauch, „welcher
keine Hose will.“ Die Beweglichkeit der Hoden stört ihn,
da sie doch eigentlich in den- Bauch gehören und festsitzen
sollten usw.
Trotz dieser schon wahnhaft gefärbten Ge-
danken rubriziert Krafft-Ebing den Fall nicht unter Para-
noia, w'eil „sein Ich imstande ist, die Herrschaft gegenüber
diesen seelisch-körperlichen krankhaften Vorgängen' zu be-
haupten,“ betrachtet ihn vielmehr als „ein denkwür-
diges Beispiel von Zwangsempfindungen
und Zw'angs Vorstellungen auf der Basis
neurotischer Belastung“.
Verkleidungstrieb und Zwangsvorstellung.
Fassen wir noch einmal, ehe wir nun unsere Fälle rubri-
zieren, das bisher gefundene ganz kurz zusammen, so sahen
wir, dass die Transvestiten sich von den Monosexu-
ellen dadurch unterscheiden, dass sie über sich selbst hin-
aus zu einer zweiten Person sich hingezogen fühlen, von
der Homosexuellen dadurch, dass diese Person dem
anderen Geschlecht angehört, von den Fetischisten
dadurch, dass sie die Kleidung nicht so sehr an der zweiten
Person oder isoliert wie an sich selbst lieben, um
sich durch sie möglichst das Aussehen des anderen Ge-
schlechts zu geben, von den Masochisten dadurch,
dass ihre passivistischen Gedanken und Wünsche zumeist
nicht stärker sind, wie es ihre Weiberrolle erfordert,
von den Paranoikern endlich dadurch, dass sie genau
wissen, dass sie dem anderen Geschlecht nicht ange-
hören, so sehr sie sich auch das Ansehen dieses Geschlechts
zu geben wmnschen.
253
Am nächsten steht der Verkleidungstrieb der grossen
Gruppe von Erscheinungen, welche in der modernen Psy-
chiatrie als Zwangszustände beschrieben sind. Es kann
keinem Zweifel unterliegen, dass dem seltsamen Drang wo-
möglich bis in die kleinsten Kleinigkeiten die Gestalt des
anderen Geschlechts anzunehmen ein ähnlich obsedieren-
d e r Charakter innewohnt, wie etwa dem pathologischen
Wandertrieb (Dromomanie), der Sammelwut, Spielwut, Kauf-
sucht, der Dipsomanie, Pyromanie, Kleptomanie und ähn-
lichen abgesehen von der Art des Impulses untereinander
im übrigen sehr verschiedenen Erscheinungen. Es handelt sich
im- Sinne der bekannten Formulierung Westphals*) um ein
psychisches Element, das sich bei intakter Intelligenz und
Einsicht in den Vordergrund des Bewusstseins drängt, sich
trotz Gegenstrebens nicht aus dem Geist des Individuums
verscheuchen lässt, und den normalen Ablauf der Vorstellungen
durchkreuzt. Lassen wir zunächst einmal die Frage offen,
ob und inwieweit die V o r n a h m e der Handlung, in unserem
Fall die der Verkleidung, zwangsweise bedingt ist, (die
Stärke des Triebes und die Stärke des Willens sind vor allem
dabei in Betracht zu ziehen), so geht ihr doch jedenfalls
ein Zwangstrieb, eine Zwangs sucht voraus, die der nor-
malen Verdrängbarkeit durch Willenseinflüsse ermangelt und
ihrerseits in Zwangsempfindungen und Zwangsvorstellungen
basiert. Auch die von den französischen Autoren, in erster Reihe
von Magnan**) auf gestellten Kriterien der den Zwangs-
zuständen analogen „Obsessions“, zunächst „Impulsion“, der
als Zwang empfundene Trieb, dann „Irresistibilite“, die ver-
hältnismässige Unwiderstehlichkeit, die aber dabei doch vor-
handene: „Lucidite“-Einsicht, ferner die „Angoisse concom-
mitante“, ein von dem Zwang hervorgerufener Druck, eine
gewisse Unruhe und Angst, endlich die ..satisfaction conse-
cutive“, das Gefühl der Erleichterung und Beruhigung nach
*) Weslphal: Ueber Zwangsvorstellungen. Berliner klinische Wochen-
schrift 1877. Nr. 46, nach einem in der Berliner medizinisch-psychologischen
Gesellschaft gehaltenen Vorträge.
**) Magnan: Ps\-chiatrische Vorlesungen 1884—87, deutsch von Möbius.
Leipzig 1892.
254
„vollbraciiter Tat“, der ^Befriedigung“ des Triebes, alle diese
Symptome treffen auf den Transvestitismus zu.
Nun bin ich zwar mit Warda*) der Meinung, dass
der Ausdruck psychische Zwangszustände — und für das
französische „obsessions“ gilt das in noch weit höherem Masse
— allmählich zu einem „hindernden Schlagwort“ geworden ist;
einmal werden allzu verschiedenartige Krankheitsbilder darunter
gefasst, oft solche, die sich sehr schwer von dem abgrenzen
lassen, was wir als Begleiterscheinungen der Hypochondrie,
Hysterie, der Neurosen, der ^lelancholie, des degenerativen
Irreseins, der sexuellen und anderen Anomalien kennen, vor
allem ist die Bezeichnung**) „Zwangserscheinung“ eine viel
*) Warda: Ueber Zwangsvorstellungspsychosen. Monatsschrift für
Psychiatrie und Neurologie. Bd. 12, Heft 1, 1902.
•^*) Der Ausdruck: Zwangsvorstellung wurde zuerst von
Krafft-Ebing in der kleinen Schrift vom J. 1867 gebraucht, die den
Titel führt: Beiträge zur Erkennung und wichtigen forensischen Beurteilung
krankhafter Gemütszustände für Aerzte, Kichter und- Verteidiger.“ Erlangen
bei Enke. Eine genauere Di;finition dessen, was er darunter verstanden wissen
möchte, gibt er 1883 in der Arbeit: „Ueber Zwangsvorstellungen“ (er-
schienen in den Mitteilungen des Vereins der Aerzte in Steiermark. 1.— 4.
Heft, pag. 59) mit folgenden Worten: „Eine formale Störung des Vorstellungs-
ablauts, charakterisiert dadurch, da.ss irgend eine konkrete, vielfach inhaltlich
garnicht widersinnige Vorstellung mit krankhafter Intensität und Dauer im
Bewusstsein fixiert bleibt, wobei sich aber der Betreffende im Gegensatz zur
Wahnidee des Krankhaften des Vorgangs, speziell auch in Bezug auf den
Inhalt der Vorstellung bewusst ist.“ Es wäre m. Er. besser gewesen, wenn
anstatt des Zwangsmässigen mehr das Absonderliche, Fremdartige, Bizarre
im „Inhalt der Vorstellung“ einer Bezeichnung zugrunde gelegt worden wäre.
Das Zutreffende, aber auch das Unzureichende des „Zwangsbegriffs“ er-
hellt aus der grossen Fülle der Ausdrücke, die sich an Krafft-Ebings Wort
angeschlossen haben. So finden wir in der Zwangs-Literatur ausser den
oben gebrauchten u. a. folgende Namen für einzelne „Zwangsphänomene“,
„Zwangssymptome“ und „Zwangseigenschaften“ aus dem „Zwangsgebiet“;
Zwangsdenken, Zwangshandlungen, Zwangsstimmungen, Zwangsaffekte, Zw’angs-
gefühle, Zwangsimpulse (Pleonasmus), Zwangsbewegungen, Zwangsbewegungs-
vorstellungen. Zwangsassoziationen, Zwangshemmungen, Zwangsunter-
lassungen, Zwangseinflüsse, Zwangsnrsachen, Zw’angstendenzen, Zwangser-
innerungen, Zwangsangst, Zwangsskrupel, Zw'angshalluzinationen, Zwangs-
befürchtungen, Zwangsbeachtungen, Zwangszweifel, Zwangsakte usw,, auch
Zwangsneurose, Zwangspsychoncurose u. s, f.
255
zu allgemeine, nachdem wir mehr und mehr kennen gelernt
haben, dass doch auch innerhalb der Breite der Gesundheit
die Freiheit und Ungezwungenheit unserer Empfindungen,
Vorstellungen und Handlungen grossen Beschränkungen unter-
liegt. Das gilt ganz besonders auch von der „Zwangsliebe‘%
gegen deren Aufstellung sich bereits L. Löwenfeld in seinem
ausgezeichneten Werk: „Die psychischen Zwangserscheinungen“
(bei Bergmann, Wiesbaden 1904) wandte. Laurent hatte in
seiner „l’amour morbide“ ausgeführt, dass eine Liebesleiden-
schaft „welche weder Mass noch Zügel kennt und den
Menschen zum Narren mache“ als „une veritable Obsession“ zu
erachten sei, die gleich anderen Zwangserscheinungen zu den
Syndromen der psychopathischen Entartung (degenerescence)
zähle; er sagt wohl mit Bezug auf Magnans Definition wört-
lich: „Ne s’accompagne-t-il pas de cette irresistibilite carac-
teristique et en quelque Sorte fatale, de cette angoisse
concommitante et penible, de cette conscience complete de l’etat
et enfin de cette satisfaction consecutive ä l’acte accompli, en
un mot de tous les symptömes caracteristiques
de Fob Session“. Demgegenüber bemerkt nun Löwenfeld
ganz mit Recht , dass auch in der normalen oder phy-
siologischen Liebe etwas von einem Zwangszustande stecke,
dass die Kriterien der Obsession für sie in gewissem Masse
ebenso zutreffen, wie für die krankhafte Liebe, dass jeden-
falls die Grenze zwischen pathologischer und physiologischer
Liebe vom Standtpunkt des Zwangsmässigen nie scharf gezogea
werden könne. Er zitiert jenen berühmten Vers, welcher
das Ungewollte der Liebe so deutlich zur Darstellung bringt^
den Vers:
Ich liebe Dich, weil ich Dich lieben muss,
Ich liebe Dich, weil ich nicht anders kann,
Ich liebe Dich durch einen Schicksalsschluss,
Ich liebe Dich durch einen Zauberbann.
Wenn dann aber Löwenfeld selbst fortfährt, dass wir nur
dann die von Laurent gemeinten Zustände mit Sicherheit
als pathologische ansprechen können, wenn erstens ein ausser-
gewöhnliches Missverhältnis zwischen der Grösse der Neigung
25G
und der Qualität des auslösenden Objekts besteht, zweitens
der Affekt durch irgendwelche veriiunftgemässe Vorstellung
gänzlich und andauernd unbeoinflussbar ist, drittens das
geistige Lehen vollständig durch den Affekt beherrscht wird
und viertens „unter Uinstätiden auch Krankheitseinsichf vor-
handen ist, so scheint mir dies mit dem. was der Autor
selbst kurz vorher auseinanderlegt in einem gewissen "Wider-
spruch zu stehen. Denn alle diese Postulate finden sich doch
in heftigen Liebesleidenschaften sowohl bei Männern als auch
ganz besonders bei Frauen ausserordentlich häufig, ohne dass
wir deshalb ihre Neigung unter Berücksichtigung der so un-
endlichen Mannigfaltigkeit des normalen Liebeslebens in jeg-
licher Hinsicht für pathologisch erklären brauchen. Wie oft
kommt es nicht vor, dass ein Liebender selbst einsieht,
dass das Objekt weder seiner Persönlichkeit noch seiner starken
Liebe wert ist, — man erinnere sich des alten Sprich w'orts:
„Liebe macht blind“ — alle Vernunftgründe nützen nichts
(erstes und zweites Postulat); sein ganzes geistiges Leben
ist von seiner Leidenschaft beherrscht und erfüllt und er
sagt sich selbst, dass dieser quälenden Sehnsucht und Eifer-
sucht ein krankheitsartiger Charakter eigen ist (drittes und
viertes Postulat) — das alles liegt doch nun einmal im
Wesen einer starken Liebe an und für sich und invol-
viert noch nicht den Begriff des Pathologischen.
Viele Autoren betrachten als die Voraussetzung einer
gesunden „natürlichen physiologischen“ Liebe, dass sie „im
Dienst der Fortpflanzung und Arterhaltung“ steht. Diese
Anschauung beruht auf der so oft irrtümlichen Gleichsetzung
von Folge und Zweck. Inwieweit hier ein Trugschluss
vorliegt, habe ich in meinem Buch „Der urnische ^Mensch“*)
eingehend erörtert. Es ist keineswegs erwiesen, dass die Liebe
nur ein Mittel zum Zweck ist, es ist ebenso wohl denkbar,
dass Liebe Selbstzweck ist, indem sie zunächst der Selbst -
erhaltung dadurch dient, dass sie die Menschen an das Leben
fesselt, welches ohne die bewusste und unbewusste erotische An-
ziehung wesentlich an Wert verlieren, weil inhaltsloser,
*) loco dtato pag. 150—158.
257
schaler und gleichgültiger sein würde. Ist aber die Liebe
namentlich auch in iliren leichteren Stadien ein so be-
deutsames Lebenselement an und für sich, dann sind wir be-
rechtigt, die Grenzen der krankhaften Liebe enger und der
sexuellen Varietäten wesentlich weiter zu ziehen, als dies
gewöhnlich geschieht. Wäre andererseits die Fortpflanzungs-
möglichkeit der Hauptfaktor, dann wmrden beispielsweise die
hier geschilderten Fälle, deren Liebesieben doch so viel ab-
sonderliches und zwangsmässiges aufweist, als physiologisch
zu erachten sein, da die Betreffenden sich ja, wie wir sahen,
zum anderen Geschlecht hingezogen fühlen und zumeist
völlig zeugungsfähig sind. Man sollte bei der Entscheidung
dessen, was im Geschlechtsleben als pathologisch, was als
sexuelle Varietät zu gelten hat, nicht sowohl den inneren
Zwang, noch die Voraussetzung der Arterhaltung noch auch
die verhältnismässige Seltenheit und Seltsamkeit der Erscheinung,
als vielmehr vor allem die Verletzung der Geschlechtsreife und
Geschlechtsfreiheit als der w'esent liebsten Vorbedin-
gungen gesunder Sexualität in Betracht ziehen.
Keineswegs dürfen wdr uns aber bei der Betrachtung
einer sexuellen Anomalie, gleichviel ob sie pathologisch ist
oder nicht, mit der höchst einfachen Feststellung begnügen,
sie gehöre zu den Zw'angserscheinungen oder „in das Gebiet
des impulsiven Irreseins“, sondern wir müssen vor allen
Dingen ihren Entstehungsmechanismus, ihre
Wurzeln aufzufinden suchen, uns bemühen, die unterbe-
wussten psychischen Elemente zu ermitteln, auf denen sie
beruht; was determinierte, wms fixierte den eigenartigen Trieb?
durch welche Associationsreihen ging er hindurch, bevor er
uns manifest vor Augen trat? Auf die Notwendigkeit solcher
Fragestellung hingewiesen zu haben, ist das noch lange nicht
genug gewürdigte und beachtete Verdienst Freuds.
Die Kleidung als Ausdrucksform
seelischer Zustände.
Die äussere Erscheinung, wmlche wir in unseren Fällen
nach innen zurückzuverfolgen haben, ist die Verkleidung einer
H i r s c h f 0 1 d , Die Transvestiten. 17
männlichen in eine weibliche, einer weiblichen in eine männ-
liche Person. Hier tritt uns sogleich ein gewichtiges Moment
entgegen, das diese Anomalie von vielen anderen auf sexuellem
Gebiet unterscheidet. Der abweichende Trieb erstreckt sich
nicht sowohl auf eine besondere Beschaffenheit des Partners,
das Sexualobjekt, als vielmehr auf das Sexualsubjekt, ein in
bestimmter Weise gewünschtes Aussehen der eigenen Persön-
lichkeit. Und zwar soll diese nicht nur in dem sichtbaren
Oberkleid, sondern auch im Untergewand, sowie in allem
sonstigen Zubehör des Anzugs, einschliesslich der Haartracht,
dem anderen Geschlecht gleichen und sich womöglich auch
der Gebrauchsgegenstände und Lebensgewohnheiten bedienen,
wie sie diesem zukömmlich sind.
Bereits im Beginn des anahTischen Teils dieser Arbeit
(Seite 159) wies ich unter Berufung auf Thomas Carlyle,
Robert Sommer und Fritz Rumpf kurz darauf hin, dass wir
hier nicht die Kleider als ein zufälliges, launenhaftes Etwms,
als leblose Gewebe anzusehen haben, sondern als sinnfällige
beabsichtigte Zeichen eines inneren Strebens. Das ist das
Kleid nicht etwa nur in diesen besonderen Fällen, sondern
ganz im allgemeinen in ungleich höherem Masse als gewöhn-
lich geglaubt ward. Mit Recht bezeichnet Rumpf*) die Tracht
als „ein Merkmal und einen zuverlässigen Ausdruck irgend-
welcher Entwicklungsvorgänge, die auf anderem Wege viel-
leicht schwer oder garnicht zu verfolgen sind“ und am Ende
seines geistvollen Werkes: „Naturgeschichte der Kleidung“ ruft
Emanuel Hermann**) nicht minder treffend aus: „Die Klei-
dung ist die unbewusste Sprache der Geister und drückt sich
umso deutlicher aus, je mehr der Mund zum Schweigen ver-
urteilt ist.“ Vorher hat er an vielen Beispielen gezeigt, wie
sich „die Persönlichkeit mit ihrer origi-
nalen Denk-und Gefühlsweise, ihrem Charakter
imd ihrer Lebensrichtung“ in ihrer Kleidung widerspiegelt.
Auch Friedrich Kleinwächter vertritt in dem schönen Auf-
satz: „zur Philosophie der Mode“, der 1880 in Franz von
•) loco cit. pag. 319.
••) Wien 1S78 bei R. v. Waldheim, S. 368 u. 314.
259
Holtzendorffs „Deutschen Zeit- und Streitfragen“*) erschien,
die gleiche Aiiffassung. Er sagt: „Das Kleid soll
irgend etwas andeuten und diese seine symbo-
lische Deutung wiirzelt so tief, dass sie so paradox
es klingen mag — zur Erscheinung gelangt, ehe der Mensch
überhaupt noch daran denkt, Kleider zu tragen. Die Zeich-
nung, die der Wilde mittels der Tätowierung auf seiner
eigenen Haut ausführt, ist nichts weiter als ein Ausfluss
dieses dem Menschen innewohnenden Triebes zu symbolisieren.“
Ich könnte noch manchen ähnlichen Ausspruch anführen, denn
seit Carlyle 1831 darüber klagte, dass „bisher kaum etwas
von grundlegender Bedeutung sei es vom Standpunkt des
Philosophen oder von dem des Geschichtsschreibers über die
Kleider geschrieben sei“ ist von dieser Seite manche wert-
volle Abhandlung über den Gegenstand veröffentlicht; wie
übrigens im Deutschen auch schon vorher einige vorzügliche
Werke, die der englische Autor offenbar nicht kannte, exi-
stierten, so namentlich das mehrbändige Werk von Robert
von S p a 1 a r t**) aus dem Jahre 1796 und die noch frühere
fleissige Arbeit K 1 e 1 1 e n s.***) Vom psychologisch-natur-
wissenschaftlichen Gesichtspunkte liegt abgesehen von der
mehrfach erwähnten auch mehr deskriptiven Arbeit Rumpfs
(1905) nichts vor, was dem grossen weitschichtigen Problem
der menschlichen Bekleidung auch nur halbwegs gerecht
würde. Und wie unendlich viel Hesse sich über die Psy-
chologie der Kleidung in individueller und histo-
rischer Hinsicht, namentlich unter Berücksichtigung der mo-
dernen Psychoanalyse sagen. Wie viel Stimmungen drücken
*) Flugschriften zur Kenntnis der Gegenwart. Heft 129. Jahrgang IX.
Berlin S.W. bei Habel.
••) R. V. Spalart; Versuch über das Kostüm der vorzüglichsten Völker
des Altertums, des Mittelalters und der neueren Zeiten, nach den be-
währtesten Schriftstellern bearbeitet, auf eigene Kosten herausgegeben von
Ignatz Albrecht. Wien, in der Joseph Ederischen Buchhandlung 1796 u. ff.
Jahre.
***) Dr. Georg Ernst Kletten: Versuch einer Geschichte des Verschöne-
rungstriebcs im weiblichen Geschlechte usw. Gotha bei Carl Wilhelm
Ettinger 1792.
17'
■26ü
allein die Farben der Stolle aus, vom hellen Feiertagskleid,
dem festlichen weiss und freudigen rot bis zum bescheidenen
blau und ernsten trauervollen schwarz. ' Balzac behauptet
sogar, dass sich Temperament und Charakter der Frau zum
grossen Teil aus der Farbe ihrer Kleider lesen Hesse, er
meint, dass beispielsweise eigensinnige Frauen unbewusst
grüne Farben wählten, wirklich schöne blau bevorzugten,
zur Melancholie neigende für grau und Frauen, die einmal
schön waren, aber fühlten, dass sie es nicht mehr sind, für
lila eine Vorliebe hätten. Der nackte Mensch verrät uns fast
nichts von seiner Gesinnung, seiner Würde und Bildung;
aber sein Kleid spricht: ich bin ein Fürst oder ein Bettler,
ein Richter oder Sträfling, ein Priester oder Jägersmann. Da
gibt es Stammestrachten und Standestrachten, Uniformen,
Berufstrachten und Parteitrachten und unendlich viel
mehr, deren Erwähnung im einzelnen uns hier viel zu weit
führen würde. „Welchen rührenden erhebenden Anblick“,
sagt Hermann in dem Abschnitt seines Buches, den er
„Physiognomik der Klt'iduug' überschreibt, „gewährt uns
durch sein blankes Festkleid das alte Mütterchen, wenn es
Sonntags in aller Gottesfrühe zur Kirche humpelt; schaut
da nicht aus allem Bänderschmuck, aus den schlicht ge-
legten Fältlein der echte Gottesfrieden selber heraus? Und erst
die Weihe des Konfirmanden-Kleides und die wunderbare
Zauberkraft des Brautkleides, das die ganze Lebensge-
schichte der Jungfrau und Frau mit aller Sinnigkeit und
allem Opfermute klar aussprieht und dann die Trauerfarben,
die Flöre und dichten Schleier, wie wiederholen sie alles
Weh der Herzen, denen die Pracht der Welt plötzlich farb-
los, d. h. schwarz erscheint, weil der geliebte Verstorbene
nicht mehr mitempfindet.“
Es hat freilich den Anschein, als ob heutzutage die Klei-
dung verglichen mit früheren Zeiten an Indmdualität, Mannig-
faltigkeit und Ausdruckstiefe verloren hat, namentlich beim
männlichen Geschlecht. Gibt sich nicht aber auch gerade
darin vüeder der demokratisch-nivellierende Geist unserer
Zeiten kund? Nicht nur das Gewand als ganzes, auch die
einzelnen Teile sind Sj’mbole des Innenlebens. Was können
261
wir nicht allein durch den Hut erfahren, seine Form, seine
Garnierung und die Art ihn zu tragen: ,,Gibt es wohl eine
Nüance des männlichen Charakters“, sagt Hermann, ..vorn
Trunkenbold bis zum idealen Schwärmer, vom Prahler bis
zum Geizhals, vom noblen Lebemann bis zum demütigen
Mucker, welche nicht dm’ch den Hut ausgedrückt werden
könnte.“ Auch die übrigen Kleidungsstücke führen für den
aufmerksamen Beobachter eine kaum minder beredte Sprache.
In einem seiner vortrefflichen Aufsätze*) über „Kostüm und
Mode" hat Jacob von Falke sich mit der Geschichte des männ-
lichen Hutes beschäftigt und was er hier an Hand dieses einen
Kleidungsstückes über die natürlich unterbewussten Zusammen-
hänge zwischen weltbewegenden Geistesströmungen und der
jeweils herrschenden Mode ausführt, ist für das psychologische
Verständnis der Tracht im allgemeinen so überaus vielsagend,
dass ich einen Teil seiner interessanten Darstellung hier wört-
lich wiedergeben will; er sagt:
..Manche Leser erinnern sich vielleicht auf der Wiener
Weltausstellung in der sogenannten additionellen Ausstellung
eine grössere Anzahl von Herrenhüten gesehen zu haben,
welche die Modeformen des Hutes wahrend der letzten zwei-
hundert Jahre repräsentieren. Gewiss gab es darunter selt-
same Formen, so absonderlich, dass man nicht w'usste, ob
man mehr staunen sollte über die groteske Unschönheit der-
selben oder über die Querheit der Köpfe, welche sie trugen,
eine nach, der anderen. Und doch haben sie in ihrem Ver-
laufe eine höchst rationelle, oder wie der wissenschaftliche
Terminus lautet, pragmatische Geschichte.
„Beginnen wir mit der Zeit des dreissigjährigen Krieges.
Damals herrschte der Filzhut, ein altes Erbstück schon von
wer weiss wie langen Zeiten, aber dazumal neu und charak-
teristisch in seiner Erscheinung. Die ceremoniösen Spanier,
welche vor dieser Periode die Herrn in der Mode waren, hatten
ihren feinen, seidenen Hut sehr steif und mit sehr kleinem
Ramie geformt und ihn so der Generation des beginnenden
dreissigjährigen Krieges überliefert. Nun kam die wilde Be-
*) Erschienen in dem Buch: „Zur Kultur und Kunst“, Wien 1878.
wegung, der Drang nach Freiheit oder vielmehr Zwanglosig-
keit, die verwilderten Sitten des Krieges; an Stelle des Staats-
mannes. des Hofmanncs, des Bürgers wurde der Soldat allein
der rechte Mann, und der Soldat, wie das Kriegsglück hin-
und herschwankte, wurde Abenteuerer, Raufbold und Re-
nommist, und wie im Charakter, so auch im Aeusseren, eine
abenteuerliche Erscheinung. Nichts grotesker daher als die
Gestalt des Filzhutes, wie ihn der Soldat sich zurichtete und
wie er ihn der übrigen Welt auidrängte. In seiner Auf-
lehnung gegen allen Zwang und beengende Sitte machte er
den Filzhut weich, nachgiebig und formlos und, das Groteske
und Fantastische suchend, dehnte er die kleine Krempe von
Fingerbreite bis zum Regendach aus und liess von oben herab
die bunten Federn ellenlang den Rücken hinabhängen. In
dieser Form musste der Hut sich allen Ständen, allen Lagen
dos Lebens gerecht erweisen und wurde darnach zugerichtet.
Der Glücksritter, so lange Fortuna ihm günstig war, trug
die Krempe über der Stirn hoch auf, der Bürger, der sich noch
schätzte und hielt in den bösen Zeiten, trug sie simpel ge-
rade und horizontal, wer aber am Laufe der Dinge ver-
zweifelte und pessimistisch in das Leben schaute, wie auch
der flüchtige Soldat, der vom Unglück verfolgte Abenteuerer,
der liess sie ringsum schlaff herunterhängen, um das morose
Gesicht zu bedecken. So diente der Hut in dieser fesselloseu
Zeit der individuellen Willkür und w'ar doch ein genau ent-
sprechendes Sjunbol des allgemeinen Charakters.“
„Aber schon gegen das Ende des Krieges rührte sich ein
neuer Geist und übte seinen Einfluss auf den Hut. Während
in Deutschland die Kriegsfurie tobte, begann in Frankreich
die Geschichte des Salons und der Salonsitten, zu der alsbald
mit Ludwig XIV. das erneuerte Hof-Ceremoniell, Etiquette
und versteifte Umgangsformen traten. Was sollten sie mit
dem schlaffen, formlosen, wilden Hute der Kriegsabenteuerer'^
Allerdings hatten auch die französischen Herren ihn ange-
nommen, eine Mode, die diesmal deutschen Ursprungs war.
aber sie mussten ihn notgedrungen verfeinern. So verliert der
Hut schon um das Jahr 1640, also noch während des Krieges,
von seinem renonamistischen Ansehen, und Kopf und Rand
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ziehen sich bescheidener zusainmen und versteifen sich. Die
aufgestülpte Krempe bleibt, aber aus der einen werden bald
zwei und sodann drei und diesen dreiseitigen Rand umzieht
statt der langen herabhängenden Feder ein zierliches Gefieder.
So ist jener dreiseitige Hut entstanden, der Hut Ludwigs XIV.
und seiner Zeit, eine ganz bestimmte Form, die jedes indi-
viduelle Belieben ausschloss, wie es dem Absolutismus jener
Zeit entsprach.“
„Aber es gab andere Einflüsse, die ihn alsbald wieder
veränderten. Es war die Periode der riesigen Allongeperücke,
des wahrsten Ausdrucks dieser hohlen Zeit, die das Pompöse,
den Schwulst und Bombast liebte und das selbstzufriedene Ge-
sicht in die Lockenfülle einrahmte, wie den Gedanken in die
geschraubte Phrase und die künstlerische Idee in die ver-
schnörkelten Ornamente. Die Perücke war selbst eine Kopf-
bedeckung, schwer und heiss genug; eine andere war über-
flüssig, und so wurde der Hut, der die wohlgeordneten Locken
nur schädigen konnte, zu einem Spielzeug der Hand, so klein
an Gestalt, dass er auf dem Kopfe nicht mehr sitzen konnte.
Seine Aufgabe war nicht mehr den Kopf zu schützen und zu
decken, sondern die ceremoniösen Bewegungen und Schwen-
kungen der Hand und des Arms zu begleiten. Da er aber,
beständig in der Hand, einigermassen lästig wurde, so klappte
man ihn im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts zweiseitig
zusammen, um ihn bequemer unter dem Arme tragen zu
können, für welchen Platz er wohl eigentlich nicht bestimmt
war. In dieser Gestalt diente er der vornehmen und gebil-
deten Gesellschaft bis gegen die Zeit der französischen Re-
volution und duldete nur ausserhalb des Salons oder beim
Militär, das sich uniformierte, noch Spielformen neben sich.“
„Da erstand ihm aber von ganz unerwarteter Seite her
ein Gegner, der ihn nach kurzem Kampfe mit Hilfe der Re-
volution selbst aus dem Felde schlug. Der grosse schlaffe Hut
des dreissigjährigen Krieges war wie in Deutschland so auch
in England getragen, das zu jener Zeit in den Wirren und
Kriegen seiner grossen Revolutionsperiode stand. Die Kava-
liere, die Partei der Königlichen, trugen ihn freier und aben-
teuerlicher wie die Glücksritter des deutschen Krieges; die
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Gegner aber, die Independenten, die Republikaner, die Puri-
taner, zwar ähnlich, aber einfach, ungefiodort mit geradem
Rande. In dieser (Gestalt brachten ihn die Puritaner und die
Quäcker nach Amerika hinüber, wo er sidi bei diesen religi-
ösen Sekten und politischen Parteien, nur mit langsamer Ver-
steifung. erhielt, während England nach der Restauration
unter Karl II. völlig der modischen Kopftracht folgte und
zu dem dreiseitigen und zweiseitigen Hute überging. Der
Puritaner- und Quäckerhut, bis dahin unbeachtet, kam aber
plötzlich mit dem amerikanischen Befreiungskriege in Mode.
Die Sympathien, welche dieser Kampf in den immer zahlreicher
werdenden liberalen Kreisen Europas fand, gingen auch auf
den amerikanischen Hut über, und so kam unser Cylinder —
denn in diese Gestalt hatte sich der Quäckerhut ausgewachsen
— als Symbol der liberalen Ideen, des politischen, literarischen
und sozialen Liberalismus nach Europa.“
.,Xatürlich stiess der Cylinder auf AViderstand, so gut
wie die Revolution und ihre Ideen selber. Bei der Eröffnung
der französischen Nationalversammlung 1789 trug ihn als
politisches Zeichen der sogenannte dritte Stand und mit dem
dritten Stande gelangte er in Frankreich zum schnellen Siege;
freilich erschien er bei den Stutzern der Revolution oft, wie
einst der Hut der Glücksritter des dreissigjährigen Krieges,
in gar grotesker und verwilderter Gestalt, sehr ungleich un-
serem zivilisierten und polierten seidenen Hute, und doch sind
sie beide eines und dasselbe, nur durch den Geist der Zeiten
geschieden. In Deutschland war er Anfangs das Entsetzen
aller eleganten und konservativen Kreise. Der Kurfürst von
Hessen Hess jeden, der mit dem Cylinder getroffen wurde, die
Strasse kehren und der Kaiser von Russland Hess ihn über
die Grenze schaffen.*) Allein trotz dieser politischen Verfol-
*) In der .Times'^ vom 16. Januar 1797 ist zu le.scn, wie es dem-
jenigen ging, der es wagte, zuerst mit einem Zylinder auf dem Kopf die
Strassen von London zu betreten. „John Heiherington, Schnittwirenhändler,
wurde gestern wegen groben Unfugs und Erregung eines Strassenauüauis dem
Lord-Mayor vorgeführt und musste eine Kaution von 500 Pfund Sterling
stellen. Es wurde nachgewdesen, dass Herr Hotherington, ein angesehener
Mann aus guter Familie, auf öffentlicher Strasse erschien, mit einem so-
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gung breitete er sich aus und stieg immer höher in der Gunst,
bis er gegen die Zeit der Restauration hin seinen politischen
Kampf ausgekämpft hatte. Der zweiseitige Hut erschien nur
noch im Salon und in kurzer Zeit gehörte er allein noch der
Uniform, welcher er ja heute noch geblieben ist. Der Cylin-
der nahm auch vom Salon Besitz, wie er einzig auf der
Strasse getragen wurde. “
„Die Alleinherrschaft des Cylinders war nur von kurzer
Dauer. So wie er selber konservativ geworden war, so er-
eilte ihn das gleiche Schicksal welches er dem zweiseitigen be-
reitet hatte. Mit dem Kampfe des modernen Liberalismus
und Constitutionalismus gegen den Absolutismus der Restau-
ration erstand ihm ein neuer, erst politischer und dann so-
zialer Gegner, in dem Carbonarihut, der, von weichem Filz,
bald grau, bald braun oder schwarz, unter dem Einflüsse der
Mode mannigfache Spielformen annahm, stets aber seiner Rolle
treu blieb. Auch er wurde anfangs von der eleganten Welt
mit verächtlichen und argwöhnischen Blicken angesehen, und
noch in den fünfziger Jahren wurden seine Träger mancher
Orten mit Arrest bestraft. Heute hat er diese Staatsgefähr-
lichkeit abgestreift und dem Cylinder einen grossen Teil seines
Gebietes abgerungen, nur den Salon muss er ihm noch lassen,
vielleicht auch nur noch für kurze Zeit.“
„Aus dieser Geschichte des männlichen Hutes, die nur ein
Beispiel für die übrige Kleidung sein sollte, erkennt man
wenigstens, wie sehr das, was auf dem Gebiete der Trachten
sich ereignet, unter dem Einfluss der Weltbegebenheiten steht
und dem Strome der Zeiten zu folgen hat. Notwendig
schrumpft dabei die Laune, der Einfall oder die Erfindung
des Einzelnen zur Unbedeutenheit zusammen, und was wie
Willkür oder wie freier Wille erscheint, das steht unter höhe-
genannten Seidenhut auf dem Kopie, der dem Gericht vorlag. Es ist ein
hohes Gebäude von glänzendem Aussehen, wohl dazu angetan, ängstlichen
Personen Schrecken einzujagen. Tatsächlich ist auch von den Beamten der
Krone testgestellt worden, dass mehrere Frauen in Ohnmacht fielen, Kinder
laut aufschrien, und der Sohn des Ledcrhändlers Thomas von der drängen-
den Menge, die sich ob des merkwürdigen Schauspiels angesammelt hatte, zu
Boden geworfen wurde und den rechten Arm brach.“ M. H.
26G
rom Gesetze und ist der Zwang äusserer Umstände und Be-
gebenheiten."
Wenn heute noch \ielfach namentlich in den Lehrbüchern
der Hygiene behauptet wird, dass Schutzbedürfnis und Scham-
gefühl die eigentlichen Wurzeln der Kleidung sind, so ist es
nach dem gegenwärtigen Stand ethnographischer Forschung
höchst fraglich, ob nicht ganz andere Wurzeln hier viel wirk-
samer sind. Hätte die Kleidung nur den Zweck, den Körper
vor den Unbilden der Witterung zu schützen, so ist nicht
einzusehen, w'eshalb man sich ihrer auch dort bedient, wo die
Wärme der Luft keineswegs eine Verstärkung der Hautdecke
erfordert. Umgekehrt aber haben Reisende die Einwmhner kalter
Himmelsstriche vielfach fast unbekleidet angetroffen, so an der
raagelhaenischen Meerenge. Es w'ürden auch, um den Körper
zu erwärmen, viel einfachere Hülfsmittel der Umwickelung
genügen, als sie tatsächlich überall im Gebrauch sind.
Das müsste auch der Fall sein, w'enn die S c h a m der ur-
sprüngliche Grund der Bekleidung wäre. Wir glauben, dass
der berühmte Ethnologe Karl von den Steinen vollkommen
treffend urteilt, wenn er auf Grund seiner eingehenden Be-
obachtungen unter den Naturvölkern Zentralasiens sagt: „Ich
vermag nicht zu glauben, dass ein Schamgefühl, das den un-
bekleideten Indianern entschieden fehlt, bei anderen Menschen
ein primäres Gefühl sein könne.“ Es ist auch noch sehr
zweifelhaft, ob der nackte, der bekleidete oder halbverhüllte
Körper _schamverletzender“, will sagen; sexuell erregender
wirkt. Warum sollen ein unbedecktes Gesicht, blosse Hände,
ein „ausgeschnittener“ Hals unanstössiger sein, wie nackte
Beine oder andere entblösste Körperpartien? Um hier unter
vielen nur ein Beispiel für die unendlich verschiedenartige Auf-
fassung über Sitte und Sittlichkeit zu geben, erinnere ich an
ein nicht seltenes Vorkommnis in orientalischen Ländern. Dort
verhüllt bekanntlich die Frau vor allen Dingen ihr An-
gesicht durch einen dichten Schleier, der nur für die Augen
einen schmalen Spalt offen lässt. Nur ganz ausnahmsweise
arbeitet sie mit freiem Gesicht, wenn sie glaubt, sich darauf
verlassen zu können, dass kein Mann sie erblicken wird. Ge-
schieht dies aber nun zufällig doch, dann hält sich die Ueber-
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raschte in schamhafter Verwirrtheit schleunigst das fallende
Hemd ihres Leibes vor das Angesicht; das Gefühl, dass da-
durch nun wieder Teile sichtbar werden, deren Anblick bei
uns ganz besonders „die Scham und Sittlichkeit verletzt“, ist
ihr gänzlich fremd. B. Stein berichtet (Geschlechtsleben m
der Türkei, p. 16'2): „In den lebhaftesten Strassen Konstan-
tinopels sah ich tiefverschleierto Frauen stehen bleiben, um
sich ungeniert die Röcke zu heben und sich in der Scham-
gegend zu kratzen.“ Noch viele ähnliche Erfahrungstatsachen
Hessen sich anführen, die zeigen, wie der Begriff der Scham,
die in der Hauptsache ein gesellschaftlicher Factor ist, nach
Ort und Zeit wechselt. Bei allen Völkern aber, selbst bei den
Ureinwohnern der Urwälder, wo von Scham und Schutz keine
Rede sein kann, sehen wir die Neigung den Körper zu
schmücken imd zu zieren, den Trieb, seine natür-
lichen Reize künstlich zu verstärken. Ob sich die Primitiven
Muschelschalen oder die Zivilisierten ein kostbares Perlenhals-
band umhängen, ob jene rohe Metallstücke um Finger, Arme
und Beine legen oder wir goldene Ringe und silberne Arm-
spangen, ob sich ein Volk Stifte, Ringe und Knöpfe durch die
durchbohrte Nase zieht, ein anderes durch durchlöcherte Ohren,
ob die Wilden sich Vogelfedern direkt ins Haar stecken oder die
Modernen noch ein bearbeitetes Stück Stroh oder Filz da-
zwischen legen, ob jene sich einen grösseren Teil der Körper-
oberfläche färben und bemalen, wir nur Gesicht und Haare
schminken, ob die bunten Farbstoffe der Haut unmittelbar
aufgesetzt oder in bunten Tüchern oder zu Kleidern verar-
beitet umgebunden werden, ob asiatische Völker sich nur die
Füsse verkleinern und zusammenzwängen oder europäische mit
Hülfe fischbeingesteifter Korsetts viel wichtigere und edlere
Teile einschnüren und verengern, selbst die Narbenverzierungen
der Südaustralier, und die „Renommierschmisse“ deutscher
Studenten, kommen rein psychologisch ge-
nommen auf dasselbe heraus. Es zeigt sich,
dass wir heute noch wie in uralten Zeiten alle möglichen
Gegenstände aus den drei Naturreichen — von den Pflanzen
Blumen, Blätter und Fasern, die Felle der Tiere mit Haut und
Haar, Metalle und Edelsteine — gebrauchen, um uns so mehr
(jlaiiz und Ansehen zu vovloihoii; es unterliegt keinem Zweifel,
dass auf diesen überall verbreiteten Hang, den Kürper hüb-
scher und reizvoller zu gestalten, sowohl das Kleid an und
für sich (das Wort Kleid im weitesten Siüne gefasst) zurück-
zuführen ist. als auch der Wunsch, die Tracht immer eigen-
artiger. neuartiger, wirkungsvoller erscheinen zu lassen —
die Müde. Diese — wie es neuerdings vorgeschlagen ist*)
— durch eine auf Zweckmassigkeit sich gründende aesthetische
Form ersetzen zu wollen, heisst ihre Gesetze ebenso ver-
kennen. wie diejenigen sich über den natürlichen Fluss leben-
diger Ausdrucksentwicklung täuschen, die von einer Welt-
sprache träumen.
Dass der physiologische Putztrieb, dessen heftigere Grade
man wohl auch als Putzsucht bezeichnet, beim weiblichen Ge-
schlecht im allgemeinen stärker auftritt, wie beim männlichen,
zeigt, dass dieses in höherem Masse, als man gewöhnlich an-
nimmt. trotz anscheinenden Züwartens der werbende Teil
ist. Im übrigen ist die Eigenart der weiblichen Tracht nicht
etwa nur durch den stärkeren Verschönerungs- und Verände-
rungsdrang bedingt, verbunden mit dem unbewussten Streben,
die reizvolle Gegensätzlichkeit der Geschlechter zu erhöhen,
sondern natürlich auch durch anderweitige psychologische und
vor allem morphologische Unterschiede beider Geschlechter.
Ob aber die Eltern gut daran tun, schon lange vor dem
Erscheinen der sekundären Geschlechtscharaktere diese Eigen-
art bei den Kindern zu markieren, erscheint mir sehr fraglich.
Es geschah dies keineswegs immer und überall. Im alten
Hellas beispielsweise trug die Jugend beiderlei Geschlechts bis
zum Feste der Mannbarkeit dieselbe Tracht. Auch bei den
Römern hatten die Kinder eine eigene Kinderkleidung, die sie
von den Frauen und Männern schied. Erst im 15. oder 16.
Jahr legten die Jünglinge die Kindertracht ab und bekamen
feierlich das männliche Gewand — die toga virilis — ange-
legt. Propertius**) sagt: ante deos libera sumpta toga est”
*) Vgl. Aufsatz von Dr. L. Zeitlin : ,Das Ende der Mode* in ..Zukunft'^
vom 9. 10. 09.
••) Sext. Aur. Propertius. LTV. Eleg. 1. v. 13.
2G9
und Seneca*) schreibt an Lucilius: „tenes uticiue memoria.
Quantum senseris gaudium. cum praetcxta po-
sita, sumsisti virilem togam et in forum deductus es; majus
exspecta, cum puerilem deposueris et te in viros philosophia
transscripseris.“ Auch Valerius Maximus**) schildert, wie er-
hebend es war, wenn die römischen Jünglinge auf dem Kapitol
vor den Göttern die männliche Kleidung erhielten und in ihr
auf dem Markte dem Volke vorgestellt wurden. Bei uns kenn-
zeichnet sich der nach der Geburt wichtigste Zeitpunkt des
Lebens in der Kleidung nur dadurch, dass zum Zeichen, dass
sie nun „erwachsen“ sind, die- Knaben „lange Hosen“, die
Mädchen „die ersten langen Kleider“ bekommen. Die unter-
schiedliche Geschlechtstracht legt man ihnen schon viel früher,
oft bereits im dritten Lebensjahre an. Vor einiger Zeit ging
eine Geschichte aus Kindermund durch die Zeitungen, die An-
lass hätte geben können, über dieses Problem nachzudenken.
Ein Landpfarrer tadelte einen etwa fünfjährigen Jungen, als
er ihn auf einem Spaziergange in einem Bache mit kleinen
Mädchen badend fand. Und was erwiderte der treuherzige
Kleine: „ich habe es ja nicht gewusst, Herr Pfarrer, dass es
Mädchen sind, sie hatten ja keine Kleider an.“
Der tiefe Sinn dieser Anekdote findet seine Bestätigung in
einem merkwürdigen Buche, das sich ausschliesslich mit der
Frage der nach Geschlechtern getrennten Kinderkleidung be-
fasst, ein altes Buch vom Jahre 1791, merkwürdig durch seinen
Inhalt — es führt den Titel: „wie der Geschlechtstrieb der
Menschen in Ordnung zu bringen und die Menschen besser
und glücklicher zu machen sind“ — noch merkwürdiger, durch
den gfössen Eifer, mit dem sein Verfa.sser, der „gräflich
Schaumburg-Lippische Hofrat und Leibarzt“ Dr. Bernhard
Christian Faust seine Ideen verficht. Er fordert, dass die
hervorragendsten seiner Zeitgenossen, von denen er unter an-
deren die Herren von Goethe, v. Dalberg, Herder, Hufeland.
Schiller, Wieland namentlich anführt, zu einer Untersuchungs-
kommission zusammentreten sollen, um seine Gedanken und
*) Senecae epistolae IV. in Lucilium.
**) Val. Max. L. 5 cap. 4 titul. 4.
270
Vorschläge zu prüfen. Diese gipfeln in dein Entwurf einer aus-
führlichen „L a n d e s 0 r d n u n g für eine künftige ein-
förmige Kleidung der Kinder, die Deutschlands
grosse, gute und weise Füi-sten als Väter ihrer Völker
mit dem Anfang des neuen Jahrhunderts im Jahre 1800 als
Tipsetz für ihre lieben treuen Untertanen am Altar der Mensch-
heit niederlegen sollen.“ Aus den interessanten Motiven, die
der gelehrte und wohlmeinende Verfasser seinem Gesetzent-
wurfbeifügt, verdienen einige Stellen dem Staube der Vergessen-
heit entrissen zu werden:
.,Da in protestantischen Ländern die gute Ordnung ist,
dass die Knaben im 14. Jahre, die Mädchen früher, meisten-
teils im 13. Jahre, zum heiligen Abendmahl gehen, und in
die Gemeinschaft der Christen aufgenommen werden: so ist
wohl sehr schicklich und gut, dass man diese grosse feierliche
Handlung zum Zeitpunkt annenme, wo die Kinderkleidung
sich endet und eine neue Kleidung (sollte es auch vor der
Hand wider Vermuten die bis jetzt gewöhnliche sein) anfängt.
Bis dahin sollen die Kinder, sowohl männlichen als weib-
lichen Geschlechts ohne den geringsten Unterschied vollkommen
gleich gekleidet sein.
Rousseau sagt: „Nous naissons, pour ainsi dire, en deux
fois: Tune pour exister et l’autre pour le sexe. Jusqu’ ä
Tage nubile les enfans des deux sexes n’ont rien d’apparent,
qui les distingue; meme figure, meme teint, meme voix, tout
est egal; les filles sont des enfans, les gargons sont des
enfans: le meme nom suffit ä des etres si semblables.“*) —
Warum gibt man nun auch den Knaben und Mädchen, die
Kinder und in allem sich so gleich und eigentlich noch ohne
•) Emile T. II. pag. 96, der Zweibrücker Ausgabe von Rousscaus
sämtlichen Werken. — In Cramers Uebersetzung lautet es: „Wir werden
so zu sagen zweimal geboren, einmal zum Dasein und einmal zum Leben;
das eine Mal für die Gattung, das andere Mal für das Geschlecht. Bis zu
dem mannbaren Älter haben die Kinder nichts, was sie scheinbar unter-
scheidet; sie haben einerlei Gesicht, einerlei Farbe, einerlei Stimme. Alles
ist gleich. Die Mädchen sind Kinder, die Knaben sind Kinder, einerlei Name
reicht für so gleiche Wesen zu.“ — „Emil“ übersetat von Gramer, herausge-
geben von Campe 2. T. S. 216.
Geschlecht sind, nicht auch einerlei Kleidung? Weil Vorurteil
bis jetzt in der Kindheit des Menschengeschlechts, das ge-
wöhnliche Loos der Menschen ist; weil die Menschen die Na-
tur, in der Alles recht ist, nicht respektieren, sondern sie
immer bessern und hofmeistern wollen; und da kamen sie
denn auf die Meinung, die Kinder, trotz der Natur, nach dem
Geschlechte, wo aber wirklich noch kein Geschlecht ist, in
Knaben und Mädchen durch eine auffallend verschiedene Klei-
dung zu unterscheiden und von einander abzuteilen. Der ehr-
würdige Charakter der Kinder ist Unschuld, Arglosigkeit,
Einfalt imd Unwissenheit; Geschlecht und Geschlechtsempfin-
dungen liegen tot in den Kindern, und noch viel weniger
wissen sie von einem Unterschied der Geschlechter; warum
macht man nun, durch eine ganz wesentlich verschiedene
Kleidung der Knaben und Mädchen, die Kinder aufmerksam
auf den Unterschied der Geschlechter; macht sie nicht allein
aufmerksam darauf, sondern teilt ihnen auch wirklich einen
mehr oder weniger dunklen Begriff davon mit, und raubt ihnen
dadurch ihre göttliche Unschuld und heilige Unwissenheit, die
Frieden und Glück über ihre Kindheit verbreiteten, und macht
sie arg und böse. — Keine Gründe, weder wahre noch schein-
bare, lassen sich dafür anführen; und sicher und gewiss liegt
in der ganz verschiedenen Kleidertracht der Kinder nach den
Geschlechtern, eine der grössten Hauptursachen des Verder-
bens der Menschheit. Denn, diese Bemerkung ist wahr, 1. hat
der Älensch von innen, durch die Natur, Geschlecht und Ge-
schlechtsempfindungen, so tut es nichts, wenn er nicht den
Unterschied der Geschlechter kennt;*) und von Natur und
durch sich selbst kennt er keinen Geschlechtsunterschied. —
2. Haben bei dem Kinde Geschlecht und Geschlcchts-
empfindungen sich noch nicht entwickelt: es lernt aber den
Unterschied der Geschlechter kennen; so werden dadurch Gc-
*) Man kann dann von diesen Kindern sagen, was Rousseau von
seinem Emil sagt: ,Comme un somnambule errant durant son sommeil,
marehe cn dormant sur le bord d’un precipice dans lequel il tomberoit, s’il
dtoit eveille (tout ä coup) ainsi mon Emile, dans le sommeil de l’igno
rance wbappe ä des perils, qu’il n’apperqoit.“ T. III. p. 124.
•schlecht und Gogchlechtsempfindungeu bei ihm erweckt, es
reift früh, verdirbt, und fällt auf Selbstbefleckung.''
..Viele worden mit einem Scheine von Weisheit besorgen,
dass, wenn man nicht die kleinen Menschen, die in der Zu-
kunft männlichen und weiblichen Geschlechts sein werden,
schon in der frühen Kindheit nach ihren künftigen Geschlech-
tern vorsichtigerweise von einander abteilc, wenn sich ihr
Geschlecht entwickelt, nicht genug Männer und Frauen sein
würden. Diese scheinheilige Sorge greift in Gottes w'eise Vor-
sicht ein und ist töricht. Vielmehr; indem man die kleinen
Menschen von einander teilt und abstösst, wird die schuldlose
Kindheit und die friedliche Republik der kleinen Menschen zer-
rüttet; Unschuld, Scherz und Spiel, unter dem heiligen Schilde
der Kindheit, gehen verloren; die kleinen guten Menschen, die
in der Kindheit, am Morgen des Lebens, durch Unschuld.
Spiel und Liebe natürlich an einander gezogen, mit einander
sich abschleifen, ähnlich und gleichgestimmt w^erden, sich ver-
stehen, vertragen und lieben lernen, und den Grund zu Ver-
träglichkeit und Eintracht, zu Freundschaft und Liebe für
ihr männliches Alter und den Abend ihres Lebens legen
sollten, werden feindselig von einander getrennt, Zwietracht
und Hass wird zwischen die Kinder gelegt; der Knabe schliesst
sich an den Mann, das Mädchen an die Frau; und diese,
die künftig das Menschengeschlecht regieren, werden ganz
Meinung, Nerven und Phantasie. — Es fehlen mir Worte, und
ich bin zu ungeübt in Entwicklung und wirklicher Darstellung
meiner Gefühle und Gedanken, sonst wollte ich sonnenklar
zeigen, dass die Abteilung der kleinen IMenschen nach ihren
künftigen Geschlechtern die Kindheit zerrütte und die Mensch-
heit verderbe. — Indem man die Menschen in ihrem kindlichen
Alter zu Männern und zu Frauen macht, sind sie im männ-
lichen Alter weder Männer noch Frauen, sondern unselige
Mittelgeschöpfe zwischen Mann und Kind, verdorben in der
Kindheit an Körper und Seele. Nimmer, nimmer werden die
Menschen Menschen v/erden, wenn sie in der schuldlosen Kind-
heit nicht Kinder waren!“
Für besonders verhängnisvoll erachtet Dr. Faust die
Hosen der Knaben. Unter vielen Gründen, die er gegen sie
geltend macht, weist er nicht unzutreffend darauf hin, dass
man vielfach sieht, wie den Jungen, wenn sie harnen wollen,
das kleine Membrum, weil sie es selbst noch nicht richtig be-
werkstelligen können, von „Kindern, Alägden und Knechten"
aus den Hosen gezerrt wird, wodurch sie sich gewöhnen, die
Teile zu berühren und leicht zu onanistischen l\Ianipulationen
veranlasst werden. Vor allen Dingen aber meint unser Autor,
dass durch die Ilosentracht das Sperma allzu frühzeitig, oft
schon im 12. statt im 16. Jahre reife und zwar dadurch, dass
die testes, anstatt „dem wohltätigen Einfluss der Luft aus-
gesetzt, frei, kühl und ungedrückt zu sein, im warmen
Dunstboden der Hosen wie in einem Treibhause 8 bis 10 Jahre
lang täglich viele Stunden gewärmt und gebrütet, gedrückt
und gereizt würden'“. Infolgedessen „höre das Kind, ehe sein
Körper und seine Seele reif sei, viel zu früh auf, Kind zu sein.“
Es lässt sich nicht leugnen, dass den Ansichten von
B. Ch. Faust, mögen sie im einzelnen, beispielsweise auch im
letzterwähnten Punkte übertrieben sein, ein gesunder Kern
innewohnt, dass seiner Forderung nach einer geschlechtlich in-
differenzierten Kindertracht eine gewisse Berechtigung nicht
abzusprechen ist. Nur darf man nicht glauben, dass nicht
ganz unabhängig von ihrer Kleidung bei vielen Kindern schon
lange vor der Pubertät ein männliches oder weibliches Seelen-
leben freilich ohne sexuellen Hintergrund mehr oder weniger
deutlich zu Tage tritt. Nicht immer findet sich — und das
ist ein für die Erziehung und Zukunft des betreffenden In-
dividuums bedeutsames Moment — die knabenhafte Psyche
bei männlichen, die mädchenhafte bei weiblichen Kindern. Oft
ist es gerade umgekehrt. Auch unsere obige Casuistik belegt
diese Erfahrung nach verschiedenen Richtungen. Wenn wir
— um das uns hier nächstliegende Beispiel anzuführen —
von Kindern hörten, deren naiver Instinkt sich auflehnte
und sträubte, als man ihnen die ersten Hosen anziehen wollte,
so kann es nach allen unseren Darlegungen keinem Zweifel
mehr unterliegen, dass sich hier bereits feminine Regungen
manifestierten, die der virilen Kleidung spontan widerstrebten,
weil sie sie als etwas ihrer individuellen Psyche nicht ent-
sprechendes, fremdartiges, refraetäres fühlten. Wir sahen, wie
H i r s c h I e 1 d , Die Transvestiten. 18
in allen unseren Fällen diese Antipathie gegen das männliche
Gekleidetsein und als Revers davon die Sympathie für die
weibliche Umkleidung der eigenen Persönlichkeit zur Zeit der
Geschlechtsreife ungemein zunahm und sich dann immer ent-
schiedener in Handlungen umzusetzen strebte. Vergegen-
wärtigen wir uns noch einmal den ganzen Komplex der trans-
vestltischen Neigungen und erwägen dann, inwieweit wir
das Wesen der Kleidung als Symbol, als unbewusste Pro-
jektion der Seele erkannten, so dürfte es klar sein, dass in
der Psyche dieser Männer ein weiblicher Einschlag — und bei
den weiblichen Pendants ein männlicher — vorhanden ist, der
nach äusserer Projektion drängt. Diese alterosexuelle Quote
muss recht beträchtlich sein, da sie, wie wir erfuhren, sehr
erhebliche Widerstände und Hemmungen, unter denen der Kon-
trast zwischen Körper und Seele nicht der geringste ist, zu
überwinden sucht und überwindet. In wie ausgesprochenem
Masse hier wirklich eine Lockerung und Spaltung der von
Hause aus bisexuellen Persönlichkeit vorliegt, bringt besonders
anschaulich unser Fall III zum Ausdruck, wenn er von dem
„Herumflüchten des weiblichen Elements in seinem Ich“ spricht.
Er bezeichnet „die Sucht nach dem Frauengewand, vielmehr
nach dem absoluten Aeusseren der Frau als das Hineinw'ollen
seines weiblichen Teils in entsprechende Formen“ und fährt
dann fort: „wenn ich dann alles vom Manne von mir werfe
und das w'eibliche Aeussere anziehe, kann ich fast physisch
wahrnehmen, wie das Falsche. Gewalttätige aus mir heraus-
flüchtet und sich wie ein Nebel verteilt.“ In diesen Sätzen
spiegelt sich, wenn auch nicht in wissenschaftlicher Ausdrucks-
weise, so doch sehr deutlich und durchaus zutreffend das
Wesen der Erscheinung als ein Freiwerden der für gewöhnlich
im Mann gebundenen Feminität. Wir haben es hier mit einer
besonderen Form der seelischen Doppelgeschlechtlichkeit,
mit einem Phänomen zu tun, das einen selbständigen Typus dar-
steilt in der Reihe der sowohl aetiologisch als charakterolo-
gisch verwandten Vermischungen männlicher und weiblicher
Eigenschaften, wie wir sie unter dem zusammenfassenden Namen
der sexuellen Zwischenstufen auf morphologischem und psy-
chologischem Gebiet bereits vielfach kennen gelernt haben. Da
diese Z wischenstuf entheorie'". deren Aufstellung und Durch-
arbeitung ich für eine wertvolle Errungenschaft der
modernen Biologie und Seelenkunde halte, noch vielfach
grossem Unverständnis und irrtümlicher Auffassung begegnet,
sei es mir gestattet, sie an dieser Stelle noch einmal möglichst
klar auseinanderzulegen.
Die Zwischenstufentheorie.
Zunächst ist zu betonen, dass es sich bei der Lehre
von den sexuellen Zwischenstufen zunächst
garnicht um eine Theorie, sondern nur um ein Ein-
teilungsprinzip handelt.
Wir verstehen unter sexuellen Zwischen-
stufen männlich geartete Frauen und weiblich geartete
Männer in allen möglichen Abstufungen oder mit anderen
Worten: Männer mit weiblichen und Frauen
mit männlichen Einschlägen.
Wenn also eine Frau einen Vollbart oder ein Mann eine
milchgebende weibliche Brustdrüse hat, so registrieren
wir solche Personen, die so offenkundige Zeichen des anderen
Geschlechts aufweisen, unter die sexuellen Mischformen oder
Zwischenstufen. Aber nicht nur so krasse Fälle begreifen wir
darunter, sondern auch alle sonstigen und ihre Zahl ist nicht
gering, die in körperlicher oder geistiger Hinsicht zwischen
einem vollkommen männlichen Mann und einer i n
jeder Beziehung weiblichen Frau stehen.
Die Voraussetzung dieses Einteilungsprinzips ist dem-
nach eine genaue Erklärung dessen, was männlich und weib-
lich ist, und hierin liegt die Hauptschwierigkeit und Strittig-
keit, zumal es neben rein männlichen und weiblichen Eigen-
schaften auch solche gibt, die weder männlich noch weib-
lich oder richtiger ausgedrückt, sowohl männlich als
weiblich sind. Dass diese letzteren aber keine völlige Gleich-
heit der Geschlechter bedingen, steht ausser aller Frage;
die Geschlechter mögen gleichwertig und gleichberechtigt sein,
18*
27(5
gleichartig eiiul sic zwoit'ellos nicht. Was aber ist
weiblich, was männlich?
\Veil)lich ist zunächst tlie weibliche Keimzelle, das Ei,
sodann die Drüse, in welcher das Ei bereitet wird, der Eicr-
stock, ferner die sich anschliessenden Wege und Werkzeuge,
in denen die Eizelle aufbewahrt, befruchtet und bebrütet oder
durch die es, falls keine Verbindung mit einer männlichen
Keimzelle stattgefunden hat, periodisch wieder ausgeschieden
wird; diese Behälter sind: Tube, Uterus, Vagina und Vulva
(Eileiter, Gebärmutter, Scheide und Scham) mit allem Zubehör.
Dem Bau und der Aufgabe dieser Gebilde entsprechend ist
das weibliche Becken, in dem diese Organe grösstenteils ge-
lagert sind, vom männlichen Becken etwas abweichend in
Grösse und Form. Dadurch ist die Hüftgegend stärker und die
Stellung der vom Becken abgehenden Beine ein wenig anders
wie beim Manne. Alle diese Organe befinden sich ungefähr
bis zum 14. Lebensjahr, dem Zeitpunkt der Reife des Eis,
in einem gewissen Ruhezustand. In diesem Alter aber treten
zwei weitere weibliche Eigentümlichkeiten a\if, die mit der
von nun ab möglichen Ernährung der Frucht in engstem Zu-
sammenhänge stehen; die Menstruation — durch die zugleich
mit dem unbefruchteten Ei ein fürsorglich bereitetes Schleim-
hautnest abgestossen wird — sowie das "Wachstum der Brust-
drüse. Diese bewirkt, dass jetzt auch der Oberkörper der
Frau viel voller wird, sodass die ganze Figur dm'ch die
grössere Fülle des oberen und unteren Rumpfabschnittes, die
durch die schmalere „Taille“ voneinander getrennt sind, ein
von der Mannesgestalt erheblich abweichendes Aussehen er-
hält.
Die stärkeren Hervorwölbungen gehen in sanften Linien
in die benachbarten Körperpartieen über; diese Abrundung
geschieht durch reichlichere Ablagerung von Fettgewebe. Die
sich darüber spannende Haut ist zarter, feiner und
glatter als die männliche. Auch ihr Anhangsgebilde, vor
allem die Haare, sind dünner und weicher, nur ist das
Kopfhaar wesentlich länger, während die Körperbehaarung
nur schwach ist und die pubes eine charakteristische dem mons
veneris entsprechende V Bildung zeigen.
In Uebereinstimmung mit ihrem Körperbau, der der
Empfängnis, der Aufbewahrung und Ernährung dos Kindes
so vortrefflich angepasst erscheint, ist auch im Geschlechts-
leben die Frau der empfangende, aufnehmende, succumbierende
und mehr passive Teil, welcher dem Manne als zeugenden,
inkumbierenden, mehr aktiven Partner entgegenstrebt. Seine
Aufmerksamkeit und Neigung sucht sie durch stärkere Her-
vorhebung und Erhöhung ihrer Reize zu gewinnen. Wohlge-
merkt gilt aber dies nur vom „absoluten“ Weibtypus, als
Ausgangspunkt unserer Betrachtungen, von dessen Häufigkeit
oder Seltenheit nachher noch einiges zu sagen sein wird.
Der Aufziehung und Erziehung der Kinder widmet die Frau
sich auch über Schwangerschaft, Geburt und Laktation hin-
aus in höherem Grade als der Mann; daher fällt auch die
stille, häusliche Tätigkeit, die Bewirtschaftung des „Nestes“
der Familie mehr in ihr Bereich. Aber nicht nur im Liebes-
ieben, auch im sonstigen Geistesleben ist die Frau empfäng-
licher, eindrucksfähiger, empfindsamer, gemütvoller, unmittel-
barer als der Mann, während ihr die streng abstrakte,
grübelnde oder auch rein schöpferisch tätige Seite der mensch-
lichen Psyche weniger liegt. Doch genügt ihre Produktions-
fähigkeit vollkommen für die verhältnismässig einfachen,
leicht erlernbaren Obliegenheiten fast aller gegenwärtigen
Berufe, einschliesslich derjenigen, die man gewöhnlich als
männliche bezeichnet. Dagegen steht der Beweis noch aus
und ist es sehr fraglich, ob ihre Begabung für die Höchst-
leistungen der Kultur, die Schaffung auserlesener Meister-
werke in Technik, Kunst und Wissenschaft, ausreichend ist.
Wenn manche Vertreterinnen der Frauenbewegung, wie schon
in früheren Zeiten, so in der Gegenwart behaupten, der
Mangel an genialischen Leistungen und epochalen Schöpfungen
käme daher, weil den Frauen zu ungestörter Entfaltung ihrer
Entwickelungsmöglichkeiten bisher keine Gelegenheit gegeben
sei, so bin ich mit dem Leipziger Naturforscher Wilhelm
üstwald*) und anderen der Meinung, dass „die systematische
*) Ostwald vertritt diese Anschauung in seinem Werke „Grosse
Männer“.
‘278
Unterdrückung von Seiten der Miiimer“ hier nicht sowohl in
Betracht kommt, als vielmehr die natürliche Beschaffenheit
der Frauen an und für sich. Goethe wäre auch ohne Abi-
turientenexamen Goetlie geworden. Immerhin ist zuzugeben,
dass wir das Mass geistiger Leistungsfähigkeit beim Weibe
nach Quantität und Qualität exakt abzuschätzen bisher
noch nicht recht in der Lage sind, dass es sicherlich
durch Uebung noch wesentlich gehoben werden kann,
und dass es völlig unrichtig ist, wenn Weininger
und andere „Antifeministen“ sich dahin äussern, „dass
niemals ein wirkliches Weib die Forderung der Frauen-
emanzipation erhebe, sondern dass dies durchweg nur männ-
lichere Frauen tun, die ihre eigene Natur missdeuten und
die Motive ihres Handelns nicht einsehen, wenn sie im Namen
des Weibes zu sprechen glauben“. (Weininger: Geschlecht
und Charakter, Seite 89.)
Gehen wir nun zu der Begriffsbestimmung des Wortes
„männlich“ über. Männlich sind zuvörderst die männlichen
Keimzellen, die Spermie (der Samen); sowie die Drüsen, welche
den Samen bereiten, die Testes (Hoden), ferner die von diesen
ausgehenden Gänge und Kanäle, deren Wandungen einen
Saft, eine „Zwischenflüssigkeit“ absondern, durch welche die
vSarnenzellen nach aussen geleitet werden: die ductus ejacula-
torri mit ihren kleinen Ausbuchtungen und Anhängen, wie
den Samenampullen und der Vorsteherdrüse (Prostata); männ-
lich sind die zum grössten Teil ausserhalb des Beckens ge-
legenen Umhüllungen dieser Gänge: das Scrotum und das
membrum virile. Auch beim Manne treten wie bei der Frau
mit dem Reifen der Keimzellen weitere Geschlechtseigentüm-
lichkeiten, die sogenannten sekundären Geschlechtscharaktere
auf; sie stehen aber nicht in so naher Beziehung mit der
Fortpflanzung wie die Menstruation und Brustdrüsenentwicke-
lung, sind vielmehr nur Veränderungen und Verstärkungen
allgemeiner Körpereigenschaften: die Stimme wird tiefer und
die Haut rauher, indem einerseits die Stimmbänder länger
und breiter werden, den Kehlkopf etwas nach aussen vor-
drängend („Adamsapfel“), andererseits die Haut sich behaart,
besonders reichlich im Gesicht und auf der Brust; auch die
279
pubes zeigen eine von der weiblichen abweichende, mehr
rautenförmig nach dem Nabel zu sich verlängernde
Bildung. Da die Fettpolsterung in der Brust- und Hüft-
partie in Wegfall kommt, überhaupt die allgemeine Fett-
ablagerung wohl auch infolge der grösseren Aktivität eine
geringere ist, erscheinen die männlichen Körperlinien nicht
so weich und rund wie bei der Frau, vielmehr treten die
ohnehin stärkeren Knochen und Muskeln merklicher hervor.
Ein sehr bedeutsamer Unterschied ist ferner der, dass die
Ausstossung der Keimzellen nicht wie bei der Frau perio-
disch und unwillkürlich erfolgt, sondern viel unregelmässiger,
bewusster und reichlicher vor sich geht. Im Geschlechtsleben
ist e r infolge davon mehr der aktive, aggressive, aufsuchende,
inkumbierende, abgebende Teil. Der erste Verkehr bewirkt
auch keine der weiblichen Defloration entsprechende Ver-
änderung. Der ganzen Sexualsphäre somit unabhängiger
gegenüberstehend ist ihm von Natur mehr Spielraum gegeben,
die sonstigen Körper- und Geisteskräfte zu entwickeln, und
erscheint er auf beiden Gebieten daher als der vermögendere,
regsamere, unternehmendere, unstetere, differenziertere Mensch
— auch hier ist immer nur vom absoluten Mannestyp die
Rede — während ihm körperlich und geistig das Zierliche,
Zarte, Anmutige, Schmiegsame des Weibes mehr mangelt.
Mit diesen Unterschieden, die allerdings die hauptsäch-
lichsten sind, ist die Besonderheit männlicher und weiblicher
Eigenart noch immer nicht völlig erschöpft. Würden wir jeden
einzelnen Teil des menschlichen Körpers in Bau und Aufgabe
durchgehen, so würde sich überall eine wenn auch noch so
geringe Verschiedenheit in der durchschnittlichen Beschaffen-
heit der Geschlechter nachweisen lassen, die freilich in allen
Fällen nur auf ein kleines plus oder minv hinausläuft. So
beträgt — um ein beliebiges Beispiel herauszugreifen — die
mittlere Grösse des Mannes (in Deutschland) 167, die des
AVeibes 156 cm. Die Länge des Rumpfes ist bei den Frauen
im Verhältnis zu den Beinen grösser wie bei den Männern,
während bei letzteren die Rumpflänge etwa 35.9% der Körper-
länge beträgt, beläuft sie sich beim Weibe durchschnittlich
280
\i\ii 37.8% der Körpergröese (nach Haidcy, Quctelet). In-
folgedessen erscheinen die Frauen beim Sitzen grosser
als gleich grosso Männer und machen einen viel
kleineren Eindruck in Männer- als in Frauenkleidern, was
allerdings auch daher kommt, dass das Gewand ihres Unter-
körpers im Gegensatz zu dem männlichen Beinkleid gleich-
massig bis zur Taille heraufreicht, sodass die relative Kürze
der Beine unsichtbar bleibt. Der Mann hat durchschnittlich
(nach Bischoff) 41,8% Muskelgewebe und 18,2% Fettgewebe, die
Frau dagegen nur 35,8% Muskel-, dafür aber 28,2% Fett-
gewebe. Die Kraft der Frauenhand erweist sich mit dem
Dynamometer gemessen etwa ein Drittel kleiner als- die des
Mannes; er kann etwa das Doppelte seines Ge-wdehtes tragen,
die Frau ungefähr die Hälfte des ihrigen. Im Blute finden
wir beim Mann auf 1 Gramm 5 Millionen, bei der Frau
4—4% Millionen roter Blutkörperchen, der Gehalt an Blut-
farbestoff beträgt beim ^lanne 14,5%, bei der Frau 13,2%,
das männliche Herz schlägt durchschnittlich 72 Mal, das
weibliche 80 Mal in der Minute. Es würde zu weit führen
und auch hier für den Z-vv^eck unserer Darlegung ohne Be-
deutung sein, wollten wir hier jedes Stück des Körpers für
sich besprechen. Wenn ich bereits vor Jahren in meinen
., Geschlechtsübergängen ‘‘ den hypothetischen Schluss zog,
dass sich der geschlechtliche Durchschnittscharakter höchst
wahrscheinlich wohl bis auf jede einzelne Körperzelle als
die Bausteine des ganzen Organismus erstrecken würde, so
haben die scharfsinnigen Forschungen, w'elche in neuerer Zeit
Wilson, Rabl, Boveri, van Beneden und andere über die In-
dividualität der Zelle angestellt haben, diese Annahme voll-
auf bestätigt. Diese Forscher nehmen auf Grund ihrer mit
den feinsten Beobachtungsmitteln angestellten mikroskopischen
Studien an, dass es Spermien (Samenzellen) von männlichem
und -weiblichem Charakter gibt und höchst wahrscheinlich
auch männliche und weibliche Eizellen. Die Geschlechter
unterscheiden sich morphologisch voneinander durch eine
verschiedene Zahl der Chromosomenkörperchen. Dieser Chro-
mosomenbestand ist auch bei der befruchteten Eizelle, aus
der ein Weibchen wird, ein anderer wie bei der, aus welcher
281
sich ein Männchen entwickelt. Dementsprechend findet sich
auch bei den Tochtcrzellen, welche durch unaufhörliche
Zweiteilung der Chromosomen aus der einen Ur- oder Mutter-
zelle hervorgehen, um schliesslich den ganzen Organismus als
höhere Einheit aui'zubauen. je nach ihrer Geschlechtszu-
gehörigkeit ein verschieden starker Chromatingehalt. Es be-
darf wohl kaum der Erwähnung, dass, wenn auch die Ei-
zellen und Samenzellen .schon vor ihrer Vereinigung eine
männliche oder weibliche Vorbedeutung haben, in den Chro-
mosomenkörperchen selbst die männliche und weibliche Sub-
stanz gemischt enthalten ist; stammen sie doch immer wieder
von Urzellen ab, die beide Substanzen in sich vereinigten.
Das geht auch daraus hervor, dass die Väter durch
die männlichen Keimzellen Eigenschaften ihrer eigenen
Mütter, die Mütter durch die w'eibliche Eizelle Eigentümlich-
keiten ihrer Väter auf die Nachkommen, gleichviel ob diese
männlich oder weiblich sind, vererben.
Kehren wir jedoch aus dem Bereich des mikroskopischen
in das makroskopische, von den zwar viel versprechenden
aber noch keineswegs abgeschlossenen Beobachtungen der
Zellenforscher zu den Ueberlegungen zurück, wie sie aus
jedermann zugänglichen Tatsachen gezogen werden müssen,
so wollen wir, um das w'eitere zu vereinfachen, das Bisherige
dahin zusammenfassen, dass wir die Unterschiede der Ge-
schlechter in vier deutlich voneinander abgrenzbare Gruppen
teilen; sie betreffen, wie wir sehen;
I. die Geschlechtsorgane,
II. die sonstigen körperlichen Eigenschaften,
III. den Geschlechtstrieb,
IV. die sonstigen seelischen Eigenschaften.
Ein vollkommen weibliches, „absolutes“ Weib wäre
demnach ein solches, das nicht nur Eizellen produziert, son-
dern auch in jeder anderen Beziehung dem weiblichen Typus
entspräche, ein „absoluter“ Mann ein solcher, der
Samenzellen bildet, zugleich aber auch in allen übrigen
Stücken den männlichen Durchschnittstypus aufweist. Der-
artig absolute Vertreter ihres Geschlechts sind aber zu-
nächst nur Abstraktionen, konstruierte Extreme, in Wirk-
lichkeit sind sie bisher nicht beobachtet, vielmehr hat man
bei jedem Manne wenn auch noch so geringfügige Anzeichen
seiner Abstammung vom Weibe, bei jedem Weibe ent-
sprechende Reste männlicher Herkunft nachweisen können.
Nehmen wir jedoch selbst an, dass l\Ienschen existierten, die,
um es zahlenmässig auszudrücken, zu 100 Prozent männlich
wären oder einen ebenso hohen weiblichen Gehalt besässen,
so steht es doch ausser aller Frage, und auch hier befinden
wir uns immer noch auf dem Gebiet einfacher Erfahrungs-
tatsachen, dass sehr vielfach Personen Vorkommen, die, trotz-
dem sie Eizellen tragen, Eigenschaften aufweisen, die im
allgemeinen dem männlichen Geschlecht zukömmlich sind,
und dass es andererseits Menschen gibt, die Samenzellen ab-
sondorn, gleichwohl aber weibliche Eigentümlichkeiten erkennen
lassen. Da wir im Sprachgebrauch gewöhnlich die Besitzer
von Eizellen schlankweg als Frauen, die Träger von Samen-
zellen einfach als Männer bezeichnen, gibt es also Frauen
mit männlichen. Männer mit weiblichen Einschlägen, und
diese Mischformen sind es eben, die unter den Ausdruck „sexu-
elle Zwischenstufen“ gefasst werden. Wir können sie, wie
die Geschlechtsunterschiede selbst, am übersichtlichsten nach
den vier angeführten Gesichtspunkten ordnen.
In die erste Gruppe der Zwischenstufen gehören demnach
solche, die auf dem Gebiet der Geschlechtsorgane liegen,
die Zwitterbildungen im engeren Sinn, die soge-
nannten „Scheinzwdtter". Männer, die durch weibliche
Spaltbildungen an den Genitalien, Frauen, die durch ein ge-
steigertes Wachstum dieser Organe schon oft genug bei der
Geburt zu Irrtümern in der Geschlechtsbestimmung Anlass
gaben. Franz von Neugebauer hat in seinem klassischen
Handbuch*) über den „Hermaphroditismns beim Menschen",
dem Ergebnis fünfzehnjähriger Sammelforschung, die hier
vorkommenden Abstufungen und Kombinationen mit vorbild-
lichem Fleiss und grösstem Verständnis gesammelt und von
den verschiedensten Gesichtspunkten aus kritisch gesichtet.
*) Franz Ludwig von Xeugebauer, Vorstand der gynäkologischen Ab-
teilung des Evangelischen Hospitals zu Warschau; Hermaphroditismus beim
Menschen. Verlag von Dr. Werner Klinkhardt, Leipzig 1908.
283
Die zweite Rubrik der sexuellen Zwischenstufen bezieht
sich auf körperliche Eigenschaften ausserhalb der Geschlechts-
organe. Hier finden wir Männer mit weiblichem ßrust-
drüsengewebe (Gynäkomasten) und Frauen ohne solches (An-
dromastie, auch das Wort A-mazou-e bedeutet Brustlose);
Frauen mit männlicher Behaarung, etwa männlichem Bart
oder männlichen pubes (feminae barbatae, Androtrichie) und
Männer mit weiblichem Haartypus, wie weiblichen pubes, Bart-
losigkeit usw. Frauen mit männlichem Kehlkopf und Organ
(Androglottie) und Männer mit weiblich geformten Stimm-
bändern und weiblicher Stimmbildung (Gynäkoglottie), Männer
mit weiblichem Becken (Gynosptivsie) und Frauen mit Männer-
becken*) (Androsphysie), Männer mit weiblichem Knochen-
und Muskelbau und Frauen mit männlichem Skelett und
männlicher Muskulatur, von männlicher Grösse und Figur,
Männer mit weiblichen, Frauen mit männlichen Bewegungen,**)
Männer mit dem zarten Teint der Frau, und Frauen mit der
derberen Haut des Mannes, Frauen, die für Handschuhe und
Fussbekleidung „Herrennummern“ und Männer, die „Damen-
nummern“ tragen müssen: kurzurn, welchen Teil des Körpers
wir auch herausgreifen mögen, stets werden wir in nicht zu
*) Der berühmte Berliner Anatom Waldeyer (vgl. „Das Becken, topo-
graphisch-anatomisch usw.“ Teil II. Bonn 1899. S. 393) sagt bezüglich dieses
Organs, bei dem man a priori doch gewiss eine strenge geschlechtliche Diffe-
renzierung voraussetzen sollte: „Wir finden auch Weiherbecken vom Habitus
der Männerbecken. Die Knochen sind massiver, die Darmbeine stehen steil,
die Schambogen sind eng, die Beckenhöhle hat eine Trichterform. Meist haben
die betreffenden Frauen auch in ihrem übrigen Körperhabitus etwas Männ-
liches (Viragines), doch braucht dies nicht immer der Fall zu sein.“
**) Die graziös schwebenden Bewegungen weiblicher Männer und das
gravitätische Einherschreiten männlicher Frauen gab schon den antiken
Schriftstellern zu meist spöttischen Bemerkungen Anlass; so berichtet bei-
spielsweise der Historiker Dio Cassius in seiner römischen Geschichte Buch 79
Kap. 16 folgendes; „Als der schöne Athlet Aurelius Zoticus in den Palast
trat und den Kaiser Antonius Heliogabalus wie üblich mit den Worten;
„„Sei gegrüsst Kaiser und Herr““ salutierte, bewegte dieser den Nacken
seltsam wie ein Mädchen, drehte kokett die Augen und sprach; „Nenne mich
doch nicht Herr, Deine Herrin bin ich““; er sank dem .\urelius an die
Brust und nahm an seinem Busen ruhend wie eine Geliebte t*c
Iquofjirt]) das Mahl.“
•281
seltenen Fällen männliche Durchschnittsformen bei Frauen,
weibliche hei Männern wahrnehmen können.
Zn der dritten Abteilung sexueller Zwischenstufen, den
hinsichtlich ihres Geschlechtstriebes abweichenden Personen,
rechnen wir Männer, die Frauen gegenüber mehr zu einem
sexuellen Verkehr nach Frauenart, beispielsweise zur Sucemn-
bierung neigen, die aggressive Weiber, sowie masochistische*)
Betätigungsformen lieben. Diesen entsprechen unter den
Frauen solche, die zur Incumbierung neigen, sexuell sehr
aggressiv sind (von Prostituierten, wo hierfür ganz andere
Ursachen in Betracht kommen, ist hier natürlich ab-
zusehen) sowie solche, die sadistische Regungen zeigen. In be-
zug auf die Richtung des Geschlechtstriebes deutet es bei
einem Manne auf Feminität, wenn er sich zu Frauen von
männlichem Aussehen und Charakter, zu sogenannten „ener-
gischen Frauen", manchmal sogar homosexuellen, hingezogen
fühlt, auch zu männlich gekleideten sowie zu solchen, die
wesentlich gereifter, intellektueller, älter als er selbst, sind.
Bei der Frau hinwiederum verrät sich die männliche Bei-
mischung in einer Vorliebe für weiblich geartete Männer, sehr
anlehnungsbedürftige, sehr jugendliche, ungewöhnlich zartbe-
saitete Männer, überhaupt für solche, die in ihren Zügen,
im Benehmen und Charakter mehr dem femininen Typus ent-
sprechen.**) Endlich gehören auch in diese Kategorie der
*) D:i der körperliche und seelische Sexual-Passivismus, den wir nach
Krafft-Ebing .Masochismus nennen, wie dieser Autor sehr richtig betont luit,
eine ,.\usartung spezifisch weiblicher psychischer Eigentümlichkeiten'" ist, so
ist sein Auftreten bei einem Manne zweifellos ein stark femininer Zug, der
nach meiner Erfahrung übrigens auch häufig mit anderweitigen Zeichen der
Feminität vergesellschaftet ist. Da umgekehrt der Sadismus — um mit
Krafft-Ebing zu reden — „eine pathologische Steigerung männlicher psychi-
scher Geschlechtscharaktere" darstellt, so sind sadistisch veranlagte Frauen
männliche Frauen. Demnach zählen wir den Masochismus beim Manne, den
Sadismus der Frau zu den in das Gebiet der sexuellen Zwischenstufen ge-
hörigen Erscheinungen, während unseres Erachtens der Sadismus beim Manne
und der Masochismus der Frau lediglich .Auswüchse (Hypertrophieen) von
Instinkten sind, die in dem Geschlechtstrieb wurzeln, der dem Geschlecht
des Betrefienden entspricht.
**) Schon Juvenal ^Satyre VI) und Martial 67) berichten von
Frauen, die nur „schüchterne Eunuchen mit bartlosen Gesichtern“ lieben können.
285
Zwischenstufen Frauen, die nicht nur weiblich geartete Männer
sondern auch männlich geartete Frauen lieben (Bisexuelle)
oder auch nur letztere allein oder sogar ganz nach Art
..richtiger" Alänner Frauen von durchaus weiblicher Art
(Homosexuelle). Das Gegenstück zu dieser Unterabteilung
sind Männer, die ausser Frauen von männlicher Art auch
Alänner von femininer Art lieben (Bisexuelle) oder nur diese
oder auch ganz wie Frauen mehr oder weniger stark ausge-
prägte Alännertypen (Homosexuelle).
In Gruppe lA"., unter welche wir die nicht unmittelbar
mit dem Liebesieben zusammenhängenden seelischen Eigen-
schaften begriffen, sind den sexuellen Zwischenstufen beizu-
zählen Alänner von femininer Geistes- und Sinnesart, die sich
in ihrer Lebensweise, ihrer Geschmacksrichtung, ihren Gesten
und Alanieren, ihrer Sensitivität vielfach auch in ihren Schrift-
zügen wiederspiegelt, auch Alänner, die sich mehr
oder weniger wie Frauen kleiden oder
ganz als solche leben; andererseits Frauen
von männlichem Charakter, männlicher Denk- und Schreib-
weise, starker Zuneigung zu männlichen Passionen, männ-
licher Tracht, natürlich auch solche Frauen, die mehr
oder minder ganz das Leben eines Mannes führen.
Hier sind also auch unsere Transvestiten
unterzubringen. Ich will diese lAh Gruppe noch
durch wenige Sätze charakterisieren, die ich ihnen bereits vor
länger als zehn Jahren in dem einleitenden Aufsatz der Jahr-
bücher für sexuelle Zwischenstufen widmete:
„Dass die geistigen Geschlechtsunterschiede sehr viele
Ausnahmen erleiden, lehrt die Geschichte und tägliche Er-
fahrung. Es gibt Alänner mit dem zarten weichen Gemüt
einer Alarie Baskiertschew, mit weiblicher Treue und Scham-
haftigkeit, mit überwiegend reproduktiver Veranlagung, mit
fast unüberwindlicher Neigung zu weiblichen Beschäftigungen
wie Putz und Kochen, auch solche, die an Eitelkeit, Ko-
ketterie, Klatschsucht und Feigheit das weibischste AA^eib
hinter sich lassen, und Frauen gibt es, welche wie Christine
von Schweden an Energie und Grosszügigkeit, wie Sonja
Kowalewska an Abstraktheit und Tiefe, wie viele moderne
286
FraiuMirechtlerinnen an Aktivität und Ehrgeiz, welche an
Vorliebe zu männlichen Spielen, wie Turnen und Jagen, an
Härte, Rohheit und Tollkühnheit den Durchschnittsmann hoch
überragen. Es gibt Frauen, die mehr an die Oel'fentlichkeit,
und Mä.nner, die mehr in die Häuslichkeit passen. Es gibt
nicht eine spezifische Eigenschaft des Weibes, die sich nicht
auch gelegentlich beim Manne, keinen männlichen Charakter-
zug, der sich nicht auch bei Frauen fände.“ —
Alle diese andersgeschlechtlichen Einschläge können in
sehr verschieden hohem Grade vorhanden sein. Dieser hängt
einmal wesentlich vom Lebensalter ab. Am markantesten er-
scheinen die Geschlechtscharaktere zwischen dem 20. und
50. Lebensjahre. Vorher im Jünglings- und Jungfrauenalter
zeigen bekanntlich auch nach der Reife Mädchen oft ein iu-
veniles, junge ^länner ein feminines Gepräge. Und auch später
in der Rückbildungsperiode nach dem 5. Jahrzehnt stellen
sich bei Matronen nach den Wechseljahren oft leichte virile
Stigmata ein. während alte Männer häufig mancherlei frauen-
artigeres bekommen. Vor allem aber treten auch auf der
Höhe des Lebens selbst diese Beimischungen in äusserst ver-
schiedener Stärke auf. Es kommt vor, um ein recht augen-
fälliges Beispiel herauszugreifen, dass ein Bartflaum im Ge-
sicht eines Weibes nur eben angedeutet ist, es kann der
Bartwuchs auf der Oberlippe aber auch so erheblich
sein, dass er mehr oder weniger häufig die Entfernung
mittels des Rasiermessers erfordert, ja es kann sogar aus-
nahmsweise ein stattlicher Vollbart bei einem Weibe vor-
handen sein. Weiter ist von Wichtigkeit, dass alle diese Ein-
schläge isoliert oder k o m b i n i e r-t auftreten können.
So ist es häufig, um bei dem letzten Beispiel zu bleiben,
dass eine femina barbata („Bartdame“) einen Vollbart be-
sitzt, in jeder sonstigen Beziehung aber durchaus wmiblich
ist. Es kommen aber auch alle nur erdenklichen Kombina-
tionen, alle möglichen Verbindungen männlicher und weib-
licher Eigenschaften vor. Legen wir der Berechnung der An-
zahl möglicher Kombinationen nur jede der vier Haupt-
grüppen als ein Ganzes zu Grunde, vergegenwärtigen wir
uns also, dass erstens die Geschlechtsteile ., A“, zweitens die
übrigen körperliclien Eigenschaften ,, B“, drittens der Ge-
schlechtstrieb C“, viertens die sonstigen seelischen Eigen-
schaften „D“, männlich ,,m“, weiblich „w“ oder gemischt
„m-j-w“ sein können, so ergibt sich folgende Uebersicht der
möglichen Kombinationen: G
An. Bn. C„.
Am Bw CmDra
Am Bm+wCm Dm
A\v Bm Cm Dm
Aw B\v Cm Dm
Ayv Bm+w Cm Dm
Am + w Bm Cm Dm
Am+w Bw Cm Dm
Am + w Bm+w Cm Dm
Am Bm Cyv Dm
Am B\v Cyy Dm
Am Bm+wCvv Dm
A\v Bm Cvv Dm
Aw Bw Cw Dm
Aw Bm^-w Cw Dm
Am + w Bm Cw Dm
Am+w Bw Cw Dm
Am+w Bm + w Cw Dm
Am Bm Cm+w Dm
Am B^ Cm4-w Dm
Am Bm+w Cm+w Dm
1
Aw Bm Cm+w Dm
Aw- Bw CmfwDm
Aw Bm.)-w Cm + w Dm
Am + wBm Cm^w Dm
Am + wBw Cm^i-w D m
Am+w Bm+w Cnj.|.w Dm
1
Tabelle I.
Am
Bm
Cm
Dw
Aw
Bm
Cm
Dw
Am+w Bm
Cm Dw
Am
Bw
Cm
Dw
Aw
Bw
Cm
Dw
Am+w Bw
Cm Dw
Am
Bra+w Cm
Dw
Aw'
Bri + w Cm
Dw
Am+w Bm + w Cm Dw
Am
Bm
Cw
Dw
Aw
Bm
Cw
Dw
Am+w Bm
Cw Dw
Am
Bw
Cw
Dw
Aw
Bw
Cw
Dw=>)
Am+w Bw
Cw Dw
■^m
Bm+w Cw
Dw
Aw
Bm+w Cw
Dw
Am+w B mwCw Dw
Am
Bm
Cm+w Dw
Aw
Bm
Cm + w D w
Am + w Bm
Cm+w Dw
Am
Bw
Cm+w D w
Aw
Bw
Cm+w Dw
Am+w Bw
Cm+w Dw
Am
Bm+w
Cm+w D w
Aw
Bm+w
Cni+w D w
Am+w Bm+w
Cm + w Dw
Tabelle II.
Die naclifolgende Berechnung der Zahl der Zwischenstufentypen
habe ich in Gemeinschaft mit Prof. Dr. K. F. Jordan ausgeführt.
’) Vollmann. ®) Voll weih.
288
Am Bm Cm Dm^-w
AmBv Cni Dm + w
Ambm-ewCm
AwBm Cm Dm+w
Aw'B\v C'm Dm+w
Aw Bm + w Cm Dm + w
Am+wBm CmDm+w
Am+w Bw CmDm + w
Am+w Bm + w Cm Dm+w
AmBm C^^ Dni + w
AmBni C\v Dm + w
AmBm^-w Cw Din.(-w
A\vBm C'w Dm+w
Aw Bw C’w Dm+w
Aw-Bm+wCw Dm+w
Am+wBm CwDm+w
Am+w Bw CwD„i+w
Am + w Bm+w Cw Dm+w
AmBm Cm.(-wDm+\v
AmB\v Cm.f-w Dm^-w
AmBm + wCm+\v Dm+w
A\v' Bm Cm+ w D,n + w
A\v Bw C'm+w Dm + w
AwBm+w Cm+w Dm+w
Am+w Bm Cm+w Dm + w
Am + w Bw- Cm + w Dm+w
Am + wKm + nCm + wDm+w^)
Tabelle III.
Die erste Horizontalreihe der Tabelle I enthält 3 Kom-
binationen sexueller Eigenschaftsgruppen, die sich dadurch
unterscheiden, dass bei übereinstimmenden sekundären, ter-
tiären und quartären Geschlechtsmerkmalen (Bm, C'», D*"),
die primäre Gruppe die drei verschiedenen möglichen Fälle
A>», Aw und Am -f w aufweist.
Die zweite und dritte Horizontalreihe der Tabelle I sind
Wiederholungen der ersten, mit dem Unterschiede, dass
die sekundären Geschlechtsmerkmale aus Bm in B«
und Bm — w variiert sind.
Im ganzen gibt das 3 • 3 = oder 3- = 9 Kombinationen.
Die zweite und dritte Horizontal-K o I u m n e der
Tabelle I sind Wiederholungen der ersten Kolumne, mit dem
Unterschiede, dass die tertiären Geschlechtsmerkmale
aus Cm in C«- und Cm 4- « variiert sind.
Somit enthält die ganze Tabelle I; 3*9 oder 3* 3- 3
oder 3’'^ = 27 Kombinationen.
Nun folgen Tabelle II und III, die sich dadurch von
Tabelle I unterscheiden, dass die q u a r t ä r e n Geschlechts-
merkmale aus Dm in Dw und Dm 4- w variiert sind, während
sonst alles wie in I kombiniert ist.
b VülIkommeDer Zwitter.
289
Dies ergibt als Zahl aller möglichen Kombinationen
der 4 Hauptgruppen von Eigenschaften 3 • 27 oder 3'^ =
■81 Kombinationen.
Nun setzen sich aber die Eigenschaftsgruppen A, B, C
und D aus einer Anzahl Elemente zusammen, Einzel-
eigenschaften also, die wiederum jede für sich männlichen,
weiblichen oder gemischten Charakter offenbaren können.
Bei näherer Betrachtung lässt sich — zugunsten einer
Uebereinstimmung in der Zahl — jede der 4 Eigenschafts-
gruppen in 4 Elemente zerlegen, obgleich zuzugeben ist, dass
die Analyse ohne Schwierigkeit auch noch viel mehr Einzel-
eigenschaften feststellen könnte.
Die von uns ins Auge gefassten Elemente wmren etwa:
Eigenschattsgr uppe A.
Eigenschaftsgruppe
B.
(Primäre Geschlechtsmerkmale.)
(Sekundäre Geschlechtsmerkmale.)
1. Keimstock: A^
l.r Haarkleid :
B*
2. Ei- oder Samenleiter; A^^
2. Kehlkopf:
3. Geschlechtshöcker:
3. Brust:
Bin
4. Geschlechtsrinne ; A
4. Becken:
Bir
Eigenschaftsgruppe C.
Eigenschaftsgruppe
D.
(Tertiäre Geschlechtsmerkmale.)
(Quartäre Geschlechtsmerkmale )
1. Richtungsart:
1. Gefühlsleben:
DI
2. Annäherungsart: C”
2. Denktätigkeit:
D”
3. Gefühlsart:
3. Beschäftigung:
Din
4. Botätigungsart:
4. Kleiduug:
Div
Jede dieser 4 • 4 oder 16 Eigenschaften kann nun, wie
gesagt, abermals von männlicher, weiblicher oder gemischter
Beschaffenheit fm, w imd m -|- w) sein, sodass sich, da alle
16 Eigenschaften irgendwie in jedem Individuum vorhanden
sind, noch eine viel mannigfaltigere Möglichkeit von Kom-
binationen ergibt als bei unserer vorhergehenden Berechnung,
wo wir die Eigenschafts gruppen noch nicht in ihre Be-
standteile aufgelöst, sondern als Einheiten betrachtet hatten.
Eirschleld, Die Transvestiten. 19
■290
Greifen wir die erste solcher Kombinationen als Bei-
spiel heraus:
»I A II A Ul A IV R I Rii Rill Riv r I pii piii f'’’ n I nii di" di'’
m ^ A r>-> A. »n • k ni m iTi Hl m m ^tji m ^ Tn ^ n\
würde einen V o 1 1 m a n n von der denkbar ausgesprochensten
Art btxieuten. d. li. Keimstock, Samenleiter, Geschlechts-
liöcker ■ und Geschlechtsrinne wären bei ihm von männlichem
Typus; desgleichen das Haarkleid, der Kehlkopf, die Brust
und das Becken; sein geschlechtlicher Trieb und geschlecht-
liches Verhalten würde in der Richtung (ob jung oder alt),
in der Art der Annäherung (ob aggressiv werbend oder
lockend), in der Gefühlsart (die teils im Seelischen, teils im
Sinnlichen wurzelt) und in der Art der Betätigung (ob aktiv
oder passiv, incubus oder succubus) männlichen Charakter
offenbaren, d. h. das Objekt seines Begehrens würde das nor-
male (feminin geartete) Weib sein, und ihm gegenüber würde
er in seelischer und sinnlicher Beziehung aggressiv und aktiv
auftrcten; endlich würde er auch im Gefühlsleben und der
Denktätigkeit, in der ihm konformen Beschäftigung und der
gewälilten Kleidung sich als kraftvolle und streng männliche
Person darstellen, als Beherrscher der Logik, nicht mit Vor-
liebe für Sticken, Nähen sowie Kochen u. dergl., sondern für
Muskelarbeit und die Kräfte des Verstandes in Anspruch
nehmende Kopfarbeit, und er würde die Männerkleidung der
Prauentracht vorziehen. —
Welche Grösse hat nun die Zahl der sich aus diesen Ge-
sichtspunkten ergebenden Kombinationen'?
Zunächst liefert die Variation des A^ (als A.^ und
^m+w) 3 Fälle. Jedem dieser Fälle ordnen sich durch Variation
des AU (als A”, A” und ) 3 weitere Fälle unter, das gibt
also 3 3 oder 3^ = 9 Kombinationen.
Abermals ordnen sich jedem dieser Fälle wieder 3 Fälle
durch Variation des AUi unter = 3-9 oder 3^ (= 27) Komhi-
nationen. Und so fort: für jedes der 16 Elemente der 4 Eigen-
schaftsgruppen A, B, C und D eine Verdreifachung der Zahl.
Dies ergibt als Gesamtzahl aller möglichen Kombinationen 3‘“ oder
43 046 721 KombiHationen.
Diese ungeheure Zahl könnte zunächst überraschen, da
sie ungefähr ==■ d e m 33. Teile der Gesamtzahl
aller auf der Erde lebenden Menschen ist
(diese Zahl = 1450 Millionen gerechnet); aber bei genauerem
Nachdenken wird sie nicht nur verständlich, sondern könnte
eher noch als zu klein zu erachten sein, da wir beobachten,
dass kaum je ein Mensch einem andern vollkommen gleicht.
Im Aussehen wie im Wesen finden sich so ausserordentlich
zahlreiche Abweichungen und Nuancierungen, dass jedes
Individuum als etwas Besonderes erscheint.
Dies gilt, wie es hier wissenschaftlich fest-
gestellt ist, speziell für die geschlechtliche Eigentüm-
lichkeit des Menschen. Eine noch grössere Zahl würde
sich ergeben, wenn wir, was, wie gesagt, durchaus
als berechtigt anzuerkennen wäre, die 4 Eigenschafts-
gruppen A, B, C und D noch in mehr als je 4 Ele-
mente unterscheiden würden. Wenn man beispielsweise jedes
der 4 Elemente, nur noch in zwei Unterabteilungen trennen
wollte, etwa die Behaarung in Barthaar und Haupthaar,
oder die Kleidung in Ober- und Unterkleidung und so fort,
so würde die l\Ienge der sexuellen Varietätsmöglichkeiten
schon die Zahl der Erdbewohner übersteigen.
Versuchen wir uns von dieser Vermischung männlicher und
weiblicher Substanz auch noch auf andere Weise eine zahlen-
mässige Vorstellung zu machen, so kann, wenn wir den oben
aufgestellten hundertprozentigen Geschlechtstypus zum Aus-
gangspunkt nehmen, der männliche Einschlag bei einem Weibe,
welches sich von dem absoluten Frauentypus nur wenig unter-
scheidet, auf ein bis zehn Prozent beziffert werden, er kann
aber auch wesentlich mehr, etwa fünfundzwanzig Prozent be-
tragen. Es können schliesslich ebenso viele männliche wie
weibliche Eigenschaften vorhanden sein, ja es können sogar
bei einer Trägerin weiblicher Keimzellen, also einem Weibe,
die männlichen Eigenschaften zahlreicher vertreten sein wie
die weiblichen und so gelangen wir nach und nach zu einem
Punkte, wo ausser den Geschlechtsorganen die Geschlechts-
charaktere der drei übrigen Gruppen, der Geschlechtstrieb
sowohl als die allgemeinen körperlichen und seelischen Er-
scheinungen männlich geartet sind. Dieser Typus grenzt nahe
an den absoluten „hundertprozentigen“ Mann, bei dem dann
19*
292
el)en auch noch die vierte Gruppe,- die Geschlechtsorgane
männlich sind. Und nun wiederholt sich dasselbe. Es kann
dem Manne nur eine Spur Weiblichkeit beigemengt sein, die
weiblichen Qualitäten können den männlichen gleichkommen,
sie können diese sogar überragen, trotzdem es sich um einen
Träger männlicher Keimzellen, also einen Mann handelt, und
so geht es weiter, bis wir allmählich wieder zu einem Punkte
kommen, wo Gruppe II, III und IV bereits totaliter weib-
lich, nur Gruppe I noch männlich ist oder womöglich gar
noch in dieser Annäherungen an den femininen Typus vor-
handen sind. Damit nähern wir uns dann wieder unserem
Ausgangspunkt, dem vollkommen weiblichen Geschlecht.*}
Alle diese sexuellen Varietäten bilden einen vollkommen ge-
schlossenen Kreis, in dessen Peripherie die angeführten
Zwischenstufentypen nur besonders markante Punkte dar-
stellen, zwischen denen aber keine leeren Punkte vorhanden
sind, sondern lückenlose Verbindungslinien. Die Zahl der
denkbaren und tatsächlichen sexuellen Varietäten ist nahezu
unendlich, in jedem Menschen findet sich eine verschiedene
Mischung männlicher und weiblicher Substanz, und wie wir
nicht imstande sind, zwei gleiche Blätter an einem Baum
ausfindig zu machen, so werden wir höchst wahrscheinlich
auch nicht zwei menschliche Wesen auffinden können, in
denen das Mischungsverhältnis des männlichen und weiblichen
Prinzips nach Art mid Menge vollkommen übereinstimmt.
Ob nun jemand die sexuellen Zwischenstufen samt und
sonders für pathologisch ansieht — ein für einen dar-
winistisch geschulten Biologen meines Erachtens unhaltbarer
Standpunkt. — oder ob man nur die stärkeren Einschläge
von Männlichkeit bei einem Weibe und Weiblichkeit bei einem
Manne für pathologisch hält, die schwächeren Grade für
physiologisch — wobei es schwer halten dürfte in der Reihe
•) Der englische Biologe William Bateson in Cambridge unterscheidet in:
, Materials for the study of Variation treated with especial regard to disconti-
nuity in the origin of species" London 1894 pag.38 die Männchen in mehreren In-
sektengattungen je nach der Ausbildung der sekundären Geschlechtscharak-
tere in „high males“ und „low males“ (hochmänniiehe und minder männ-
liche); ähnlich Hessen sich auch die Einzelwesen aller übrigen geschlechtlich
differenzierten Pflanzen- und Tiergattungen einteilen.
der unmerklich ineinander übergehenden T}3)en eine Grenze
zu ziehen — oder ob man, wie ich es tue, alle diese
Zwischenstufen als sexuelle Varietäten auffasst
und den Begriff des pathologischen im Sexualleben von ganz
anderen Momenten abhängig macht, in erster Linie nämlich
davon, inwieweit die Voraussetzungen der beiderseitigen Ge-
schlechtsreife und Geschlechtsfreiheit Verletzungen erleiden —
alles das sind nur sekundäre Entscheidungen gegenüber der Tat-
sache, dass wir mit den sexuellen Zwischenstufen als einer weitver-
breiteten und bedeutsamen Naturerscheinung zu rechnen haben.
Die „Zwischenstufentheorie“*) bezweckt also, wie wir
sehen, im wesentlichen nichts anderes', als eine Systemati-
sierung, sie will bekannte und verwandte Phänomene metho-
disch ordnen; mag im Einzelfall die Frage auftauchen, ob
die Charakterisierung einer körperlichen oder geistigen
Eigenschaft als männlich oder weiblich insofern gerecht-
fertigt ist, als sie dem Durchschnittstypus des ‘ männlichen
oder weiblichen Geschlechts wirklich entspricht, an dem Fak-
tum, dass in allen vier genannten Gruppen der Geschlechts-
unterschiede Mischformen, Geschlechtsübergänge Vorkommen,
ändert das nicht. Von einer eigentlichen Zwischenstufen-
t h e 0 r i e*) kann nach meinem Dafürhalten genau genommen
erst die Rede sein, wenn eine Theorie aufgestellt wird, welche
•) Den Ausdruck „Zwischenstufen- T h e o r i e“ finde ich zunächst bei
F 0 r e I (Die sexuelle Frage pag. 264), fast gleichzeitigbei B. F ried-
länder (Die Renaissance der Eros Uranios, z. B. Anhang pag. 84), dann
bei Bloch (Sexualleben pag. 588), bei allen mit Bezug auf meinen Namen
bezw. die von mir herausgegebenen „Jahrbücher für sexuelle
Zwischenstufen“. Die nicht ganz richtige Vorstellung, die sich diese
Autoren von dem, was ich in diese Bezeichnung legen wollte, machen, ver-
anlasst mich hauptsächlich zu der obigen zusammenfassenden Darstellung.
Die Anschauung selbst, dass es zwischen den Geschlechtern Mischformen —
sexuelle Zwischenstufen — gibt, ist uralt. Es finden sich hierfür Belege be-
reits in den mythologischen und historischen üeberlieferungen der ältesten
Kulturvölker. (Vgl. Dr. med. v. Römer: „Die androgynische Idee des
Lebens“ im V. Bande des Jhb. f. sex. Zw. und meinen historischen Exkurs:
„Zur Theorie und Geschichte der Bisexualität“ im V. Kapitel vom „Wesen
der Liebe“.) Namentlich die bildende und redende Kunst der Griechen be-
schäftigt sich immer wieder mit dem „Hermaphroditos“, der „in dem einen
vereint die Reize der beiden Geschlechter“ (wie Christodoros aus Koptos „pa-
291
(laß Vorhandensein und die Häufigkeit solcher Mischformen
zu erklären sucht. Diese Erklärung scheint mir el)enso
einfach und einleuchtend wie die Lehre von den Zwischenstufen
selbst. Sie stützt sich darauf, dass nach den Gesetzen
der gemischten oder beiderseitigen Vererbung jedem Kinde,
gleichviel ob männlich oder weiblich, das aus der geschlecht-
lichen Vermischung von Mann und Weib entsteht, väterliche
und mütterliche Eigenschaften angeboren sind; es übertragen
sich sogar nach den Gesetzen der latenten und alternieren-
den Vererbung auf jeden Sohn auch noch Eigentümlichkeiten
aus der mütterlichen Ahnenreihe beider Eltern, auf jede
Tochter Eigenschaften der Vorväter. Der Anteil der kon-
currierenden Erblasser ist in jedem einzelnen Fall ein vari-
abler. Das erhellt unter anderem aus der stets vor-
handenen, oft nicht unbeträchtlichen Ungleichheit der Ge-
schwister. Der bedeutendste Forscher, den wir auf dem Ge-
biet der Vererbung haben, August Weissmann**) sagt: „Vom
latini.^che Aatholo^e“ libr. II sagt). Eine wissenschaftliche Bearbeitung hat
die Frage allerdings erst in neuerer Zeit erfahren; auch hierzu finden sich
bereits Anfänge u. Ansätze bei Darwin, Weissmann, Hegar (vgl. die obigen
Zitate), Ulrichs, Schopenhauer und anderen. Zum Zwecke eines eingehenden
methodischen Studiums des Zwischenstufcnproblems gründete ich im Jahre
1899 die genannten Jahrbücher, von denen bis 1908 11 Bände herau.sge-
kommen sind. Von grösseren neuen Werken, die sich auf die Lehre von den
sexuellen Zwischenstufen stützen oder sie eng berühren, seien drei hervor-
gehobon: I. Otto Weininger; „Geschlecht und Charakter" (I. Aufl., Wien 1903),
ein Werk, das durch seine kühnen, vielfach übertriebenen Schlussfolgerungen
das grösste Aufsehen erregte. In seiner wissenschaftlichen Grundlage, „dass
nämlich in jedem Manne etwas vom Weibe und in jedem Weibe etwas vom
Manne sei und zwischen beiden Uebergangsformen. sexuelle Zwischenstufen
existieren-, stimmt es völlig mit den 4 Jahre vorher erschienenen Jahr-
büchern überein, die es allerdings nur beiläufig als „verdienstvolles
ünternehmen* erwähnt. II. Wilhelm Fliess: „Der Ablauf des Lebens*.
Grundlegung zur exakten Biologie (Wien 190.5) und III. Franz von Neu-
gebauer: .Hermaphroditismus beim Menschen (Leipzig 1903), ein Kompen-
dium von unschätzbarem Wert; pag. B3ß sagt der Verfasser: ,In der Tat
gibt es eine Unmenge von Menschen, welche somatisch wie in psycho-
sexueller Beziehung sexuelle Zwischenstufen darstellen, worauf zuerst in
prägnanter Weise Magnus Hirschfeld hingewiesen hat.“
. *•) Weissmann: „Das Keimplasma, eine Theorie der Vererbung“. Jena
1892, pag. 467.
295
Menschen her wissen wir, dass sämtliche sekundären Ge-
schlechtscharaktere nicht nur von den Individuen des ent-
sprechenden Geschlechts vererbt werden, sondern auch von
denen des anderen. Die schöne Sopranstimme der Mutter
kann sich durch den Sohn hindurch auf die Enkelin ver-
erben, ebenso der schwarze Bart des Vaters durch die Tochter
auf den Enkel. Auch bei den Tieren müssen in jedem ge-
schlechtlich differenzierten Bion beiderlei Geschlechtscharaktere
vorhanden sein, die einen manifest, die anderen latent. Der
Nachweis ist hier nur in gewissen Fällen zu führen, weil
wir die individuellen Unterschiede dieser Charaktere nur
selten so genau bemerken, allein er ist selbst für ziemlich
einfach organisierte Wesen zu führen und die latente An-
wesenheit der entgegengesetzten Geschlechtscharaktere in
jedem geschlechtlich differenzierten Bion muss deshalb als
allgemeine Einrichtung aufgefasst werden.“ Niemand hat den
Einfluss der gemischten und latenten Vererbung jedoch
schöner zum Ausdruck gebracht als Goethe in dem bekannten
autobiographischen Gedichtchen, dessen zweite Hälfte son-
derbarerweise meist bei der Zitierung fortgelassen wird;
„V om Vater hab’ ich die Statur,
Des Lebens ernstes Führen.
Vom Mütterchen die Frohnatur
Die Lust zu fabulieren.
Urahnherr war der Schönsten hold.
Das spukt so hin und wieder.
Urahnfrau hatte Schmuck und Gold
Das zuckt Wühl durch die Glieder.“
Im Kampf mit dieser doppelgeschlechtlichen Vererbung
liegt diejenige, welche Darwin die geschlechtliche (sexuelle)
nannte. Diese reguliert die bisexuelle Anlage und bewirkt,
dass manche Eigentümlichkeiten nur bei männlichen, andere
nur bei weiblichen Sprösslingen zur Entwicklung gelangen. So
überträgt der Hirsch das Geweih in der Regel nur den männ-
lichen Nachkommen, das weibliche Tier die milchgebende
Drüse nur der weiblichen Nachkommenschaft. Doch sind die
Anlagen für diese charakteristischen Geschlechtszeichen stets
auch bei den andersgeschlechtlichen Abkömmlingen vorhanden,
nur wachsen sie wenig oder garnicht. Auch hier mögen noch
zwei Gewährsmänner gehört werden: zunächst Darwin*)
selbst, der seine Betrachtungen mit den Worten schliesst;
Wir sehen daher, dass in vielen, wahrscheinlich in allen
Fällen die sekundären Charaktere jedes Geschlechtes schlafend
oder latent in dem entgegengesetzten Geschlechte ruhen, be-
reit sich unter eigentümlichen Umständen zu entwickeln“;
dann der bekannte Gynäkologe A. Ilegar, der in einer vor-
trefflichen Arbeit „über die Exstirpation normaler und nicht
zu umfangreicher Tumoren degenerierter Eierstücke“**) klar-
legt, „dass ursprünglich in jedem Individuum zwei geschlechts-
bedingende Momente vorhanden sind, von denen das eine zum
Manne, das andere zum Weibe führt." „Diese suchen nicht
blos die spezifischen Keimdrüsen, sondern gleichzeitig auch
die anderen Geschlechtscharaktere herzustellen.“ „Für ge-
wöhnlich überwiegt eine Bewegungsrichtung so, dass nur ein
spezifischer Typus geschaffen, während der andere verdrängt
wird.“ Er setzt dann auseinander, dass diese Verdrängung
wahrscheinlich auf mechanischen Ursachen beruht — was ich
übrigens nicht für sehr wahrscheinlich halte — und endet
damit, dass er sagt: „Es wird dann (wenn nämlich die Ver-
drängung nicht oder nur teilweise stattfindet) das andere
geschlechtsbedingende Moment zur Geltung kommen und wir
sehen so ein Individuum entstehen, welches einen anderen
Geschlechtstypus hat, als denjenigen, welcher ihm seiner
Keimdrüse nach zukommt. Meist sind freilich Ge-
mische männlicher undAveiblicher Eigen-
schaften in den mannigfachsten Kombi-
nationen vorhanden, bis zu jenen feinen Nuancen
herab, bei denen wir von einem weibischen Manne und einem
Mannweib sprechen.“ Das biologische Gesetz, dass in jedem
Menschen auch das Geschlecht ruht, dem er nicht angehört,
bildet die Grundlage für die Entstehung und das Verständnis
der sexmeilen Zwischenstufen; ich habe es in dem Leitartikel
*) Dam'in; „Das Variieren der Pflanzen und Tiere im Zustande der
Domestication“. 2. Aufl. Stuttgart 1ST3. Bd. II. pag. 59.
•*) Im Centralblatt für Gynäkologie. 10. Nov. 1877. pag. 297 — 307.
297
der Jahrbücher für sexuelle Zwischenstufen kurz etwa dahiu
präzisiert: „alles, was das Weib besitzt, hat, wenn auch in
noch so kleinen Resten, der Mann und ebenso sind bei jedem
Weibe zum mindesten Spuren aller männlichen Eigentümlich-
keiten vorhanden“ und in den Geschlechtsübergängen: „in
jedem Lebewesen, das aus der Vereinigung zweier Geschlechter
hervorgegangen ist, finden sich neben den Zeichen des einen
Geschlechts die des andern oft weit über das Rudimentär-
stadium hinaus in sehr verschiedenen Gradstufen vor.“
Dass die Gradstufen so hätifig von der dem Geschlecht
im allgemeinen eigentümlichen Durchschnittsform ab-
weichen, selbst wenn wir diese möglichst weit fassen, ist
um so verständlicher, wenn wir in Betracht ziehen, dass der
männlichen oder weiblichen Bildung stets eine einheitliche
ungeschlechtliche Gestaltung von verschieden langer Dauer
vorangeht. Aus dieser neutralen Anlage wachsen einige Teile
stärker, einige schwächer, andere garnicht und auf diesem
mehr oder weniger der Entwicklung beruht in der Haupt-
sache der ganze Unterschied der Geschlechter. So entstehen
die in der ersten Gruppe der Geschlechtsunterschiede zu-
sammengefassten Organe bei beiden Geschlechtern aus der ge-
schlechtslosen Geschlechtsdrüse, an die sich ursprünglich so-
wohl beim Manne als beim Weibe die Urnieren, Urnieren-
gänge und Müllerschen Gänge anschliessen, während an der
Körperoberfläche in beiden Fällen der Geschlechtshöcker, die
Geschlechtsrinne, die Geschlechtsfalten und Geschlechtswülste,
die Vorstufen der äusseren Genitalbildung darstellen. In der
zweiten Gruppe der Geschlechtsunterschiede ist noch bis
kurz vor der Reife die einheitliche Grundlage vorhanden;
Brustdrüsen, Behaarung, Kehlkopf, lassen im Kindesalter
keine Differenz wahrnehmen. Auch hinsichtlich der dritten
Gruppe der Geschlechtsunterschiede wird jetzt allgemein an-
genommen, dass der Differenzierung des Geschlechtstriebes
ein undifferenziertes Stadium vorausgeht,*) und ebenso sind
die sonstigen seelischen Unterschiede (Gruppe IV) wenn auch
•) Vgl. u. a. Prot. M. Deesoir. Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie.
1894 Hefts.
•298
in der Kindheit schon vielfach angedeutet, (mit Recht be-
zeichnet der Sprachinstinkt das Kind als Neutrum), so doch
nicht im entferntesten so ausgebildet und ausgeprägt, wie
beim Erwachsenen.
Die allerletzten Gründe freilich, weshalb das Geschlecht
im ganzen oder ein Geschlechtszeichen im einzelnen aus der
einheitlichen Basis sich das eine Mal nach der männlichen
Seite, ein anderes Mal nach der weiblichen wendet, während
es sich in einem dritten Falle gemischt gestaltet, die End-
ursachen also, welche bewirken, dass einmal Knaben, einmal
Mädchen, einmal se.xuelle Zwischenstufen geboren werden,
sind noch in Dunkel gehüllt, trotzdem man sogar — und bei
Pflanzen und Tieren nicht ganz ohne Erfolg — versucht
hat, willkürlich durch diätetische und anderweitige l\Iass-
nahmen bestimmend auf die Entstehung des gewünschten Ge-
schlechts Einfluss zu nehmen.
Die Erkenntnis, dass in jedem Menschen die Anlagen
beider Geschlechter ruhen, legt ja die Vermutung nahe, es
könne vielleicht der Grad dieser Entwicklung von dritter
Seite beeinflusst werden. Namentlich in bezug auf Gruppe
III und IV der Geschlechtsunterschiede, das sexuelle Trieb-
und Seelenleben, ist dies nicht selten behauptet, wenn auch
noch nicht bewiesen worden. Es würde zu weit führen, wollte
ich versuchen, auf das eben so schwierige wie wichtige
Problem, um das es sich dabei handelt, auf die Frage, wie
sich im Geschlechtsleben Wille und Trieb, Disposition und
Suggestion, endogene und exogene Ursachen zueinander ver-
halten hier auch noch des näheren einzugehen. Ich
fürchte, die Geduld meiner Leser ohnehin schon zu
lange in Anspruch genommen zu haben und beschränke
mich in dieser Frage, die mit unserem Hauptthema nur
mittelbar zusammenhängt, meine Ueberzeugung, zu der ich
auf Grund theoretischer Erwägungen und empirischer Er-
fahrungen gelangt bin, dahin zu äussern: Mag der hemmende
und fördernde Wille eigener und anderweitiger Einwirkung, der
Erziehung, Uebuug und Suggestion auch noch so zugänglich sein
— wenngleich sicherlich auch die Beherrschbarkeit ihre Grenzen
hat — die sexuelle Eigenart als solche in körper-
299
lieber und geistiger Beziehung ist angeboren, abhängig von
der ererbten Mischung männlicher und weiblicher Substanz,
unabhängig von aussen; sie ist in der Anlage präformiert
und schlummert in ihr lange bevor sie erwacht, ins Bewusst-
sein dringt und sich entfaltet; sie unterliegt zeitlichen,
namentlich auch periodischen Schwankungen, entwickelt sich
jedoch konsequent, nimmt allmählich zu, erhält sich auf einer
gewissen Höhe, geht dann wieder zurück, bewahrt aber in
allem Wesentlichen während der ganzen Lebensdauer das-
selbe charakteristische Gepräge.
Kehren wir nach diesen allgemeinen Betrachtungen über
die sexuellen Mischformen zum Hauptgegenstand unserer Ar-
beit, dem erotischen Verkleidungstrieb zurück, so wird uns
dieser nunmehr in mannigfacher Beziehung verständlicher und
weniger seltsam erscheinen. Nicht nur für die Stellung, die
ihm innerhalb der Naturerscheinungen einzuräumen ist, son-
dern auch für seine Aetiologie, Prognose und Therapie er-
geben sich aus dem Dargelegten wichtige Schlüsse. Wir
deuteten bereits kurz an, dass er der IV. Gruppe der
Zwischenstufen beizuzählen ist; hinsichtlich der drei ersten
Gruppen der Geschlechtsunterschiede, der Geschlechtsorgane,
den übrigen körperlichen Eigenschaften und dem Geschlechts-
trieb zeigen diese Männer keine oder nur unbedeutende Ab-
weichungen von der Norm, unwesentlich jeden-
falls im Vergleich mit den sonstigen psychischen Ge-
schlechtscharakteren, wo sich in dem Drange sich als Weib
zu kleiden, in dem Wunsche möglichst sogar als Weib zu
leben, eine Idee zeigt, wie sie kaum weiblicher gedacht
werden kann.
Da OS sich, wie wir sahen, hier um eine Form der
Zwischenstufen handelt, die sich von der bisher beschriebenen
deutlich abhebt, erscheint es angebracht, auch der neuen
Form einen neuen Namen, eine besondere wissenschaftliche
Marke zu geben. Ich entnahm die Bezeichnung dem im
Symptomenbilde äusserlich hervorstehendsten Zuge, der offen-
300
har auch hei den Betreffenden den Hauxitinhalt ihrer Emp-
findungen und Gedanken bildet, dem Triebe, die Kleidung des ent-
gegengeseizten Gesehlechteß anzulegen und nannte die Personen
nach dem lateinischen trans =- entgegengesetzt (vgl. trans-
versus) \ind dem Partizip vestitus, a, um = gekleidet, das sich
auch als Adjektiv bei römischen Klassikern findet, Trans-
vestiten. Das Wort hat den Vorzug der Wandlungsfähigkeit,
man kann die Neigung bei beiden Geschlechtern als trans-
vestische bezeichnen, ein Mann, der den Verkleidungs-
trieh hat, wäre ein Transvestit, eine Frau eine
T r a n s V e s t i t i n , die Erscheinung selbst könnte Trans-
V e s t i t i s m u s , die Vornahme der Verkleidung Trans-
V e s t i t u r (vgl. Investitur) genannt werden. Ein Nachteil
des Wortes ist, dass, wenn es auch die augenfälligste Seite
der Erscheinung trifft, doch ihren inneren Gehalt keineswegs
erschöpft. Einige der Transvestiten haben selbst Aus-
drücke gebildet, die als Ausdruck ihrer Empfindungen
recht bemerkenswert sind. Der eine (Fall II) nannte seinen
Trieb „Puellismus", ein anderer i^Fall XI) benannte in einem
Aufsatz, .,in welchem er seiner Frau alles klar zu machen
suchte“ die Männer, welche äusserlich als Weib auftreten oder
auftreten möchten, sexuell dagegen männlich veranlagt sind
..Junoren“. Beide Wortbildungen sind aus verschiedenen
Gründen nicht geeignet, sie würden den Trieb nur bei einem,
nämlich dem männlichen Geschlecht zum x^usdruck bringen,
sie sind auch nicht wandlungsfähig und können leicht zu
Missverständnissen Veranlassung geben. Will man mehr dem
Umstande Rechnung tragen, dass es sich nicht um ein blosses
Verkleiden handelt, sondern mehi- um einen geschlechtlichen
Verwandlungstrieb, so käme wohl in erster Linie als Ab-
Teitungswort das griechisch-deutsche Metamorphose
in Betracht. Man könnte die Personen als sexuelle
Metamorphotiker, den Trieb als sexual-meta-
inorphotischen. die Erscheinung als Sexuaimetamorphismus
(vgl. Dimorphismus), die Vornahme der Verkleidung als
Sexualmctamorphose bezeichnen. Abgesehen von der Ungelenkig-
keit des Ausdrucks spräche dagegen, dass Krafft-Ebing be-
reits als Metamorphosis sexualis paranoica den Geschlechts-
301
verwandlungs w a h n bezeichnet hat, den t\ir vom Geschlechts-
verwandlungs trieb, wie oben besprochen, scharf unter- "
scheiden müssen. Für die von Sexuaiforschern wiederholt ge-
übte, meines Erachtens nicht sehr glückliche Praxis, eine
sexuelle Anomalie nach einer Person zu benennen, von der
bekannt wurde, dass sie ihr besonders stark zuneigte (die
Worte Sadismus, Masochismus,. Narcissismus, Retifismus,
auch das nach dem biblischen Onan gebildete Wort Onanie ge-
hören hierher) fehlen unter den heterosexuellen Transvestiten
die entsprechenden „Berühmtheiten“. Vielleicht gelingt es
dem Scharfsinn meiner sehr geschätzten Leser einen Ausdruck
zu finden, der mehr noch den Kern der Erscheinung trifft,
als der vorläufig angenommene, von dem ich mir wmhl be-
wusst bin, dass er als nach allen Richtungen befriedigend
nicht angesehen werden kann.
Was die Ursache des Verkleidungstriebs betrifft, so ist
dem, was wir über die Aetiologie der sexuellen Zwischen-
stufen. im allgemeinen ausgeführt haben, wenig mehr hinzu-
zufügen. y/ e s h a 1 b der weibliche Einschlag in dem einen Fall
bewirkt, dass ein Hermaphrodit (Beispiel der ersten Gruppe)
entsteht, in einem zweiten ein Gynäkomast (Beisp; der II.
Gr.), in einem dritten Fall ein Urning (Beisp. der III. Gr.),
im vierten ein Transvestit (Beisp. d. IV. Gr.) entzieht sich
bisher unserer Beurteilung.
Die Diagnose und Differentialdiagnose
des Transvestitismus habe ich bereits bei der Besprechung
verwandter Erscheinungen eingehend erörtert; hinsichtlich der
Prognose halte ich ein Verschwinden des transvesti-
tischen Triebes nach dem ganzen Charakter dieser und ver-
wandter Mischformen nicht für sehr wahrscheinlich, doch be-
sitzen wir noch keine ausreichende Erfahrung, um darüber
ein abschliessendes Urteil zu fällen; dem Triebe selbst könnte
man wohl noch am ehesten auf psychotherapeutischem Wege
beikommen, etwa durch eine Vereinigung der Freudschen Psy-
choanalyse mit geschickter Suggestivbchandlung. Ausserdem
empfiehlt sich wie bei allen analogen Anomalien eine All-
gemeinbehandlung des Zentralnervensystems, die eine Kräfti-
gung der Willensenergie im Auge hat, sowie eine genaue Re-
302
gulierung der Lebensweise, die eine möglichste Ablenkung der
Geistestätigkeit bezweckt. Kommt inan mit alledem nicht
zum Ziel, so ist das wichtigste die Entscheidung, ob und
inwieweit es ratsam ist, dem Triebe gelegentlich nachzugeben.
Wir sahen an mehreren Beispielen, wie ganz ausserordentlich
beruhigt und zu ihrem Vorteil verändert sich die Trans-
vestiten fühlen, wenn dies zuweilen geschieht. Unwillkürlich
erinnert man sich bei ihren Schilderungen des Satzes von
Eduard von Hartmann in seiner Philosophie des Unbe-
wussten, dass die Nichtbefriedigung eines Triebes für das be-
treffende Individuum ein grösseres U e b e 1 sei, als
die massvolle Befriedigung. Bedenkt man weiter, dass es
sich um eine im Grunde genommen harmlose Neigung
handelt, durch die an sich Niemandem ein Schade zugefügt
wird, so lässt sich vom rein medizinischen Standpunkt nichts
gegen ein zeitweises Anlegen der andersgeschlechtlichen Klei-
dung sagen; eine andere Frage ist, wie weit sonstige Be-
denken und Rücksichten forensischer Natur,
etwa eine Erregung öffentlichen Aergernisses, Vorspiegelung
falscher Tatsachen der Verkleidung entgegenstehen; es soll
hierauf im nächsten Kapitel, in dem wir die Stellung der
Transvestiten zur Aussenwelt erörtern wollen, noch näher
eingegangen werden. Hier will ich nur noch einen Punkt
berühren, nämlich den, ob diese Personen zur Eingehung
einer Ehe geeignet erscheinen. AVie wir erfuhren, ist .ein
nicht geringer Teil verheiratet, meist sogar glücklich. Nur
in einem Falle (XI) war die Ehe in einem gewissen Zu-
sammenhang mit dem Verkleidungstrieb eine recht unglück-
liche, allerdings war hier die Frau psychopathisch,
litt an persecutorischen AA'ahnideen und Sinnestäuschungen
und befindet sich seit längerer Zeit in einer Irrenanstalt.
Unbedingt muss gefordert werden, dass ein Transvestit, be-
vor er heiratet, seine Frau über sich aufklärt; es kann einem
Weibe nicht zugemutet werden, dass sie unvorbereitet eines
Tages der bizarren Eigenart ihres Mannes gegenübersteht.
Ich habe mich gewundert, dass sich manche Frauen aller-
dings verhältnismässig leicht darin gefunden haben, mit ihren
weiblich gekleideten Ehemännern sogar zu verreisen oder mit
303
ihnen abends am Familientisch zu sitzen, beide Ehegatten in
Frauentracht. Wenn aber auch die Frau sich mit der Lieb-
haberei des Mannes einverstanden erklärt, so habe ich hin-
sichtlich der Zweckmässigkeit dieser Ehen doch noch meine
Bedenken; es lässt sich nicht bestreiten, dass der Trans-
vestitismus zu denjenigen sexuellen Zwischenstufen gehört, bei
denen der andersgeschlechtliche Einschlag besonders beträcht-
lich ist. Bei leichteren Einschlägen, die, um wieder einen
zahlenmässigen Begriff zu geben, 331^ Prozent nicht über-
steigen, kann leicht ein Ausgleich zwischen den Ehegatten
erzielt werden, sodass die Nachkommenschaft im Sinne
hereditärer Belastung nicht gefährdet erscheint. Wo hin-
gegen die sexuelle Spaltung der Persönlichkeit eine so
klaffende ist, wie in unseren Fällen, liegt doch eine solche
Abartung vom reinen Geschlechtstypus vor, dass sie, wenn
sie auch selbst noch nicht als Entartung angesprochen werden
soll, doch leicht bei der Nachkommenschaft zu psychisch un-
einheitlichen, gelockerten, labil-degenerierten Individuen führen
kann. Einen Beweis für diese mehr theoretischen Erwägungen
entspringende Vermutung kann ich allerdings nicht bringen,
im Gegenteil die Kinder der Transvestiten, welche ich sah,
machten auf mich einen guten und gesunden Eindruck. Doch
ist das bisher zur Verfügung stehende Material nicht ge-
nügend, die geäusserten Befürchtungen zu zerstreuen. Das
Verantwortungsgefühl für eine Nachkommenschaft, die dem
heutigen Leben, das ja an das Nervensystem ganz besonders
hohe Ansprüche stellt, gewachsen ist, lässt ja. nur zu sehr zu
wünschen übrig. Die Züchtungshygiene erfordert, dass Trans-
vestiten, die sich an der Hervorbringung neuer Menschen
beteiligen, körperlich gesunde, kräftige, auch geistig gut ent-
wickelte Personen sind, die in noch höherem Masse, wie
die Rücksicht auf die Kinder dies ohnehin nötig macht, auf
die Gesundheit der Ehehälften bei der Gattenwahl Acht geben.
Bei den transvestitischen Frauen spricht übrigens noch gegen
die Ehe, dass sie meist sehr unruhigen Geistes, zu Aben-
teuern geneigt und an die Häuslichkeit schwer zu fesseln
sind. Am besten passt wohl in der Tat, wie dies ja auch
den Wünschen dieser Personen entspricht, ein Transvestit zu
304
einer efft'as männlich gearteten Frau, -die natürlich keine
Transvestitin zu sein braucht, eine Transvestitin zu einem
weiblichen Mann, damit, um mit Schopenhauer*) zu reden,
,der bestimmte Grad seiner Mannheit dem bestimmten
Grade ihrer Weiblichkeit entspricht“; richtiger wäre
es allerdings in unserem f’all zu sagen: der bestimmte
Grad ihrer Mannheit dem bestimmten Grad seiner
Weiblichkeit.
•) A. Schopenhauer in „Die Welt als Wille und Vorstellung“ (Meta-
physik der Geschlechtsliebe). Bd. II. Kap. 44. pag. 623. ed. Frauenstädt.
III.
Ethnologisch-historischer Teil.
Die Neigungen des Mensclien
entscheiden sein Geschick.
Nachdem wir die dieser Arbeit zü Grunde gelegten Fälle
analysiert und kritisch behandelt haben, soll es jetzt noch
unsere Aufgabe sein, rückschauend zu untersuchen, ob ver-
wandte Erscheinungen nicht bereits anderweitig in der Lite-
ratur, Geschichte und Gegenwart Beachtung gefunden und Be-
deutung gewonnen haben. Die Vermutung liegt von vorne-
herein nach der ganzen Art dieser und ähnlicher Zwischen-
stufen nahe, dass es sich hier nicht um. in Ort und Zeit be-
schränkte Vorkommnisse und Persönlichkeiten handelt, und
wie sehr diese Annahme berechtigt ist, erkennen wir bei
einer Durchforschung der in Betracht kommenden Quellen.*)
*) Da diese Quellen in ethnographischen und sonstigen Schriftwerken
sehr weit zerstreut liegen, kann der historische und literarische Abriss, den
wir im folgenden geben wollen, keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben;
immerhin wird er als erster Versuch einer zusammenfassenden Darstellung für
den weiteren Ausbau einer Geschichte des Verkleidungstriebes und der Trans-
vestiten eine nicht ganz ungeeignete Grundlage bieten können. Wir möchten
aber nicht unterlassen, unsere Leser zu bitten, uns gütigst davon in Kenntnis
zu setzen, falls sie wesentlichere Lücken bemerken oder in Reisewerken, Zeit-
schriften und sonstigen Veröffentlichungen aut Vermerke stossen, die hier
keine Berücksichtigung gefunden haben. Hinsichtlich der den Zeitungen, Zeit-
schriften, Gerichtsberichten usw. entnommenen Fälle dieses Kapitels sei be-
merkt, dass natürlich nur ein Teil derselben auf seine absolute Genauigkeit
nachgeprüft werden konnte. Gleichwohl halte ich auch diese Mitteilungen als
Ganzes genommen für ein zuverlässiges und ebenso verwendbares Material wie
die aus den Werken der Ethnographen, Historiker usw. zitierten Beispiele,
abgesehen davon, dass gerade diese Notizen besonders lebendig den Eindruck
aktueller Vorkommnisse auf diesem Gebiete wiederspiegeln. Ira Beiwerk mögen
in dem einen oder andern Falle gelegentliche Unrichtigkeiten unterlaufen sein.
H i r s c h t e 1 d , Die Transvestiten. 20
:306
Lässt sich (loch aus ihnen die zunächst befremdliche Tatsache
nachweisen. dass der Verkleidungstricb älter ist, als — die
Kleidung selbst, anscheinend ein Widerspruch in sich, in
Wirklichkeit aber nur ein Grund mehr für die Auffassung,
dass diese Neigung nicht auf einer blossen Freude an
schöneren Formen, Farben und Stoffen beruht, sondern auf
dem meist unbewussten Drang, dem inneren Weibge-
fühl einen äusseren Ausdruck zu geben. Ich habe einige
Male Transvestiten, die besonders stark über die Undurch-
führbarkeit ihrer Wünsche klagten, eine wohl etwas sophistisch
klingende, im Grunde aber wohlgemeinte Frage vorge-
legt, deren Beantwortung ihnen meist nicht geringe Schwierig-
keiten bereitete und die zu entscheiden auch in der Tat nicht
leicht ist, die Frage: .,Was würden Sie denn nun aber tun,
wenn sie in einem Volke geboren wären und lebten, in dem
Mann und Frau nackt gehen oder beide dieselbe
Kleidung tragen?“ Ein schlagfertiger oder gut unter-
richteter Transvestit hätte da zunächst die Gegenfrage stellen
können; ..Gibt es oder gab es überhaupt Länder, deren Ein-
So ergab bei dem Fall, der mit der Marke: „Ein Selbstmörder in eleganter
Frauenkli'idung“ durch die Zeitungen lief, eine Nachprüfung, dass diese ele-
gante Toilette ein sehr einfaches Tuchkleid im Werte von 45 Mark war.
Was den Hauptinhalt, auf den es hier ankommt — die Verkleidung des
eigcn(’n Geschlechts — betrifft, so verbürgen der Charakter der Zeitungen,
in denen die Mitteilungen zuerst erschienen sind, und vor allem der
ganze innere Zusammenhang die Glaubwürdigkeit. Bezüg-
lich der Abkürzungen sei bemerkt, dass J h b. bedeutet: „Jahrbücher
für sexuelle Zwischenstufe n“, Mb. = „Monatsbe-
richte des wissenschaftlich-humanitären Komitees“
und Z. f. S. = „Zeitschrift für Sexualwissenschaft“.
Wertvolle literarische Hinweise für dieses Kapitel erhielt ich besonders von
meinem Freunde Eduard Bertz in Potsdam, ferner von meinen
Kollegen Dr. Bloch in Charlottenburg, Dr. v. T r i c h t in Am-
sterdam, Dr. F. Kraus in Wien und G. I v e s in London. Ich
benutze die Gelegenheit, um sowohl diesen Herren, als allen ander n.
die mich mit Materialien unterstützten, sowie auch den oben zitierten Au-
toren von Quellenschriften meinen verbindlichsten Dank auszusprcchen, ebenso
den beiden Herren, die die Güte hatten, mich beim Lesen der Korrekturen
zu unterstützen, den Herren Alfred Weber und Paul Przyrembel
in Paris.
307
wohner auf jedes künstliche Symbol ihrer Zugehörigkeit zu
dem einen oder anderen Geschlecht Verzicht leisteten?“ Diese
Frage hätte — soweit ich sehe — verneint werden müssen.
Auch dort, wo ?tlann und Frau nackt gehen, unterscheiden
sie sich stets in der Art und Weise, wie sie ihren Körper
verzierten oder verunzierten, sich bemalten und tätowierten,
sich Einschnitte machten, Löcher einbohrten, Zähne färbten
oder ausbrachen, wie sie sich mit Muscheln, Federn und Fellen
behingen, wie sie die Waffen trugen oder sich die Haare
wachsen liessen. Wenn Rumpf (loc. cit. pag. 284) sagt;
„Tätowierungen haben bei Naturvölkern d e n s e 1 b e n Wert
wie Verhüllungen. Tätowierte Südseeinsulaner kommen sich
ebensowenig nackt vor, wie bekleidete Europäer“, so stimmt
das durchaus mit den Berichten vieler Forschungsreisenden,
beispielsweise mit der Erzählung des Reisenden Mertens*)
überein, dem die Eingeborenen von Luknor, als er sie nach
der Bedeutung des Tätowierens fragte, entgegneten: „Es hat
denselben Zweck, wie eure Kleider, nämlich den Frauen zu
gefallen.“ Dass aber auch schon bei diesen Vorläufern der
Bekleidung der erotischen Verkleidung ent-
sprechende Gebräuche verkommen, zeigt u. a. eine
Mitteilung von Langsdorff,**) aus der hervorgeht, dass die
Aleuten einzelne Knaben ganz weiblich erziehen;
man rupft ihnen den keimenden Bart aus und täto-
wiert sie wie Weiber um den Mund. Noch be-
bezeichnender ist folgender Bericht Schweinfurth’s: ***) „Nicht
selten sieht man Bongoraänner sich auch mit Schmucksachen
weiblicher Art behängen. So tragen beispielsweise viele die
Ohrränder mit Ringen und halbmondförmigen Kupferblätt-
chen besetzt. Andere stecken wie Weiber in die
durchlöcherte Oberlippe einen Kupfer-
nagel mit pilzförmigem Kopf, hin und wieder sogar kleine
*) Waitz-Gerland: Anthropologie der Naturvölker. Leipzig 1872.
Bd. V. S. 67.
*•) von Langsdorff, G. H.: Bemerkungen auf einer Reise um die Welt
in den Jahren 1803 bis 1807. 2 Bände. Frankfurt a. M., Wilmans. 1812.
•*♦) Schweinfurth; Im Herzen von Afrika. Leipzig 1878. pag. 116.
20*
Kiipferscheibetu am häutigsten Ringe oder ein Stück Stroh-
halm.-
Bei den Völkern vollends, die sich bereits in gewebte
Stoffe hüllten, ist überall ein geschlechtlicher
Trachtenunterschied wahrnehmbar. Oft ist der-
selbe freilich ausserordentlich gering, manchmal kommt er
nur in der Länge des Gewandes zur Geltung. So sagt Hein-
rich E 1 i s in seiner Beschreibung einer Reise nach der Hud-
sonbai von den Eskimos: „Die Kleidung der Weiber
ist n u r d a r i n von der Kleidung der Männer unterschieden,
dass sie Jacken tragen, die etwas tiefer in die Knie-
kehle herabreichen.“ Von den alten Deutschen berichtet
Tacitus; „nec alius feminis quam viris habitus“ zu deutsch:
„Die Tracht der Frauen ist nicht verschieden von
der der Männer,“ aber schon Spalart*) weist in seinem
vortrefflichen Werk an Hand von Abbildungen nach, dass
diese Notiz keineswegs mit der Darstellung germanischer
Männer und Frauen übereinstimmt, wie wir sie auf antiken
Denkmälern und Münzen häufig finden. Der Chiton der
griechischen Frauen war ebenfalls mit dem der Männer
nahezu identisch, nur Hessen ihn die Frauen entsprechend ihrer
ruhigeren Lebensw'eise länger über die Füsse herabfallen.
Üeberhaupt bestand bei vielen alten Kulturvölkern, vde den
Griechen, Römern, Aegyptern, Babyloniern und Assyriern
lange Zeit der geschlechtliche Trachtenunterschied nur in der
Drapierung der Gewänder, in der Art wie sie die grossen
ungenähten Umschlagetücher sich umwarfen und rafften. Nicht
ohne Interesse für uns ist eine Bemerkung, die sich bei Ar-
chippus findet; in dieser wird dem Sohn des Alcibiades vor-
gehalten, dass er sein Gewand „w i e e i n W e i b n a c h -
schleppen Hesse, wohl um besser seinem Vater zu
gleichen, der bei Spaziergängen auf öffentlichen Plätzen
seinen langen Purpurmantel in gleicher Weise trüge.“ Es ist
höchst erstaunlich zu beobachten und für die Auffassung der
•) Robert v. Spalart: Versuch über das Kostüm der vorzügliclistcn
Völker des Altertums, des Mittelalters und der neueren Zeiten. 4 Teile.
Wien 1796. Teil II. pag. 335.
309
Tracht als stummer Gebärdensprache überaus lehrreich, wie
meisterhaft es die Alten verstanden, nicht nur das Geschlecht,
sondern auch Rang, Stand und Würde, Bildung und Cha-
rakter, Stolz und Bescheidenheit und viele Eigenschaften sonst
durch den blossen Faltenwurf ihrer Kleider zum Aus-
druck zu bringen. Man denke an die Rednerstatuen im
Lateran und viele andere, die sich in römischen Museen in
Neapel und im Louvre finden.
Die Kunst für die Bekleidung geeignete Stoffe zu weben
ist, wie die ägyptischen Altertümer und Funde in den Pfahl-
bauten zeigen, eine der ältesten prähistorischen Errungen-
schaften der i\Ienschheit. Verhältnismässig viel später verfiel
man auf den Gedanken, die Tücher in kleinere den ein-
zelnen Körperteilen angepasste Stücke zu
zerschneiden, die lange Zeit mit Bändern, Spangen, Nadeln
zusammengehalten wurden, bis ein kluger Mensch den Ein-
fall hatte, die Hüllen durch Nähte dauernder aneinander zu
heften, ein Mann — vielleicht auch ein W^eib — dem die so
ausgedehnte Zunft der Herren- und Damenschneider wohl
sicherlich schon ein Denkmal errichtet haben würde, wenn
nicht seine Personalien gänzlich dem Dunkel der Vergessen-
heit anheim gefallen wären. Dass auch unsere Beinkleider
ursprünglich aus zw^ei einzelnen röhrenförmig um die Beine
gelegten Tücher bestanden, spiegelt sich nicht nur in römischen
Reliefs, sondern auch in der noch jetzt allgemein üblichen
Bezeichnung; „ein Paar Hosen“ wieder. Vor Erfindung der
Webekunst bedienten sich die wilden Völkerschaften ab-
gezogener Häute, tierischer Pelze, die ja auch jetzt noch
ein beliebtes Kleidungsstück sind und noch früher scheint
man um die Lenden Blätterwerk gelegt zu haben; wenigstens
lässt die Stelle aus dem I. Buch Mosis (cap. III. 7.) darauf
schliessen, welche lautet: „Da waren beider Augen aufgetan
und sie wurden gewahr, dass sie nackt seien — da nahmen
sie Feigenblätter und machten sich Schürzen.“*) Noch
•) Bei den Ipurinaindianerinnen in Brasilien findet man neben dem
Fransenbehang aus Baumwollstreifen auch jetzt noch gelegentlich das Fei-
genblatt als einziges Kleidungsstück. Pflanzengürtel
tragen u. a. auch Einwohner des Kongogebicts, Grasröcke die Samoanerinnen.
:ilO
zwei andere Stellen aus demselben ersten Buch Mosis ver-
dienen in Bezug auf die Geschichte der Kleidung erwähnt
zu werden. Kapitel II. 25 heisst es; „Und sie waren beide
nackt, der Mensch und sein Weib und schämten sich
nicht“ und im dritten Kapitel, Vers 21 hören wir, dass
„Gott dem ^lenschen und seinem Weibe Röcke von Fell
machte und sie ihnen anzog.“ Von einer unterschiedlichen Ge-
schlechtstracht ist hier noch nicht die Rede, aber sie muss
wohl vorhanden gewesen sein und es muss sich auch schon er-
eignet haben, dass gelegentlich Personen des einen Geschlechts
die Tracht des anderen anlegten, sonst wmrde nicht Moses irt
V. Buch Kap. 22, 5 so energisch dagegen protestiert haben.
Er sagt hier (nach der wörtlichen Uebersetzung de Wettes):
„Ein Weib soll nicht Mannskleider tragen und ein Mann soll
nicht das Gewmnd eines Weibes anziehen; denn ein Greuel
Jehovahs, Deines Gottes ist, wer solches tut.“ Luther über-
setzt: „Ein Weib soll nicht Mannsgeräte tragen und ein
Mann soll nicht Weiberkleider antun; denn wer solches tut,
der ist dem Herrn, Deinem Gott, ein Greul.“ Das hebrä-
ische Wort ',72 um das es sich hier handelt, bedeutet
nicht "bloss Gewandung, sondern „alles, was man an
sich trägt.“ Die Kommentatoren des Deuteronomiums
sind hinsichtlich der Deutung dieser bemerkenswerten Bibel-
stelle verschiedener Meinung. Bei Keil und Delitzsch*) finde
ich folgendes:
V. 5; Wie das Eigentum des Nächsten dem Israeliten
heilig sein soll, so nicht minder oder noch mehr die gött-
liche Sonderung der Geschlechter, die das bürgerliche Leben
durch die jedem Geschlechte eigentümliche Kleidung geheiligt
hat. „Nicht soll Männergerät am Weibe sein und der Mann
soll nicht Weiberkleidung anziehen.“ ihr bedeutet weder
bloss die Kleidung, noch bloss Waffen, sondern umfasst alles
Haus- und andere Gerät, wie Ex. 22, ß; Lev. 11, 32; 13,
49. Die nächste Absicht dieses Verbotes geht nicht auf Ver-
•) Biblischer Kommentar über das alte Testament, herausgegeben von
C. Fr. Keil u. Franz Delitzsch. I. Teil: Die Bücher Mose’s. Leipzig.
Dörffling u. Franke 1870.
— . 311
hütung von Unzucht oder Opposition gegen götzendienerische
Gebräuche; denn die Belege, welche z. B. Spencer de legg.
1. II, c. 29 für solche Gebräuche bei heidnischen Völkern
angeführt hat, sind weit hergeholt, sondern auf die Heilig-
haltung des durch die Schöpfung von Mann und Weib be-
gründeten Unterschiedes der Geschlechter, an dem Israel sich
nicht versündigen soll. Jede Aufhebung oder Ver-
wischung dieses Unterschiedes, wie z. B.
auch die Emanzipation des Weibes, ist,
weil naturwidrig, ein Greuel vor Gott.“
Eine andere theologische Autorität*) legt die Stelle
so aus ;
„Vom Eigentum des Nächsten zum Eigentümlichen in
der Natur übergehend, kommt v. 5. die Eigentümlichkeit der
Geschlechter in Betracht, und zwar nach der je eigen-
tümlichen äusseren Erscheinungsweise, indem, was jeder hat,
trägt. ist etwas Fertiges, Verfertigtes, Zeug, Waffe,
Gerät, nicht bloss Kleidung, die gleichfolgend besonders be-
tont vurd. , Der konkrete Ausdruck soll die Idee exemplifi-
zieren, dass jeder Eingriff in die Natureigentümlichkeit der
Geschlechter, solche Verwischung der geschlechtlichen Diffe-
renz, wie wenig es in Beziehung auf den Nächsten als Eigen-
tumsschädigung taxiert werden möchte, um so mehr eine
solche im Blick auf Gott ist. Zu einseitig hat man an
Verhütung von Unzucht durch verkleidete Männer gedacht,
zu weit her einen Gegensatz gegen götzendienerische Ge-
bräuche geholt. Was „^lannesgerät auf einem Weibe“ an-
langt, so bot dafür die Geschichte Aegyptens gerade da-
mals ein drastisches und lehrreiches Beispiel. Sollte es Mose
bekannt gewesen sein? Dann würde sich der Ausdruck 'ibD
erklären. Er deutet auf die Unnatur, dass die zartere Frau
in männlicher Rüstung einhergeht, ein Mannweib in Ge-
sinnung und Erscheinung. Denn Ha’tschepsut (Hatasu),
die königliche Witwe und Schwester des Thotmes II, des
*) Das Deuteronomium oder das Fünfte Buch Mose. Theologisch-
homiletisch bearbeitet von Fr. W. Julius Schräder. Zweite verbesserte
Auflage, herausgegeben von Pastor Lic. Georg Stosch-Berlin. Bielefeld u.
Leipzig. Velhagen etc. 1902.
312
wahrscheinlichen Pharao des Auszugs, die nach diesem re-
gierte, nahm plötzlich nach dem Tode ihres Mannes
miinnliche Kleidung an und scheint darauf bestan-
den zu haben, als ein Mann angeredet zu werden. Sie suchte
das Andenken ihres von den Göttern verlassenen und ge-
hassten Mannes „in jeder nur denkbaren Weise auszutilgen"
(Brugsch). Siehe Urquhart II, S. 214.“ Dieser seiner Aus-
legung fügt der Kommentator noch folgende homiletische Zu-
sätze bei (p. 136):
V. .5. Luther: „Hier wird nicht verboten, was Ge-
fährlichkeit zu meiden oder Scherz zu treiben oder die Feinde
zu betrügen geschehen mag; ist insgemein zu verstehen, dass
eine Frau ihre Geschäfte besorge, ein Mann seine, in Summa:
jeglicher an dem Seinen sich genügen lasse usw. — B e r 1.
Bib.: „Sonderlich ein Lehrer, wenn er etwas tut, das ihm
nicht ansteht, ist als einer, der seine Kleider verwechselt hat.
Ist auch den Männern was Unanständiges, dem
Zierat und Putz der Weiber (1. Petr. 3, 3)
nachzuahmen.“ — Calov; ..Von den Aegyptern hat
das Fastnachtswesen unter den Heiden seinen Ursprung ge-
nommen.“ — T u b. Bib.: „Masken und Wechslungen der
Kleider geben zu vielen Sünden Anlass, Eph. 5, 4“ (1. Kor.
11, 4ff). — Kein Mannweib, auch keine Entmannung, kein
weibischer Mann!“
Fast alle anderen Bibelkommentatoren stimmen darin
überein, dass dieses „Verbot der Verhüllung des eigenen
Geschlechts offenbar in erster Linie ein Protest gegen eine
Kultsitte sein sollte, die sich im syrischen, phönizischen und
anderem Heidentum vorfand, wo sogar bei Prozessionen
Männer in Frauengewandung und Frauen in Männertracht
einherzogen.“ Dass dies zu der Zeit, in der die mosaische
Gesetzgebung entstand und lange vor- und nachher bei reli-
giösen Zeremonien vielfach vorkam, trifft zu, ob es aber
dem Gesetzgeber, als er das '"ibrigens nur der jüdisch-christ-
lichen Religion eigene Verbot des Trachtenwechsels er-
liess, wirklich nur um die Erhebung eines Protestes dagegen
zu tun war, scheint mir sehr fraglich. Wie alle Orientalen,
so erblickten auch die alten Juden im Weibe einen Menschen
313
zweiter Klasse. Wurde ein Mädchen geboren, so freute man
sich — auch jetzt geschieht dies leider noch vielfach — nicht,
dass, sondern trotzdemes ein Mädchen war. Im dritten
Buch Moses, Kap. XII, 2, wird ausgeführt, dass „wenn ein
Weib einen Knaben gebiert es 7 Tage unrein ist und 33 Tage
nicht zum Heiligtum kommen darf; wenn aber ein Weib ein
jMädchen gebiert, so bleibt sie 14 Tage unrein und müsse
66 Tage zu Hause bleiben," eine Stelle, die viele Kommen-
tatoren mit der Anschauung zusammenbringen, die man von
der lieber legenheit des männlichen über das weibliche Ge-
schlecht hatte. Nach der ganzen im Orient herrschenden
Auffassung musste es für den Mann als eine Erniedrigung,
für die Frau als eine Ueberhebung erscheinen, wenn er
Frauentracht, s i e Männerkleidung anlegte.
Einer der Bibelkommentatoren — Bertholet — beruft
sich bei Buch V. 22. 5 auf den Kirchenvater Eusebius,
der erzählt hätte, dass bei dem Hybristika-Fest die Weiber
in männliche Gewänder gekleidet, die Männer aber in Weiber-
kleider gehüllt ( „ yvviöi/; rivsg äräotg otx uv6otg ru asj-ivov (ftaswg
dnuQvr^aufiavoi“) Opfer brächten. Er hatte auch noch hin-
zufügen können, dass derselbe Kirchenvater ( Eusebius LXXXIV,
de laud. Const. p. 516) schildert, dass sich auf dem Gipfel
des Libanon ein Tempel der Aphrodite befunden habe, in dem,
wde er sagt: „einige Adrogynen, die eher Weiber als Männer
genannt werden sollten, da sie die Würde ihres Geschlechtes
ablegten und litten was Weibern zusteht, die Gottheit ver-
ehrten." In seiner ausgezeichneten Arbeit: ..Uober die an-
drogynische Idee des Lebens"*) hat Dr. v. Römer viele
Beispiele für die Verbreitung ähnlicher Kultsitten ge-
geben; da gab es im Altertum dem Dionysos und
der Ariadne gewidmete Feste, in denen zwei Jünglinge in
Weiberkleidern mit Weinrankeu und reifen Trauben geschmückt
den Chorus anführten, da gab es den Gottesdienst des Attis
und der grossen Mutter, bei welchem die Priester Frauen-
kleider anlegten; sie wurden deshalb Kureten (= Maidlinge
von xovoat =. Mädchen) genannt. Da hatte man die Tharge-
) Jahrb. E. sex. Zwisch. V. pag. 712 — 939.
314
lien. oin Reinigun?s- und Sühnet'oet für den Gott Apollo und
die Artemis, zu dessen Feier es gehörte, dass zwei Männer
zum Opfer der Sühnung herausgeführt wurden, von denen
der eine die Männer, der andere die Frauen dar-
stellte. da kannte man die dem Herkules geweihten Mysterien
in Antimachia. wo der TTerkulespriester el)cnfalls das Opfer
bringen musste, in weiblicher Kleidung zu erscheinen. Im
letztgenannten Falle liegt cs nahe, zu vermuten, dass da-
mit auf den alten Mythos von Herkules und Omphale ange-
spielt werden sollte. Omphale, die lydische Königstochter,
so heisst es in der Heraclessage, kaufte von Hera den starken
Heracles. dem sie einen oder mehrere Söhne gebar. In ihrem
Dienste soll Herkules „zum Weibe“ geworden sein, weich-
liche lydische Weiberkleider angelegt, Wolle gesponnen und
die häuslichen Verrichtungen besorgt haben, während die Ge-
m.ahlin seine Löwenhaut anlegte und die Keule des Helden
schwang. _Der Nacken, dem einst bei Atlas der Himmel
eine leichte Last gewesen war, trug jetzt ein goldenes
Weiberhalsband, die nervigen Heldenarme umspannten Arm-
bänder. mit Juwelen besetzt, sein Haar quoll geschoren
unter einer Mitora hervor, langes Frauengewand wallte über
die Heldenglieder herab. So sass er, den Rocken vor sich, unter
andern ionischen Mägden, spann mit seinen knochigen
Fingern den dicken Faden ab, und fürchtete das Schelten
seiner Herrin, wenn er sein Tagewerk nicht vollständig ge-
liefert. War sie in guter Laune, musste der Mann in Weiber-
tracht ihr und ihren Frauen die Taten seiner Helden jugend
erzählen, wie er die Schlangen mit starker Knabenhand er-
drückt. den Riesen Geryones als Jüngling erlegt, der Hydra
den Kopf abgeschlagen und den Höllenhund aus dem Hades
heraufgezogen hatte. Die Weiber aber ergötzten sich an
diesen Geschichten, wie man an Ammenmärchen seine Freude
hat.“ Nach einigen Jahren erwachte Herkules aus seiner
Verblendung. _Rasch entschlossen schüttelte er die Weiber-
kleider von sich ab und bald war er wieder der kraiterfülltc
Sohn Jupiters, der noch viele Heldentaten verrichtete."*)
*) Vgl. Gustav Schwab: Die schönsten Sagen des klassischen Alter-
tums nach seinen Dichtern und Erzählern. Gütersloh 1907. p. 163.
315
Diese Sage soll übrigens asiatischen Ursprungs sein und
ausgehen von der Geschichte der lydischen Mondgöttin und
ihres Gemahls, dem Sonnengott, von denen man glaubte,
dass sie „die Eigenart beider Geschlechter tauschten.“
Aber nicht nur bei den antiken Kulturvölkern und nicht
allein in den religiösen Kulten, sondern auch überall sonst,
wo Land und Leute sorgsam durchforscht sind, gelangen wir
zu dem Ergebnis, dass Karsch in seiner so überaus instruk-
tiven Arbeit über „Uranismus oder Päderastie und Tribadie
bei den Naturvölkern“ so prägnant dahin zusammenfasst
dass: „1. weder alle als Weiber, d. h. mit weiblichen Ge-
burtsorganen geborenen Personen, noch alle als Männer,
d. h. mit männlichen Begattungswerkzeugen ausgestatteten
Menschen, den Beruf fühlen, die Rolle zu spielen,
welche durch die Natur ihrer Geschlechtsorgane ihnen auf er-
legt zu sein scheint: für die Erhaltung und Vermehrung des
Menschengeschlechtes ihr Scherflein beizutragen und in Ver-
bindung damit diejenigen Arbeiten zu verrichten, welche die
menschliche Gesellschaft den lediglich nach ihren ver-
schiedenen Geschlechtsorganen klassifizierten beiden Ge-
schlechtern anzuweisen pflegt; dass vielmehr eine mehr oder
minder grosse Anzahl Individuen dahin neigt, die
Rolle des anderen, ihm äusserlich ent-
gegengesetzten Geschlechtes, sei es in
einigen, sei es in allen Beziehungen, zu
übernehmen ; dass 2. solche Personen ohne Ausnahme
alle Natur Völker aufzuweisen haben oder hatten, als
welche bekannt sind: I. die negerartigen Völker,
II. die M a 1 a y e n , III. die Indianer und IV. d i e
Arktiker oder Hyperboreer.“
In diesen Schlussfolgerungen seiner umfangreichen Studie
lässt der hervorragende Berliner Sexualforscher zunächst die
Frage offen, ob alle Personen die „dazu neigen, die Rolle
des ihnen äusserlich entgegengesetzten Geschlechts zu über-
nehmen“ als homosexuell empfindend anzuseheu sind. Diese
vorsichtige Ausdrucksweise verdient Anerkennung; es ist
nicht anzunehmen, dass die Forschungsreisenden die ver-
316
schifxleneu Grade der Zwischenstufen: H e r m a p h r o -
diten (I. Gr.), Androgynen (II. Gr.), TJ r a -
nier (III. Gr.) und Transvestiten (IV. Gr.)
auseinanderzuhalten imstande gewesen sind angesichts
ihrer mangelhaften Vorkenntnisse auf diesem verhält-
nismässig neuen Gebiet und der Schwierigkeit, diese Unter-
scheidung ohne sehr eingehende Exploration und Unter-
suchung zu bewerkstelligen. Was den Ethnologen greifbar
entgegentrat, war im wesentlichen doch nur die Erscheinung,
dass Frauen wie Männer, Männer wie Frauen lebten.
Einige*) glaubten, dies ohne weiteres als Zeichen ,,scheusslicher
Entartung“ — eine der auf diesem Gebiet ja so gebräuch-
lichen Bezeichnungen — ansehen zu dürfen. Selbst Oskar
Baumann**) sagt, ,,die Männer von angeboren-konträrer Sexu-
alität bei den Bantunegern seien daran kenntlich, dass sie
^von Jugend auf keinen Trieb zum Weibe zeigten, vielmehr
an weiblichen Arbeiten, wie Kochen, Mattenflechten u. dergl.
Vergnügen fänden; sobald ihre Angehörigen dieses bemerkten,
fügten sie sich ohne Widerstreben dem Tatbestände dieser
Eigenheit; der junge Mann lege Weiberkleidung an, trage
das Haar nach Weiberart geflochten und benehme sich völlig
als Weib.“
Da feminine Homosexuelle sich gelegentlich als Frauen
verkleiden, ziehen viele den Rückschluss, dass die-
jenigen, die die Neigung haben, sich so zu verkleiden nun
auch stets homosexuell sein müssten. Dieser Rückschluss hat
sich aber als Trugschluss herausgestellt: so wenig alle
Homosexuellen effeminiert, so wenig sind alle Effeminierten ho-
mosexuell. Selbst wenn ein Reisender bei einem Verkleideten
im Einzelfall gleichgeschlechtlichen Verkehr nachgewiesen
•) Vgl. Bastian, Adolf: Der Mensch in der Ge.schichte. Zur Begrün-
dung einer psychologischen Weltanschauung. 3 Bände. Leipzig. Wigand.
1860.
**) Baumann, Oskar: Konträre Sexualerscheinungen bei der Neger-Bc^
völkerung Zanzibars. Zeitschrift für Ethnologie. Organ der Berliner Ge-
sellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. 31. Jahrg., iSO-b
Heft 6, S. 668—670, mit 2 Textfiguren S. 669. Berlin, Asher & Co. 1899.
317
hätte, was wohl nur ganz ausnahmsweise vorgekommen sein
dürfte, bliebe nach unseren obigen Darlegungen noch zu ent-
scheiden, ob dieser eine sekundär-episodische Folge des pri-
mären Weibgefühls und Verkleidungstriebes ist oder ob der
letztere sich auf dem Boden urnischer Anlage entwickelt hat.
Es ist aber auch möglich, dass überhaupt keine triebhafte
Neigung — gleichviel ob rein transvestitisch oder homo-
sexuell — die Verkleidung verursacht hat, sondern dass sie
von ganz anderen, mehr äusseren Gründen veranlasst
wurde, von denen wir noch eine ganze Reihe kennen lernen
werden. In diesen Fällen schliesst freilich der äussere Grund
nicht die innere Neigung aus. Wenn beispielsweise v. Römer
uns scharfsinnig klarlegt, dass in den antiken IMysterien das
Auftreten von Frauen als Männer und Männer als Frauen die
androgynische Idee des Lebens und der Gottheit, das mann-
weibliche Prinzip des Zeugens und Empfangens in Einem
versinnbildlichen sollte, so schliesst das nicht aus, sondern lässt
es sogar wahrscheinlich erscheinen, dass man zur Verkörpe-
rung dieses tiefen Gedankens vorzugsweise Jünglinge und
Jungfrauen w'ählte, die sich infolge ihres Wesens besonders
gut eigneten und dazu neigten, die Rolle des andern Ge-
schlechts zu übernehmen.
Manche Ethnologen scheinen sich übrigens mehr oder
weniger deutlich bewmsst gewiesen zu sein, dass die Beur-
teilung der sich ihnen engegenstellenden Erscheinung keine
ganz so einfache ist. Sehr deutlich geht dies unter anderen
aus der sorgsamen Zusammenstellung hervor, die uns Karsch
in der eben genannten Arbeit über die amerikanischen Natur-
völker — die Indianer — geliefert hat. Von diesen hoben zahl-
reiche Gewährsmänner einerseits hervor, „dass sie im allgemeinen
weniger Neigung zum geschlechtlichen Verkehr an den Tag
legten als andere Menschenrassen,“ andererseits dass es vom
nördlichsten Nordamerika bis zum südlichsten Südamerika
kaum einen Indianerstamm gäbe, in dem sich nicht eine über-
raschend grosse Anzahl „verweibter Männer“ fände, denen
eine nicht unbeträchtliche Zahl von Frauen gegenüberstandc
„die in allem den Männern nachahmten, als w'enn sie auf-
gehört hätten, Weiber zu sein.“ Schon im Jahre 1697
iinterächied der Forschungsreiseudo Hennepin*) unter diesen
von der N'orrn abwcichcmien .Männern drei Forme n. Wir
zitieren im folgenden den Bericht K a r s c h’s (in dem
wir die für unser Thema besonders bemerkenswerten Stellen
durch Sperrdruck kenntlich machen). Hennepin unterschied:
.,1. H e r m a p h r 0 d i t e n , d. h. Zwitter, Personen mit
angeblich männlichen und weiblichen Geschlechtsorganen, II.
-Männer mit weiblichem Aussehen, die sich
mit weiblichen Arbeiten beschäftigten
und weder auf die Jagd gingen noch als
Krieger in den Krieg zogen; sie unter-
schieden sich von den Hermaphroditen
dadurch, dass sie bloss als ^länner galten;
endlich III. Männer, welche sich anderer Personen männ-
lichen Geschlechts, unter ihnen auch der Männer von weib-
lichem Aussehen, zur Befriedigung ihres Geschlechtstriebes be-
dienten. Die Hermaphroditen aber wurden wohl mit Unrecht
von den Männern mit weiblichem Aussehen scharf getrennt
gehalten und dürften höchstens einen Unterschied im Grade
der Verweiblichung (Effemination) geboten haben, was denn
auch von C o r e a 1 am Ende des 17. Jahrhunderts
unbedenklich angenommen wird. Eine kurze Uebersicht über
die Geschichte dieser Effeminierten gebietet indessen, sie vor-
läufig auseinander zu halten.
1. Die Hermaphroditen. Wenn man den zahl-
reichen Schriftstellern, welche Hermaphroditen oder Zwitter
unter den Indianern gesehen oder von solchen gehört haben
wollen oder die .\ngaben anderer über sie in gutem Vertrauen
hinnahmen, Glauben schenken wollte, so müsste die neue
Welt nicht nur zur Zeit, als sie entdeckt wurde, solche mit
mehr oder weniger vollkommenen Zeugungsorganen der beiden
Geschlechter ausgestattete Wesen in grosser Menge hervor-
gebracht haben, sondern müsste auch noch jetzt von derlei
Geschöpfen wimmeln und ein Dorado für den .\natomen sein.
•) Hennepin, R. P. Louis; Nouvelle decouverte d’un tres grand pays
situe en .Imerique entre le Nouveau Mexique et la Mer Glariale. Utrertit,
Broedelet. 1697.
319
Wenn jedoch, was selten geschah, an einem
solchen hypothetischen AV ander einmal
eine Ocularinspektion vorgenommen wurde,
so stellte es sich jedesmal als einen nor-
mal gebauten Mann heraus, welchem weib-
liche Formen, Bewegungen und Triebe an-
hafteten, so dass es nicht um einen rein
somatischen, wie man vermutete, sondern
um einen psychophysischen Hermaphro-
ditismus sich handelte.
Hermaphroditen in grosser Zahl sollten besonders die
nordamerikanischen, von vielen Indianerstämmen bewohnten
Gebiete Florida und Louisiana zur Zeit ihrer Unterwerfung
unter europäischen Besitz beherbergt haben; ihr Vorkommen
in Florida behauptete anscheinend zuerst 1586 Laudonniere
und 1591 le AI o y n e , später, 1717 Lapper und 1744
Charlevoix ; eine ausführliche Abhandlung über die
Hermaphroditen von Florida verfasste 1769 P a u w ; „Des
Hermaphrodites de la Floride“, in der er die Sage von ihnen
für Gewissheit ihrer Existenz nahm und eine Erklärung für
sie zu geben versuchte; der ungläubige Zimmermann
entschuldigt ihre Erwähnung lediglich mit dem Ansehen, in
welchem P a u w stehe, und meint, Pa uw habe sich
von dem AVunsche leiten lassen, durch ihre
Hermaphroditen die Ausartung der Ameri-
kaner noch deutlicher bewiesen zu sehen;
er gibt verschleiert der AnsichtAusdrupk,
dass es bei denHermaphroditen nur um als
AA'eiber verkleidete und gezierte Manns-
personen sich gehandelt habe. Ganz ohne Be-
denken äussert Schneider, der Eifer, mit welchem
P a u w „diese Kinäden" zu Hermaphroditen umzustempeln
gesucht habe, könne ihm nur ein Lächeln abnötigen. Lafitau
vermochte 1724 in den Hermaphroditen nur
effeminierte Männer zu erblicken, deren
AVesen er mit der griechischen Liebe in
A^ e r b i n d u n g bringt und idealisiert, und auch Bruzen
LaMartiniere schliesst sich 1726 ganz an C o r e a 1
320
an, nach dein diese angeblichen Hermaphroditen eben nichts
als e f f e m i n i e r t e Männer waren, welche, wie
C 0 r e a 1 hinzufügte, in gewissem Sinne ja auch wirkliche
Hermaphroditen sind („qui en un sens sont des veritables
Hermaphrodites", der Wortlaut, den La M a r t i n i e r c
von C 0 r e a 1 übernimmt). D u m o n t mochte 1753 zwar
nicht behaupten, dass es in Louisiana Hermaphroditen unter
den Indianern nicht gegeben hätte, da nach fast allen Schrift-
stellern dieses Land voll von solchen Leuten gewesen sein
solle; allein er versichert seinerseits, auf seinen weiten
Reisen in jenem Lande nicht einen einzigen Hermaphroditen
angetroffen zu haben; er glaube, die Fabel von ihnen be-
ruhe auf einer Verkennung der Aufseher der Frauen bei den
Natchez und anderen Stämmen, welche nicht nur ihr
Haar lang trugen und in weiblicher Tracht
einhergingen, sondern den Barbaren wahrscheinlich
auch zur Befriedigung ihrer Lüste gedient hätten, wenn
sie selbe auf deren Jagd- und Kriegszügen, die unter Zurück-
lassung der Frauen vor sich gingen, begleiteten. Nicht ohne
wesentliches Tnterresse ist übrigens, dass in Louisiana auch
die in den Tempeln auf Fellen schlafenden Priester in
weiblicher Tracht erscheinen mussten (Bastian).
Eine von einer Kupfertafel begleitete Schilderung der
Tätigkeit der Hermaphroditen in Florida liegt vor von
Jacobus le Moyne 1591; eine nach einem etwas ver-
kleinerten photographischen Abdruck dieser Kupfertafel (Fol.
XVII) hergestellte Textabbildung wurde der vorliegenden Ab-
handlung (K arsch’s) beigefügt; die Hermaphroditen sind hier
in langem Haare, als Pfleger ihrer erkrankten Landsleute,
die sie teils auf dem Rücken, teils auf Bahren in die für
Kranke bestimmten Pflegestätten tragen, dargestellt. Diese
Hermaphroditen, von kräftigerer und mehr ausdauernder Kon-
stitution als die Weiber, wurden nach 1 e Moyne in Florida
als Träger von Lasten aller Art beschäftigt; besonders trugen
sie den in den Krieg ziehenden Häuptlingen deren Gepäck
nebst Speisevorräten; die durch Verwundung oder Erkrankung
Kampfunfähigen schafften sie vom Platze, die Toten auf die
Grabstätte; von ansteckenden Krankheiten Befallene brachten
321.
sie an abgelegene Orte und pflegten sie dort bis zu ihrer
Genesung.
Nach de Lahontan gab es bei den Illinois ausser
notorischen Päderasten noch Hermaphroditen, welche beider
Geschlechter ohne Unterschied sich bedienten („mais ils font
indifferemment usage des deux sexes“), eine Behauptung,
welche wohl nur auf Vermutung beruht.
Ross Cox schilderte seine seltsame Begegnung mit einem
„hermaphroditischen“ Häuptlinge der Kettle-Indianer; 1814
spricht de 1 a Salle von Hermaphroditen bei den Illinois
als einer Wirkung des Klimas ihres Heimatlandes, und auch
noch im vorletzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts ist von
sogenannten Hermaphroditen unter den Indianerstämmen Nord-
amerikas im Osten und Westen des Felsengebirges seitens
einiger Aerzte im Dienste der Vereinigten Staaten die Rede
(Holder). Holder selbst hat einen im Absaroke-Stamme
lebenden jungen Indianer, der weiblich gekleidet ging und den
er deshalb für hermaphroditisch hielt, nach dem Vorgänge
H a m m 0 n d’s körperlich genau untersucht und zu seiner
Ueberraschung als durchaus normalen
Mann befunden; mehrere Jahre hatte die junge Rot-
haut als weiblicher Teil, wie man sagte, einer ehe-
lichen Gemeinschaft mit einem wmhl bekannten männlichen
Indianer der Absaroke-Stammes zusammengelebt (Es folgen
hier Bemerkungen Holders über die Ausführung des mann-
männlichen Verkehrs, die wir als für diese Arbeit belang-
los übergehen können.)
2. Die ver weihten Männer oder Effcmi-
liierten. Von verweibten Männern unter den Indianern
handelte bereits 1555 Cabega deVaca; er scheint sie
für Impotente angesehen zu haben. Wie weibliche
Personen von so männlicher Herzhaftig-
keit, dass sie sich sogar aus dem Kriegs-
handwerk eine Ehre machten, unter den
Indianern gefunden wurden, so gab es
auch andererseits Mannspersonen, welche
sich wie Weiber kleideten. Bei den Illinois, den
Sioux, in Florida, Louisiana und Yucatan lebten junge
H i r s c b t e 1 d , Die Transvestiten. 21
Männer in W e i b e r t r a c h t , die ü i o dann
zeitlebens b e i b e h i e 1 t e n ; sie hatten Gefallen au
weiblichen Beschäftigungen, verheirateten sich niemals mit
Weibern, zogen nicht in den Krieg, wohnten aber mit Vor-
liebe religiösen, auf das Gemüt wirkenden Zeremonien bei.
An vielen Orten erlangten sie dadurch ein Ansehen, welches
sie als einem über den gemeinen Mann erhabenen Stande an-
gehörig betrachten liess (Lafitau, Baumgarten,
Marquette). Martius ist nicht geneigt,
die Männer, welche sich als Weiber klei-
deten, sich ausschliesslich weiblichen Be-
schäftigungen widmeten, spannen, webten,
Geschirre anfertigten u. dergl., als eine
besondere Klasse anzusehen; „dass diese Sitte
so seltsam travestierter Männer, welche vorzugsweise und zu-
erst von den Illinois, den Sioux und anderen Indianern in
Lousiana, Florida und Yucatan berichtet worden, so fern
von jenen Ländern, auch im südlichen Brasilien
wieder erscheint, ist um so merkwürdiger als überhaupt das
Wesen und die Bestimmung solcher Mannweiber ein Rätsel
in der Ethnographie Amerikas ausmacht. Uebrigens scheinen
alle Berichte darin übereinzustimmen, dass die Mannweiber bei
den Indianern in geringer Achtung stehen. Von einem be-
sonderen Kultus oder einer Ordensverbrüderung findet man
keine Spur. Es ist mir daher wahrscheinlicher, dass s i e
mit der so tief eingewurzelten Sittenver-
derbnis der Indianer Zusammenhängen, als dass man von
ihnen auf eine Sekte von Entsagenden und sich in frei-
williger Demut Erniedrigenden schliessen, oder, wie Lafitau
getan, in ihnen Priester der Dea syria, wenn gleich in
tiefster Ausartung, erkennen dürfte“ (Martius 1832, 1867).
Die Männer, welche sich gleich Weibern
kleideten und alle Geschäfte der Weiber
besorgten, wurden von den jungen Männern förmlich
wie Weiber behandelt, lebten auch in einem gewissen „un-
natürlichen Umgänge“ mit ihnen; der alte C h a r -
bonneau, nachdem er 37 Jahre im Osten des Felsenge-
birges geweilt hatte, behauptete sogar, dass in dieser Hin-
323
sicht die Mannweiber der Canadier den Weibern vorgezogen
würden; während Prinz Maximilian zu Wied in
Nordamerika weilte (1832 bis 1834), sollen sich nicht viele
solcher Geschöpfe in den von ihm besuchten Indianerstämmen
befunden haben, unter den Mandan’s nur ein grosser,
taubstummer Mann und unter den Mönnitarri’s zwei bis drei
solcher Individuen (Wied II 133); Wied gibt (II 133,
Fussnote) ausdrücklich an, dass der Gebrauch der Mann-
weiber für die Indianerstämme der Sauk’s, Foxes, Mandan’s,
Mönnitari’s, Crow^’s, Blackfeet’s, Dakota’s, Assiniboin’s,
Arrikkara’s und die meisten Nationen des innern Nord-
amerika erwiesen sei, mit Ausnahme allein der Menomomie’s
(Folles avoines) und der Ottäwa’s (Courtes oreilles). Das
Lebensalter, in welchem diese männlichen
Indianer zuerst ihrGeschlecht verleugnen,
indem sie ihren Körper in weibliche Klei-
dung hüllen, ist nicht stets das gleiche.
Bis w’ eilen geschieht es schon sehr früh,
im kindlichen Alter, aus unbekannten
Gründen (Marquette); manche Väter haben
dann ihre Kinder von ihrem Vorhaben ab-
zubringen gesucht, ihnen zugeredet, auch
schöne Waffen und männliche Kleidungs-
stücke ihnen dargeboten, ihnen Gefallen
an männlichem Treiben ein zuflössen sich
bemüht, und wenn nichts fruchtete, eine
Sinnesänderung mit Strenge und Gewalt
herbeizuführen versucht, ja die Knaben
gezüchtigt und geprügelt, ohne zum Ziele
zu kommen (Wied). In anderen Fällen nehmen In-
dianer erst im vorgerücktern Mannesalter
diese Metamorphose vor; sie erklären alsdann, dass
Traum oder eine höhere Eingebung ihnen dieselbe als Medizin
oder als ihnen zum Heile anempfohlen habe und sie be-
harren ohne Bedenken bei ihrem Ent-
schlüsse, welcher ihnen zwar eine gewisse Verachtung
zuzieht, aber dennoch dem ganzen Stamme als heilig gilt.
So ersetzte ein gefeierter Krieger des Otoe-Stammes, einem
21*
324
Traume folgend, seinen Kriegerschmuck durch ein Weiber-
kleid. wie John T. Irving in einem besonderen Ka-
pitel „The Metamorphosis“ ausführlich geschildert hat. Von
dem starken Einflüsse ihrer lebhaften Phantasie auf ihr
äusseres Leben legt auch die Erzählung eines Sauk-Indianers
Zeugnis ab, nach der ein Mann, dem die böse Gottheit in
Gestalt des Mondes erschien, sich als Weib kleiden und als
solches sich hingeben müsse („become cinaedi“ K e a t i n g).
Auch erzählen nach Wied die Indianer eine Fabel, an
welche sie glauben: Man wollte einst einen Mann zwingen,
die Weiberkleidung nicht anzulegen; ein
ausgezeichneter Krieger bedrohte ihn; es kam zu heftigem
Streite, in dessen Folge das Mannweib von einem Pfeil töt-
lich getroffen, zusammenbrach: statt seiner Leiche jedoch fand
man am Boden einen Haufen von Steinen und zwischen ihnen
den Pfeil. Seitdem mischt sich niemand mehr in diese Ange-
legenheit, die man vielmehr als von höheren
Mächten eingesetzt und geschützt an-
sieht. — Männer in Weiberkleidung unter
den Indianern werden aber auch noch sonst
vielfach erwähnt, so von Bossu, Bernal
Diaz, DuflotdeMofras, Dumont, Falkner,
Lopez de Gomara, Hennepin, de Herrera,
James, Peter Mart yr, Mc Coy, Mc Kenne y,
Oviedo, Perrin du Lac, Piedrahita, Ra-
musio, dela Salle, Tanner; fast alle diese Schrift-
steller haben aus eigener Anschauung berichtet, w'ährend
andere, wie Bastian, Mantegazza, Peschei,
Ratzel, Schneider, Schnitze, Schurtz und
namentlich Theodor Waitz das ihnen bekannt ge-
wordene Quellenmaterial zusammenstellten. Die Männer
in Weibert rächt gaben zweifellos die
Haupt Veranlassung, dass die Indianer ganz all-
gemein von den Ethnographen der Päderastie beschuldigt
werden, obwohl doch sicher derlei Akte bei ihnen in den
wenigsten Fällen offen zur W’’ahrnehmung
gelangt sein dürften. Bei der ungeheuer
grossen Verbreitung aber, welche die
325
ausgesprochene Neigung, als Weib zu er-
scheinen, um die Gunst der Männer zu ge-
winnen, unter den Indianern hatte, ist es
kaum verwunderlich, dass von Seite der Ethnographen eine
Menge von Namen berichtet wird, mit denen man bei den
verschiedenen Stämmen diese falschen Weiber be-
legte, wie agokwas, bardaches, bote, burdash, camayoas, cu-
dinas, cusmos, joyas, maricones, mihdäckä, mujerado.
Uebrigens darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass
Weibertracht bei manchen Indianerstämmen auch zur
Strafe als Beschimpfung angelegt wurde. So er-
zählt W^ a i t z , ein Krieg der Delaware mit den Irokesen
1742 habe mit dem denkwürdigen Ereignisse geendet, dass
die gänzlich gebrochenen Delaware’s „zu Weibern ge-
macht“, d. h. ihnen Weiberröcke von den
Irokesen angezogen wurden, um sie für einen
Vertragsbruch zu strafen, wie diese sagten, um sie als all-
gemeine Friedensstifter zu bezeichnen, wie sie selbst Zugaben;
nur die Deutung der Tatsache, nicht diese an sich sei zweifel-
haft. Auch wurde ihnen erklärt, sie könnten Land nicht
verkaufen, da sie besiegt und zu Weibern gemacht seien.
Und Bastian teilt mit. über die Niederlage Guanar-
Auqui’s erzürnt, habe Guascar ihm Frauenkleider
gesendet, damit er, mit diesen angetan, nach Cuzco,
der Residenz des Inca von Peru, zurückkehre. Anderseits
wird von vielen Stämmen angegeben, dass ihre männ-
lichen Priester Weiberkleider tragen
mussten.
3. Von den ä n n e r n , die seitens der Mannweiber be-
gehrt werden und Erhörung gewähren, ist selten die Rede;
sie werden dem ungeübten Auge merkliche Unterschiede von
den übrigen Männern weder in ihrer Tracht noch in ihrer
sonstigen Erscheinung aufgewiesen haben, und das ist um
so wahrscheinlicher, als vielmals von Männern erzählt wird,
welche einen Unterschied zv^ischen Weibern und Mannweibern
als Gegenstand des Liebesgenusses nicht zu machen pflegten
(Dumont, Tanne r); indessen gab es auch solche,
welche jeden Umgang mit Weibern mieden, es vorziehend, sich
326
ganz auf den geschlechtlichen Verkehr mit Mannspersonen zu
beschränken und mit solchen einen Umgang zu pflegen,
dem bisweilen sogar durch eine Heirat eine
besondere Weihe verliehen ward. Quellenbelege
dafür, dass Ehen unter Männern bei den Indianern vorkamen,
bin ich nicht in der Lage beizubringeii, da durch eine un-
glückliche Verkettung von Umständen gerade die auf die Hei-
raten unter Indianern Bezug nehmenden Werke mir unzu-
gänglich blieben. Von solchen mannmännlichen Ehen teilt
aber Bastian einige Beispiele mit. Bei den kalifornischen
Indianern fanden ausser den gemischten Ehen auch Heiraten
von Männern mit Männern statt; sie geschahen öffentlich,
aber ohne die sonst gebräuchlichen Zeremonien; die zur
Weiberrolle bestimmten Männer wurden
schon in der Jugend ausgesucht und in den
Geschäften der Weiber, in ihrer Art, sich
zu kleiden, zu gehen und zu tanzen, unter-
richtet, so dass sie fast ganz den Weibern
glichen. Da sie stärker waren als diese, und deshalb zu
den mühsamen Geschäften tauglicher, so wurden sie gewöhn-
lich von den Häuptlingen und Ael testen geheiratet, denn
während die Männer nichts taten, als fischen, jagen und ihre
Waffen herrichten, waren den Weibern alle häuslichen Arbeiten
und Feldgeschäfte übertragen (Bastian). Im Westen des
Felsengebirges bei den gebildeten „Tahus“ verheirateten sich
Männer mit Mannweibern nach Castaneda
und Alarcon bei Bastian." (Bericht Karschs.)
Von besonderem Interesse ist der authentische Unter-
suchungsbefund, welchen der Dr. med. Holder*) über einen
in seinen Diensten befindlichen Bo-te 1889 im New-Yorker
Medical Journal veröffentlicht hat.
Mit dem Wort Bo-te, das wörtlich „nicht Mann, nicht
Weib“ bedeutet, bezeichnen die Krähenindianer (Crows) in
•) Holder, A. B., The Bote. Deecription of a peculiar se.xual per-
version found amon? North American Indians. The New York Medical Journ.
A weekly review of Medicine, No. 575, Vol. L, No. 2ll, Decenibcr 7, 1899,
Seite 623—625.
327
Montana, unter denen Holder praktizierte, eine Gruppe als
Frauen gekleidete Männer, die in der Literatur wiederholt als
Hermaphroditen geschildert worden waren.
„Sie tragen weibliche Kleidung,“ — wir
zitieren nach Karsch — „scheiteln ihr Haar in der Mitte
und flechten es wie ein Weib, besitzen oder er-
künsteln weibliche Stimme und Geberden und leben in be-
ständiger Verbindung mit Weibern, gleich als ob sie zu
diesen gehörten; indessen verlieren ihre Stimme, ihre Ge-
sichtszüge und ihre Gestalt nie so sehr die männlichen Eigen-
schaften, dass es einem aufmerksamen Beobachter schwer
wäre, einen Bote von einem Weibe zu unterscheiden. E i n
solcher Bote verrichtet bei den Crow
weibliche Arbeit, vde fegen, scheuern, Schüsseln
spülen, mit solcher Anstelligkeit und Willigkeit, dass er
auch bei der weissen Bevölkerung häufig Beschäftigung er-
hielt. Gewöhnlich wird die weibliche Tracht
in der Kindheit angelegt und auch weib-
liche Sitten werden schon früh ange-
nommen ; doch den Beruf, dem er sich später widmet,
übt ein Bote erst zur Zeit seiner Geschlechtsreife aus.
Ein kleiner Schüler einer Erziehungsanstalt (Knaben-Pen-
sionat einer Indianer-Agentur) wurde öfters dabei ertappt,
wie er heimlich weibliche Kleidung anlegte; obwohl jedes-
mal bestraft, bildete er sich doch, der Schule entwachsen,
zum Bote aus, welchem Berufe er seitdem treu geblieben ist.
Ein bei dem Crowstamme accreditierter Bote, der zur Kund-
schaft des Arztes Dr. Holder gehörte, war ein Dakota-
Indianer; er wird als ein prächtig gestalteter Bursche von
einnehm.enden Gesichtszügen, vollkommener Gesundheit, leb-
hafter Beweglichkeit und glücklichster Gemütsveranlagung ge-
schildert; Holder zog ihn zu seiner Bedienung heran und
brachte ihn, wenn auch nach langem Widerstreben, durch
Erweisung von allerhand Aufmerksamkeiten dahin, sich von
ihm untersuchen zu lassen. 5 Fuss 8 Zoll hoch, 158 Pfund
schwer, 33 Jahre alt, vollkommen bartlos, mit offenem, in-
telligenten Gesicht, hatte dieser Bote die aus 4
Kleidungsstücken bestehende weibliche
328
1' r a c h t bereits im s e c li s t e ii Lebensjahre
angelegt; er trug sein 24 bis 26 Zoll langes Haar in
ilcr -Mitte gescheitelt und liess es in zwei Wellen locker hinter den
Schultern herabfallen; es ist das zwar die gewöhnliche Haar-
tracht der ^Männer bei den Dakota, aber bei den Crow
teilen die Männer ihr Haar seitlich und tragen es in langen
Flechten. Nach seiner Entblössung zeigte sich die Haut des
Bote weich und haarlos, selbst Brust, Arme, Achselhöhlen
und Beine waren vollkommen unbehaart, w'as aber als be-
deutungslos bezeichnet wird, weil alle Indianer der Kund-
schaft Dr. Holde r’s, Männer wie Weiber, dieselbe Eigen-
tümlichkeit aufweisen. Seine Brustwarzen waren wie sonst
beim Manne kümmerlich. Als der Bote das seine Geschlechts-
teile verdeckende Kleidungsstück entfernte, gab er seinen
Schenkeln eine solche Lage, dass sie die Geschlechtsorgane
vollständig versteckten, eine Bewegung, welche Holder
sonst nur bei der L’’ntersuchung schamhafter Frauen sah, bei
denen sie wegen der mehr zurücktretenden Genitalien und
der starken Rundung der Schenkel den Zweck leicht erreichte;
indess aucii dem Bote gelang das Kunststück vollkommen, viel-
leicht wegen der Bildung seiner Schenkel, welche dem unter-
suchenden Arzte von weiblicher Fülle zu sein schienen, oder
infolge einer durch L"ebung erlangten Geschicklichkeit; freund-
lichst gebeten, seine Schenkel zu trennen, liess der Bote
männliche Organe zum Vorschein kommen, an Grösse viel-
leicht nicht ganz so. wie die stattliche Gestalt des ^laniies
sie hätte vermuten lassen, aber in Bildung und Lage voll-
kommen normal. Der Penis hatte im schlaffen Zustande
4).< Zoll Länge bei Zoll Umfang; Vorhaut und Eichel
waren normal, jeder Hoden hatte die Grösse einer kleinen
Mandel, die Scham bekleidete ein dünner Wuchs kurzer Be-
haarung wie gewöhnlich beim männlichen Indianer. Vor der
Untersuchung hatte der Bote dem Arzte das Versprechen
abgenommen, nichts über seinen Befund zu verraten und
nachher versicherte er ihm, dass seit seiner Kindheit noch
Niemand ausser dem Arzte seine Geschlechtsteile gesehen
habe; seine ständigen Gefährten seien Frauen; und auf die
Frage, wie er, mit Frauen zusammen badend, es anfange,
329
(Uesen (ien Anblick seines Gemächtes zu entziehen, erwiderte
er: „das mache ich so", und schlug wiederum seine Schenkel
so zusammen, wie er es beim Ablegen des letzten Kleidungs-
stückes getan hatte; Penis und Hodensack waren wieder
vollständig unsichrbar, und es hätte einer Besichtigung aus
allernächster Nähe bedurft, um über sein Geschlecht ins Klare
zu kommen; er bestritt, jemals geschlechtlichen Umgang mit
einem Weibe gepflogen zu haben und fügte, auf seine Scham
deutend, hinzu: „kein Geschwür und keine Narbe!“ — nach
Holder bei einem so venerischen Stamme wie die Crow’s
auf keinem Fall ein schlechtes Argument.“ Von anderen In-
dianern, bei denen sich Holder nach dem Geschlechtsleben
seines Bote erkundigte, teilten ihm einige mit, dass dieser
doch mit Frauen sexuellen Umgang hätte, während andere
ihm erzählten, sein Hauptvergnügen sei, „Männer zu über-
reden, sich seinen Liebkosungen zu fügen“. Der Bericht
Holders erinnert sehr an die von Krafft-Ebing und anderen
zitierte Abhandlung, welche 1882 der in Neu-Mexiko als
Militärarzt stationierte Ar. William Hammond, über die unter
den Pueblo-Indianern lebenden Mujerados veröffentlicht hat.*)
Wie unter den amerikanischen, so finden sich auch unter
allen anderen Naturvölkern und wie unter ihnen, auch unter
den älteren und neueren Kulturvölkern, den asiatischen so-
wohl wie den europäischen Gele Beispiele, die mit Sicherheit
erweisen, dass die Verkleidung in eine Person des anderen Ge-
schlechts nichts weniger als ein Novum ist,
vielmehr als eine menschliche Eigentümlichkeit, die nicht an
Ort, Zeit, Race, Stamm und Religion gebunden ist, eine Er-
scheinung, die, wie übrigens jede aus dem Bereich der
Zwischenstufen, stets vorhanden gewesen ist. Die Art ihrer
Verbreitung zeigt, dass sie nicht etwa von einer Gegend auf
eine andere, von der mongolischen Race auf die Ureinwohner
Amerikas, von der griechischen etwa auf die alt-nordische
i\Iythülogie, in der Thor, als Freya verkleidet vom Riesen
•) Vgl. Hammond, William A.: The dieease of the Scythians (Morbus
Foeminarum) and other analogous condiüons. American Journal of Neu-
rologie and Psychiatry, August 1882 S. 339 (nach Hammond 1891, 107).
.330
Thryni seinen verlorenen FTammer zurückgewmnt (wobei ihn
Loki in der Verkleidung einer Dienerin begleitet), sondern
dass sie sich überall selbständig, von innen her-
aus, entwickelt hat.
Geschlechtsverkleidung von Kindern.
Als eine Gruppe für sich, wenn auch nur bis zu einem
gewissen Grade, da sicherlich manchmal die Kinder mehr die
Eltern, wie diese jene beeinflusst haben werden, müssen wir von
den übrigen Fällen die verhältnismässig nicht gar so seltenen Bei-
spiele absondern, in denen Vater und Mutter Knaben oder Mäd-
chen absichtlich in der Tracht des andern Geschlechts aufwachsen
Hessen. Bei den meisten Völkern wird ja, wie wir bereits
oben besprachen — der Geschlechtsunterschied lange vor der
Geschlechtsreife, gewöhnlich schon im dritten Lebensjahr zum
Ausdruck gebracht, bei manchen erst mit der Reife, bei
einigen, wie bei den Koreern,*) sogar erst mit der Ver-
heiratung, die ja allerdings bei \delen Völkern so früh statt-
findet, dass sie fast mit der Pubertät zusammenfällt. Nun
kommt es aber ausnahmsweise vor und es sind uns im vor-
hergehenden auch schon Vorgänge der Art begegnet, dass
Eltern Knaben als Mädchen — das umgekehrte ist seltener —
aufzogen, die dann dauernd in dem ihren Sexualorganen nicht
entsprechenden Geschlecht verblieben sind. Die ethnogra-
phischen Gewährsmänner haben sich bemüht. Gründe für
diese gewiss sehr befremdlichen Vorgänge aus-
findig zu machen. Ob sie dabei stets das Richtige getroffen
haben, ist schwer festzustellen. Von den im nördlichsten
Russland lebenden Konjagen berichten ihre Schilderer, dass
wenn dort Eltern ein Sohn mädchenhaft erscheint, sie ihn
schon in frühester Kindheit zum „ Achnutschik“ bestimmen,
das bedeutet zu einem Wesen, das sie weiblich tätowieren
und sich ganz nach Frauenart beschäftigen und leben lassen.
Auch wenn Vater und }\Iutter sich eingebildet haben, das zu
•) Karsch - Haack; Das gleichgeschlechtliche Leben der Ostasiaten.
München 1906. p. 130.
331
erwartende Kind werde eine Tochter sein, sich aber in ihrer
Hoffnung getäuscht sehen, machen sie angeblich den neu-
geborenen Sohn zum Achnutschick.
Bei den Laches, einem südamerikanischen Volksstamm
entsprach es dem Herkommen, dass der sechste Knabe, den
eine Frau gebar, ohne dass ein Mädchen die Reihe unter-
brach als „Cusmos“ erzogen wurde, als ein Wesen, das ganz
wie ein weibliches betrachtet, erzogen und gekleidet wurde.*)
Manchmal heisst es, dass Eltern Knaben als Mädchen gross-
zogen, weil sie ihnen besonders zart und schwächlich, dem
rauheren Männerleben nicht gewachsen erschienen. So gibt
es bei den Sakalaven im nordwestlichen Teil der Insel Mada-
gaskar und auch bei den Hovas, dem Hauptstamm der Insel,
(wenn auch dort nicht in derselben Häufigkeit) männliche
Kinder, die als weibliche aufgezogen werden. Sie werden
Sekrata genannt. Von ihnen heisst es (vgl. Jhb. III. p. 578);
„Die Sekrata sind immer normal entwickelte
männlichePersönen, die man nur aus dem
Grunde als weibliche behandelt, weil sie
sehr zart und schwächlich sind. Schliesslich
gelangen sie ganz dazu, sich selbst für Mädchen zu halten.
Sie nehmen die Tracht, die Gewohnheiten, den Charakter des
weiblichen Geschlechtes an, und die Autosuggestion geht so
weit, dass sie ihr wahres Geschlecht in allen Fällen völlig
vergessen. Sie verwenden die grösste Sorgfalt auf ihre Toi-
lette, tragen lange Kleider und lange, in einen zierlichen
Knoten verschlungene Haare. In den durchbohrten Ohren
werden Silbermünzen als Schmuck befestigt, die Arme und
die Fussknöchel werden mit Spangen geziert. Die Sekrata
haben das Benehmen von Frauen und erhalten schliesslich in-
*) Waitz, Theodor: Anthropologie der Naturvölker, fortgesetzt von
Georg Gerland. 6 Bände. Leipzig, Fleischer. 1S59 — 1872. — 1. Teil:
üeber die Einheit des Menschengeschlechtes und den Naturzustand des Men-
schen, 1859 (zweite Auflage von G. Gerland, 1877). — 2. Teil: Die Neger-
völker und ihre Verwandten. 1860. — 3. Teil: Die Amerikaner, 1. Hälfte,
1862. — 4. Teil: Die Amerikaner, 2. Hälfte, 1864. — 5. Teil: Die Völker
der Südsee, 1. Heft, 1865: 2. Abteilung von G. Gerland, 1870. — 6. Teil:
Die Völker der Südsee, 3. Abteilung von G. Gerland, 1872; vgl. Bd. IV,
p. 376.
332
fok'P der L'ebung und durch die Nuchahinung auch eine weib-
liche Stimme. Sie brauchen keine schwere Arbeit zu tun und
beschäftigen .sich nur mit dem Hauswesen, der Küche und
dem Flechten von Matten. Vom Kriegsdienst sind sie befreit
und dürfen auch nicht die Rinder hüten, da dieser Beruf den
Männern Vorbehalten ist. Niemand nimmt an dem Gebahren
der Sekrata Anstoss, man findet es im Gegenteil ganz na-
türlich, und irgend eine Aeusserung darüber würde sich schwer
rächen, da nach dem bestehenden Aberglauben alsdann der
beleidigte Sekrata über den Beleidiger das Los werfen und
Krankheit über ihn bringen würde.“
Auch in Kulturländern ist verschiedentlich von Eltern
die Schwächlichkeit als Verkleidungs-Grund ange-
führt worden, der sie bewog, das männliche Geschlecht eines
Kindes zu verheimlichen, so in folgendem Fall, der sich im
•J. 1903 in Kratsch in Schlesien ereignete. Dort diente auf
einem Dominium seit längerer Zeit eine Magd Auguste Kl.;
eines Tages wurde sie krank, und bei dieser Gelegenheit stellte
ier Arzt fest, dass Auguste ein männliches Wesen sei. Die
Person war armer Leute Kind aus dem Bunzlauer Kreise und
als Knabe auf den Namen August getauft worden. D a d a s
Kind jedoch zart und schwächlich blieb,
wurde es von den Eltern als Mädchen gross
gezogen. Als die Eltern starben, kam es zur Pflege zu
einer Verwandten. Später vermietete sich das angebliche Mäd-
chen als Magd. 1903 hat der Siebzehnjährige Beinkleider
anziehen müssen, seinen ursprünglichen Namen August ange-
nommen und dient jetzt als Schäferknecht (Jhb. V. p. 1197).
Ein verwandtes Motiv liegt vor, wenn Eltern Kinder im
entgegengesetzten Geschlecht aufwachsen lassen, um ihnen ihr
Fortkommen zu erleichtern, so wurde aus Cincinnati im
J. 1905 folgender Vorfall gemeldet (Mb. IV. Juni p. 13);
„Durch den Tod des Fräuleins Frances Lamouche in
einem hiesigen Krankenhaus kam eine seltsame Geschichte zu
Tage, die wohl mit ihr begraben worden wäre, wenn sie sich
nicht der Wärterin anvertraut hätte. Das Mädchen war
20 Jahre alt. Als sie 6 Wochen vorher als Frank Willams
zugelassen wurde, trug sie Männerkleider und sah ganz wie
— 333 -
ein junger Mann aus. Ihr Haar war kurz geschnitten und
nichts in ihrem Wesen liess ihr wahres Geschlecht vermuten.
Sie war Tänzer, Jockey, und schliesslich Bar-Inhaber ge-
wesen. Sie konnte sich nicht entsinnen, je anders denn als
Knabe gekleidet gewesen zu sein. Sie wurde, wie sie der
Wärterin erzählte, in einem kleinen Dorfe unweit Paris ge-
boren. Ihr Vater war Komödiant, ihre Mutter Tänzerin und
Sängerin. Schon mit kaum 5 Jahren, sagt sie, habe sie Knie-
hosen getragen und die Verkleidung begonnen, die erst mit
ihrem Tode enden sollte. „Merk dir, Kleine, pflegte ihr die
Mutter zu sagen. Du wirst eines Tages allein in der Welt
stehen und da wirst Du viel leichter als Bursch
deinen Weg machen, als als Mädchen. Nach
ihrem Tode wurde ein kleines Paket unter ihrem Kopfpolster
versteckt gefunden. Darin waren Briefe von einem jungen
Franzosen in Neu-Orleans, in denen er sie bat, seine Hilfe
anzunehmen und mit ihm nach Frankreich zurückzukehren.
Auch andere Briefschrciber boten ihr Hilfe an. Ein Brief
war von Frl. Dr. j\Iarie Walker (einer als Mann lebenden
Aerztin, von der noch weiter unten die Rede sein wird) aus
Oswego N.-Y. und enthielt eine Einladung, zu ihr zu kommen:
„Sie können hier leben“, schrieb sie, „und mögen sich kleiden
wie es Ihnen Ihre eigene Neigung vorschreibt.“
Auch die englische Seeräuberin Maria Read, die im Be-
ginn des 18. Jahrhunderts die Meere unsicher machte, war
von ihrer selbst männlich gearteten Mutter systematisch als
Knabe erzogen worden.. Diese hatte sie als Diener bei einer
französischen Dame vermietet. Maria aber liess sich bald als
Matrose auf einem englischen Kriegsschiffe anwerben und be-
gann damit ihr Abenteurerleben, das erst endete, als sie sich
in einen Soldaten verliebte, den sie heiratete.*) Bloch**)
hält diese Piratin und nach ihrer Liebesgeschichte wohl mit
Recht für „zweifellos heterosexuell“.
•) E. Whitehead: „Lehen, Taten und Schicksale der merkwürdigsten
englischen Räuber u. Piraten usw.“ Deutsch v. J. Sporschill. Leipzig 1834.
Teil II. p. 75—81.
**) Geschlechtsleben in England. T. III. p. 56. Berlin 1903.
V'or einigen Jahren geriet eine berühmte Pariser Millionen-
schwindlerin in den V’^erdacht, dass sie einen Sohn fälschlich als
Mädchen hätte in das Taufregister eintragen und erziehen lassen,
weil das Testament ihres Liebhabers vor der Geburt des
Kindes dieses zum Erben eines grossen Vermögens bestimmt
hatte, wenn sie mit 18 Jahren den Neffen des Erblassers
heiraten würde. Der Verdacht, der durch die tiefe unweib-
liche Stimme und die männliche Gestalt der Tochter Nahrung
erhielt, stellte sich jedoch als nicht gerechtfertigt heraus.
(Jhb. V. 1214.)
Dass aber solche Motive tatsächlich verkommen können,
lehrt folgender Fall, der in Amsterdam das grösste Aufsehen
machte.
„In der dortigen Kinkerstraat wohnte seit Jahren e i n
junges Mädchen, das nunmehr als junger
Mann durch die Strassen flaniert. Als Mäd-
chen führte der junge Mann dort jahrelang ein Kurzwaren-
geschäft und gab dabei noch Unterricht an einer Sonntag?-
schule. Man kann sich das Entsetzen seiner Freundinnen aus-
malen, als diese erfuhren, dass „sie“ ein „er“ war, der ihnen
jetzt im hellen Sommerüberzieher und Schlapphut Fenster-
promenaden machte. Gleichzeitig kündigte „er“ öffentlich
seine Verlobung mit einer seiner früheren Freundinnen an.
Diese Vermummung, welche wohl ein gerichtliches Nach-
spiel haben dürfte, w'urde schon von der Geburt
des Knaben an durchgeführt. Eine Verwandte
hatte den Eltern eine bedeutende Geldsumme in Aussicht ge-
stellt, falls das zu erw'artende Kind ein Mädchen sei; diesem
sollte nach zurückgelegtem 23. Lebensjahre das Geld ausbe-
zahlt w'erden. So wurde denn der Knabe als Mädchen ein-
geschrieben. Kaum hatte er aber das 23. Jahr hinterm
Rücken, als er die Mädchenrücke ablegte und in Männerkleider
schlüpfte. Seine früheren Freundinnen behaupten, er habe
in keiner Weise Veranlassung gegeben, anzunehmen, dass er
kein Mädchen sei.“ (Jhb. V. 1181.)
Die Sorge um die Zukunft ihres Kindes war es schon
welche nach der griechischen Mythologie die Göttin Thetis
bewog, ihren Sohn Achilles in Mädchenkleidern aufwachsen
335
zu lassen, ein Beispiel, welches übrigens zeigt, dass nicht
überall in Griechenland wie in Athen Knaben
und Mädchen die gleichen Gewänder trugen.
„Als Achilles 9 Jahre alt war, so berichtet Homer,*) er-
klärte der griechische Seher Kalchas, dass die ferne Stadt
Troja in Asien, welcher der Untergang durch griechische
Waffen bevorstehe, ohne diesen Knaben nicht werde erobert
werden können. Diese Wahrsagung drang auch zu seiner
Mutter Thetis durch die tiefe See in ihr unsterbliches Ohr,
und weil sie bereits wusste, dass jener Feldzug ihrem Sohne
den Tod bringen würde, so stieg sie empor aus dem
Meere, schlich sich in ihres Gatten Palast, steckte den Knaben in
Mädchenkleider, und brachte ihn in dieser Verwandlung
zu dem Könige Lykomedes auf der Insel Skyros, der ihn
unter seinen Mädchen als Jungfrau heran-
wachs.en Hess und in weiblichen Arbeiten
gross zog. Als aber dem Jüngling der Bart zu keimen
begann, entdeckte er sich in seiner Verkleidung der lieblichen
Tochter des Königs, Deidamia. Die gleiche zärtliche Neigung
vereinigte in der Verborgenheit, den Heldenjüngling mit der
königlichen Jungfrau, und während er hei allen Bewohnern
der Insel für eine Verwandte des Königs galt, war er heim-
lich ihr Gemahl geworden. Da aber der Göttersohn zur Be-
siegung Trojas unentbehrlich war, entdeckte der Seher
Kalchas, dem wie sein Geschick auch sein Aufenthalt kein Ge-
heimnis geblieben war, sein Los den Atriden und die Fürsten
schickten Odysseus und Diomedes ab, Achilles in den Krieg
zu holen. Als die Helden auf der Insel Skyros ankamen,
wurden sie dem Könige und seinen Jungfrauen vorgeführt.
Aber das zarte Jungfrauengesicht verbarg den künftigen
Helden, und so scharfsichtig der Blick der beiden Griechen-
fürsten war, so vermochten sie doch nicht ihn aus der Mäd-
chenschar heraus zu erkennen. Da nahm Odysseus seine
Zuflucht zu einer List. Er liess wie von ungefähr, in den
Frauensaal, in dem die Mädchen sich befanden, einen Schild
und einen Speer bringen und dann die Kriegstrompete blasen.
) G. Schwab, loc. eit. p. 253.
als ob der Foind heraurückte. Bei diesen Sclireckenstünen ent-
flohen alle Frauen aus dem Saale, Achilles aber blieb allein
zurück und griff mutig zu dem Speer und Schild. Jetzt ward
er von den Fürsten entlarvt und als sie ihm alles erklärt,
erbot er .sich, an der Spitze der IMynnidonen oder Thessalier,
in Begleitung seines Erziehers Phönix und seines Freundes
Patroclos mit 50 Schiffen in den Krieg zu ziehen, um den
Griechen zu helfen.“
In den meisten Fällen, von denen wir hören, fehlt aller-
dings jeder Anhaltspunkt dafür, weshalb die Eltern ihr Kind
einem anderen Geschlecht zugewiesen haben, als dem, in
welchem es geboren war. "Wir greifen noch einige Beispiele
heraus.
In dem 15S4 aufgesetzten Turmknopfe der Berliner Nikolai-
kirche fand sich bei der Oeffnung folgende Nachricht: „Anno
1583 ist allhier zu Cölln an der Spree in der Schulen eine
Jungfrau offenbar geworden, so in Knaben -
kleidung in die Schule gegangen und des
B a c e a 1 a u r e i f a ra u 1 u s gewesen, auch bei ihm
im Bett geschlafen, welcher an ihr nie bemerkt, dass sie ein
Weibsbild gewesen. Sie war von Pariss in Frankreich und
hat ihre Lektion allzeit so fleissig gelernet, das sie nie gc-
stäupet Wörden. Kam sie derowegen zu einem Bürger an
einen freien Tisch und vertrauete sich endlich der Fraue an.
Uer Rat, in der Aleinung, es sei eine Kundschafterin. hat sie
eingesetzet, nachher aber wieder losgelassen, da ihre Un-
schuld sich erwiesen. Die Gräfin von Zollern nahm sie zu
sich, da sie schön ausnähen , gekonnt, hat sie aber dann des
Administrators zu Halle, Markgraf Joachim Friedrichs Cu^
mahl geschenket.“*)
Die Preussische Lehrerzeitung vom 2. Juni 1883 brachte
folgende Notiz: „In Arnstadt (in Thüringen) starb am Frei-
•tag die bisherige Einsammlerin für das dortige Jakobstift.
eine 69jährige Person. Erst durch den Tod stellte sich her-
aus, dass dieselbe von Kindheit an als Mann in
F rauenkleidern gelebt hat. Musste dies Geheimnis
•) Nach einem Bericht der Vossischen Zeitung. Vgl. Jlib. V, 1222.
bei dem Tod des Verstorbenen wohl einmal zutage treten,
so wird doch voraussichtlich das andere über die Beweg-
gründe, weiche die Angehörigen der Heimgegangenen zu diesem
von der Geburt derselben an datierten Betrüge be-
stimmten, wohl für immer in mystisches Dunkel gehüllt
bleiben.“
Aus Pilsen wurde 1903 berichtet: „Heute wurde am
hiesigen Bahnhofe der Pilsen-Priesener Bahn von einem Wach-
mann eine Frauensperson angehalten, welche durch ihr scheues
Wesen die Aufmerksamkeit der Passanten erregte. Sie wurde
zur Ausweisleistung aufgef ordert und auf die Polizeiwach-
stube gebracht. Dort vmrde schliesslich konstatiert, dass
man es mit keiner Frauensperson, sondern mit einem Manne
zu tun habe. Im Verlaufe des Verhörs wurde die Tatsache
festgestellt, dass der 19 Jahre alte ^lann seit seiner
Geburt als weibliches Wesen erzogen und
auf den Namen Maria Karfiol getauft und
in den Matrikeln eingetragen wurde. Frist
nach Bukowa bei Breznitz zuständig und seit zwei Jahren
bei dem Grundbesitzer Gustav Themmel bei Brüx als Dienst-
magd beschäftigt, wo er alle weiblichen Arbeiten verrichtete.
Sein Arbeitbuch lautet gleichfalls auf den Namen „Maria
Karfiol“. Auf Befragen gab er an, dass er von seinen
Eltern stets als Mädchen erzogen wurde, alle
weiblichen Handarbeiten erlernt und dann einen Dienst als
Magd angenommen habe. Er ist von grosser Statur, hat ein
ganz glattes, mädchenhaftes Gesicht, trägt seine langen
Haare in einen Zopf geflochten und bewegt sich in den
Frauenkleidern ohne allen Zwang. Er raucht und trinkt
nicht und meidet jede Begegnung mit dem weiblichen Ge-
schlechte. Er behauptet ferner, dass nur seine Eltern sein
Geschlecht kennen, dass diese ihm seit jeher den Umgang mit
Knaben verboten haben und’ ihn nur Frauenkleider tragen
Hessen. Den Grund hierfür wmsste er nicht anzugeben. Maria
Karfiol wurde nun in Männerkleider gesteckt und ihres langen
Zopfes beraubt.“ (Jhb. V. p. 1193.)
Auch unser Fall III, welcher in Männerkleidern auf-
wuchs, weiss das Motiv seiner Eltern nicht anzugeben und
Hirscbfeld, Die Trans veetilen. 22
aucli in einem mir persünlich bekannten Fall eines Berliner
Mädchens, das von ihrem alleinstehenden Vater, einem be-
reits verstorbenen Sonderling, als Knabe erzogen wurde, liess
es sich nicht feststellen, was ihn dazu - bewog. Die Tochter,
die durchaus keine Vorliebe für die männliche Tracht behalten
hat, vermutet dass der Vater — der Fall liegt vor Ein-
richtung der ^Mädchengymnasien — ihr eine bessere Schul-
bildung hat zuteil werden lassen wollen. Wir sehen übrigens,
dass die Kinder manchmal selbst in sehr früher Jugend die
Kleidung des anderen Geschlechts annehmen. Ein eigen-
artiger Fall wurde uns aus San Francisco mitgeteilt. Dort
entdeckte man in einem Waisenhause, dass ein etwa 8 Jahre
altes Mädchen, das sich mit seiner Schwester bereits geraume
Zeit in der Anstalt befand, ein Knabe war. Der Kleine gab
an, dass er nach dem plötzlichen Tode beider Eltern die
Mädchenkleider seiner Schwester angezogen habe, um nicht
von ihr getrennt zu werden. Ein anderer Fall trug sich
im J. 1900 in Münster zu. Im dortigen Polizeigefängnis w'ar
ein etwa iTjahriger Jüngling eingeliefcrt worden, der sich
ohne Arbeit herumtrieb. Durch einen Zufall stellte sich her-
aus, dass der angebliche Junge ein Mädchen w'ar. Sie be-
hauptete von frühester Kindheit in männlicher Kleidung ge-
gangen zu sein; sie sei ihrem Vater, einem herumziehen-
den Seiltänzer wegen ausgestandener Misshandlungen ent-
laufen; um sich besser fortzuhelfen und nicht so leicht er-
kannt zu werden, habe sie die Kleidung ihres Bruders an-
gezogen.
Bei der grossen Bedeutung, die man heute und bis zu
einem gewissen Grade sicherlich mit Recht den Kindhciter-
lebnissen beilegt, wird mancher geneigt sein, aus den ge-
schilderten Fällen, in denen Eltern die Kinder im anderen
Geschlecht erzogen, verallgemeinernd zu folgern, dass der
spätere Transvestierungsdrang meist durch Einwirkungen
ähnlicher Art bedingt ist. l\Ian darf' jedoch nicht übersehen,
dass bei der grossen Mehrzahl der Transvestiten grade ganz
gegenteilige Einflüsse wirksam gewesen sind; ferner ist, da
uns kompetente Aussagen der Eltern fast gänzlich fehlen,
bisher garnicht abzuschätzen, inwieweit die Kinder schon
selbst in frühestem Alter danach drängten, Mädchenkleider zu
behalten — man erinnere sich unseres Falles XIV — oder
inwieweit die Eltern instinktiv die andersgeschlechtlichen An-
lagen herausfühlten. Ich kann mich des Eindrucks nicht er-
wehren, als ob das Anlegen der Tracht des anderen Ge-
schlechts nur bei solchen Kindern eine für ihre ganze Lebens-
dauer entscheidende Bedeutung hat, bei denen die Vorbe-
dingung einer in bestimmter Weise charakterisierten Ge-
schlechtsmischung gegeben ist. Unsere Kasuistik zeigte zur
genüge, wie ungemein früh sich die zur Transvestierung
neigende Eigenart in symptomatischen Neigungen und Hand-
lungen verrät.
Kehren wir von der Verkleidung der Kinder zu der der
Erwachsenen zurück, so könnte es fast scheinen, wenn man
die verhältnismässige Häufigkeit, mit der uns von diesen
Vorkommnissen bei den alten und aussereuropäischen Völkern
berichtet -wird mit der Seltenheit vergleicht, in der bei uns
solche Fälle bekannt geworden und vor allem wissenschaft-
lich gewürdigt sind, als oh der Trieb, das Aeussere des an-
deren Geschlechts anzunehmen, ehemals und anderswo relativ
häufig vorgekommen ist, während er in den jetzigen Kultur-
ländern viel seltener auftritt. Beides halte ich für einen
Irrtum, entstanden einerseits durch die grössere Naivität, mit
der die von Sittlichkeitsnormen* unbeengteren Völker sich
geben, andererseits durch die Sexualangst, die bei den mo-
dernen Völkern das Studium aller mit dem Geschlechtsleben
zusammenhängenden Fragen ungemein erschwert. Tatsächlich
geben auch manche Reisende an, dass sie enttäuscht waren,
nachdem sie vorher so viel von den in manchen Gegenden in
der Gewandung des anderen Geschlechts lebenden ,, Herma-
phroditen“ gehört hatten, auf ihrem Wege kaum einen oder
bei einem Stamme nur zwei oder drei zu begegnen, anderer-
seits werden wir bei sorgsamer Umschau erkennen, dass
auch in unserer Mitte die Transvestiten — ebenso wie die
anderen Formen der Zwischenstufen — keine so ausser-
22*
340
ordentliche Rarität sind, wie die, welche sie nicht be-
achteten. meist meinen. Es heisst zwar richtig in einem
alten Spruch, quod non est in sensu, non est in intellectu
(was nicht in den Sinnen, ist nicht im Verstände) aber es
heisst nicht, wie viele zu denken scheinen: quod non est in
sensu, non est in mundo (was nicht in den Sinnen, ist nicht
in der Welt). Die Scham und Scheu in sexuellen Dingen
— gleich\'iel ob natürlich oder anerzogen — ist namentlich
dann gross, wenn es sich um ein stärkeres Abw'eichen von
der Norm handelt. Das hat sehr dazu beigetragen, dass,
während die häufigeren leichten Einschläge von Weiblichkeit
beim Manne und Virilität beim Weibe meist übersehen werden,
oft mit, öfter ohne Absicht, die stärkeren Beimischungen, alle
Arten von deutlicherem körperlichen oder seelischen Her-
maphroditismus — die „Zwitter“ — unter den christlichen
Völkern für etwas Naturwidriges, Abscheuliches — für keine
Natur- sondern eine Charakteranlage — zum mindesten für
etwas Unheimliches, Grauenhaftes gelten. Die Alten standen
hierin auf einer geistig viel höheren Stufe. Im körperlichen
Hermaphroditen sahen sie ein Wesen, das „in sich vereint
die Reize der beiden Geschlechter“, die Liebe feierten sie
mit derselben Begeisterung, ob sie sich auf eine Person des
anderen oder desselben Geschlechts erstreckte, die „mascula
Sappho“, die sich ungleich ihren Schülerinnen mit einer
derben Tunica umgürtete, in der sich die eckigen Umrisse
ihrer Hüften und ihrer kraftvollen Schenkel deutlich abhoben,
Megilla, welche keck ihre 'Frauenperücke abhebt, unter der
sie wie ein Athlet geschoren erscheint, dabei ausrufend;
„Hast Du je einen so schönen Jüngling, wie mich gesehn,“
Männer, die so weiblich w'aren, dass ihnen Martial nachsagt,
alles hätten sie von ihrer Mutter, nur einen einzigen Teil
von ihrem Vater — pars est una patris, caetera matris habet
— alle solche Tj^en waren ihnen, höchstens ein Gegenstand
gutmütiger fröhlicher Spöttereien. Bei uns bestehen ja noch
gegen einige der Zwischenstufen schmachvolle Gesetze und es
ist bezeichnend genug, dass man sich zu ihrer Rechtfertigung
und beabsichtigten Verschärfung nicht auf wissenschaftliche
Feststellungen beruft, sondern auf das sogenannte „Volks-
341
bewusstsein", das will sagen, auf künstlich durch Strafbe-
stimmungen genährte, mit Unkenntnis eng verbundene Kontra-
instinkte und Antipathien. Die Ueberwindung dieser Vor-
urteile ist für den Kulturfortschritt der Menschheit ebenso
wichtig, wie es die Beseitigung der Hexenverbrennung, die
Abschaffung der Tortur, die Befreiung der Sklaven war.
Dass man auf die Männer, die sich weibliche Neigungen
„zu schulden kommen Hessen“ stets, mit stärkerer Verachtung
herabsah, als auf Frauen, die nach Vermännlichung trachteten,
hängt im letzten Grunde wohl auch mit der höheren Meinung
zusammen, die die Männer von sich hatten; mehr oder minder
unbewusst empfanden sie es als eine Erniedrigung ihres Ge-
schlechts, wenn ein Mann mit oder ohne IVillen Zeichen der
Mannheit einbüsste. Deshalb suchte man auch vielfach
Menschen zu strafen, namentlich auch Feinde zu demütigen,
indem man sie ihrer männlichen Geschlechtscharaktere be-
raubte. Das gilt nicht nur von der Entmannung im eigent-
lichen Sinn — noch im letzten .Jahre hatte ich Gelegenheit in Rom
einen Mann kennen zu lernen, der als italienischer Soldat im
Feldzuge gegen die Abessynier von diesen kastriert und in-
folgedessen ganz verweiblicht war — sondern auch von
leichteren Graden der Entmännlichung. So wurde bei den
alten Juden schon der Raub des Bartes als eine Schmach
angesehen. Im 2. Buch Samuelis, cap. X. v. 4 wird be-
richtet: ..Hamun liess sie ergreifen und ihnen den Bart ab-
scheeren.“ Ob auch der zwangsweisen Abnahme des Bart-
schmucks in unseren Zuchthäusern ähnliche Vorstellungen zu-
grunde liegen? Ich halte es wmhl für möglich; oft genug
werden ja Massnahmen mechanisch jahrhundertelang fortge-
setzt, deren ursprüngliche Absicht längst in Vergessenheit
geriet. Herodot erzählt uns, dass Krösus Cyrus riet, er solle
die Lyder nicht zu Sklaven machen, sondern ihnen nur das
Tragen von Waffen untersagen, ihnen das Anlegen langer
Röcke und hoher Schuhe befehlen, ihre Knaben im Zither-
und Harfenspiel und in der Krämerei unterrichten. „Dann, o
König, schloss Krösus, wirst Du sehen, wie sie alsbald aus
Männern Weiber werden und brauchst ihren Abfall nicht zu
befürchten.“ Auch sonst hören wir in der Geschichte wieder-
holt davon, daos die Sieger die [Jnterlegeuen in Weiherröcke
steckten.
Ich erwähnte bereits oben derartige Beispiele. In Schott-
land hörte ich, dass im Volke eine Sage kursiere, nach der
die bekannte, so eigenartige Rocktracht der Hochländer
ebenfalls auf eine Strafe zuriiekgeführt wdrd, die in Ur-
zeiten ein alter schottischer Herrscher über die männliche
Bevölkerung verhängte, weil sie sich nicht tapfer genug
verteidigt hätte.
Wenn Frauen männliche Sitten und Gebräuche an-
nahmen. erachteten im allgemeinen die Männer dies weniger
als eine Herabwürdigung des weiblichen Geschlechts, eher als
eine .Unmassung. Immerliin glaube ich, dass die im alten
Rom gültige Vorschrift, nach der die Prostituierten die tunica
virilis. also einen Männerrock tragen mussten nicht etwa,
wie behauptet ist, auf homosexuelle Instinkte zurückzuführen
ist, sondern auf das Bestreben, die käuflichen Frauen von
den ehrbaren in herabsetzender Weise zu unterscheiden.*)
Eine ganz sonderbare Sitte findet sich, wie u. a. Hahn in
den Albanesischen Studien, Bernhard Stern, E. Vely**) be-
richten bei den Merediten, einem in Dalmatien wohnenden Volks-
stamni. der katholisch ist. Dort darf ein Mädchen — vermut-
lich nach einer uralten Sitte — zum Pfarrer gehen und er-
*) Man vgl. hierzu: a) H o r a t S a t. I, 2. 62 — 6.3
Quid inter-
Eät in matrona, ancilla peccesne t o g a t a ?
Anm. von G. T. A. Krüger: Die Toga war das Kleid der meretrices und
aller bes.-holtenen Frauen, namentlich der judicio publico damnatae, in ad-
ulterio derrehensae.
b) Marquardt, Römische Privaf.altertümer. Teil I. ?. 42. Note 204.
ibid. 80— S2;
N'ec maeäs huic inter niveos viridesque lapillos —
Sit licet hoc, cerinthe, tuum! — tenerum est femur aut mis
F.ectira, atque etiam melius persaepe t o g ,a t a e ost.
Martial. Epigrammat. \T, 64, 1 — S:
Jnm sis nec rigida Fabiorum gente creattis,
patris ad speculum tonsi matrisque t o g a t a c
Filius et possit sponsam te sponsa vocare:
**) Im Berliner Tageblatt v. 12. V. 07.
klären: „i c h w i 1 1 f o r t a n a 1 s M a n n g e 1 1 e n ir n d
leben.“ Der Pfarrer bringt dies dann nach der Messe
zur Kenntnis der Gemeinde und gibt dem Mädchen einen
männlichen Kamen. Darauf zieht die Mereditin Männer-
kleider an, trägt Waffen und wird nunmehr von allen als
Mann behandelt. „Freilich“, sagt E. Vely, darf der neue
Mann in dieser erwählten und vom Gesetz gewährleisteten
Freiheit keinerlei w'eibliche Schwäche, keinen Rückfall
zeigen, sich nicht verlieben. Dann droht unfehlbar der Tod,
der bis dahin als vollgültig dem Manne Gleichgeachteten.
Nach Stern (loc. cit. p. 171) stand die Todesstrafe nur
darauf, wenn sie nach ihrer Meldung als Mann schwmnger
wurde.
Verkleidung und Gesetz.
Dass christliche Geistliche sich an dieser eigentümlichen
Zeremonie des Mannw^erdens beteiligen, trotzdem doch,
wie wir sahen, die Bibel es so streng verpönt, dass ein Weib
Mannesgeräte trägt, ist auffallend, noch auffallender, dass das
biblische Trachtenverbot in das Gesetzbuch keines christlichen
Volkes übergegangen ist, wiewmhl es als erstes an der Spitze
der sogenannten Pluralverbote gegen die Unzucht steht. Es
ist das eine Unterlassung, zum mindesten eine Inkonse-
quenz, die mit dem sonstigen Eifer der Kirche, möglichst
viele sexuelle Sünden zu konstruieren, schwer in Einklang
zu bringen ist. Vielleicht war man der ^leinung, dass es hier
keiner besonderen Vorschriften bedürfte, um den i\Ienschen das
irdische Leben zu Verbittern und zu erschweren, sondern
dass allgemeinere Bestimmungen entsprechend denjenigen ge-
nügten, wie wir sie in den Paragraphen vom groben Unfug,
von der Erregung öffentlichen Aergernisses, von der Ver-
letzung des Scham- und Sittlichkeitsgefühls und ähnlichem ja
hinreichend besitzen. Tatsächlich hat man sich solcher Ge-
setze auch wiederholt bedient, um gegen die Verkleidung
einer Person in eine solche des anderen Geschlechts strafbar
vorzugehen. Meines Erachtens zu Unrecht. In einer aus-
gezeichneten Arbeit, die der Amtsgerichtsrat a. D. Dr. jur.
344
Wilhelm in Strassbiirg vor kurzem über „Die rechtliche
Stellung der (körperlichen) Zwitter de lege lata und de lege
ferenda“ veröffentlicht hat.*) nimmt der Verfasser auch
Stellung zu der Frage ,,der strafrechtlichen Verfolgung der
Fälle, in denen Männer in Weiberkleidung, Weiber in Männer-
kleidung ausgehen“; er schreibt:
„Im Strafgesetzbuch exis-tiert kein
Paragraph, welcher das Anlegenvon Klei-
dern, welche dem wahren Geschlecht nicht
entsprechen, oder das Ausgehen in solchen
Kleidern mit Strafe belegt. Soweit mir bekannt,
ist auch in keinem Bundesstaat — jedenfalls weiss ich dies
bestimmt von Preussen und Elsass-Lothringen — etwa ein
unter Polizeistrafe gestelltes Verbot auf Grund allgemeiner,
zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung, Sittlichkeit,
des Anstandes usw. gegebner Polizeiblankettgesetze erlassen
worden. Derartige Verbote würden hinsichtlich ihrer Zu-
lässigkeit auch schweren Bedenken unterliegen. Demnach kann
auch nur auf Grund des Paragraph 360'^ StGB, wegen
groben Unfugs eingeschritten werden. — Dieser Para-
graph setzt aber eine Belästigung des Publi-
kums, eine Störung der Oeffentlichkeit
voraus. Daher kann das Anlegen von Kleidern, die dem
eignen Geschlecht widersprechen, an und für sich, also
namentlich in geschlossner Gesellschaft, nicht als grober Un-
fug bestraft werden, ferner aber auch nicht einmal das Aus-
gehen in solchen Kleidern, sofern dies dem Publikum gar-
nicht auffällt und keine Aergerniserregung, kein unliebsames
Aufsehen usw. in der Oeffentlichkeit entsteht. Von diesen
Grundsätzen geht auch, wie mir von den Herren Kriminal-
kommissaren der Sittenabteilnngen beim Berliner Polizei-
präsidium mitgeteilt w'urde, sowohl die Berliner Polizei als
die Amtsanwaltschaft bei den Berliner Gerichten aus,
namentlich bei der Verfolgung der in falschen Kleidern pro-
menierenden homosexuellen Männer oder Frauen aus. In
•) In den juristisch-peyehiatrischen Grenzfragen bei Machold in Halle
1909 p. 54ff.
345
dieser Beziehung hatte ich Gelegenheit, durch Herrn Dr.
Hirschfeld, an den ich mich wegen Materials für diese Arbeit
gewandt hatte, einen ganz eigenartigen Fall kennen zu lernen.
Ein homosexuelles Weib, eine echte Virago, in Stimme, Gang,
Gebärden, Charaktereigenschaften usw. völlig Mann, trägt
seit längerem j\Iännerkleider und lebt völlig als Mann. Die
Person macht auch ganz und gar den Eindruck eines jungen
Mannes. Diese Person möchte: einmal ihren weiblichen Vor-
namen im Geburtsregister in einen männlichen umgeändert
sehen, was natürlich unmöglich ist; denn wegen ihrer völlig
normalen Geschlechtsteile muss sie als Weib gelten; ferner
aber, und darauf kommt es ihr ganz besonders, ja fast aus-
schliesslich an, möchte sie stets Männerkleider behalten
dürfen. Diesem ihren Willen kann staatlich
nicht entgegengetreten werden. Die Per-
son erregt in Männerkleidern gar kein
Aufsehen, jedermann hält sie für einen
a n n , eine Verfolgung wegen Störung der Oeffentlichkeit,
wegen groben Unfugs ist daher ausgeschlossen, ein andres
Mittel aber, sie zu zwingen, Weiberkleider anzulegen, gibt
es nicht. Um sich Gewissheit über die Rechtslage zu ver-
schaffen, ging die Person in Begleitung von Dr. Hirschfeld
auf das Berliner Polizeipräsidium. Hier wurde der Person,
nachdem die betreff. Beamten durch den Anblick und das
Gebaren der Person selbst sich überzeugt, dass die Person
völlig den Eindruck eines Mannes hinterlasse, erklärt, dass,
so lange sie durch ihre Kleidung und ihr Benehmen in der
Oeffentlichkeit kein Aufsehen, keinen Auflauf usw. errege, ihr
seitens der Polizei nichts geschehen könne. Bemerkenswert
ist die Tatsache, dass nach Angabe dieser Person sie grade
umgekehrt früher bei dem Ausgehen in Weiberkleidern auf der
Strasse, stets ein Gegenstand des Spottes und des unlieb-
samen Aufsehens gewesen sei, die Passanten hätten gelacht
und sich nach ihr umgeschaut, die Kinder seien ihr spöttelnd
nachgelaufen usw. Grade dieses Aufsehen batte
sie, abgesehn von ihrem Innern Gefühl
und Drang nach Männerkleidung, mit ver-
anlasst, letztere anzulegen. Jedenfalls sei es
346
ihr aiimöglich und undenkbar, wieder als Frau zu leben.
Solbstvorßtändlich könnte liie Person, wenn sie. in AVeiber-
kleidern ausginge, trotz der dadurch hervorge-
rufnen Belästigung des Publikums, nicht
wegen groben Unfugs bestraft werden, denn auf alle Fälle
hat jedermann das Recht, sich mindestens nach seinem eignen
Geschlecht entsprechend zu kleiden, möge nun -die Kleidung
zu seinem Gesamtwesen passen oder nicht.“
Der Fall des von Amtsgerichtsrat Dr. Wilhelm hier er-
wähnten Mädchens ist der oben (p. 192) an Hand des dem
Polizeipräsidium eingereichten Gutachtens ausführlich ge-
schilderte. Ich kenne noch eine ganze Reihe von Beispielen,
in denen Personen in der Tracht ihres eigenen Geschlechts
mehr Aufsehen erregten — und Aufsehen ist hier fast gleich-
bedeutend mit Aergernis — als in der des anderen Ge-
schlechts. In Berlin lebt ein junger Pole, der in Herrenklei-
dern vollkommen den Eindruck eines verkleideten Mädchens
macht; ich überzeugte mich durch eigenen Augenschein, dass
fast alle Leute, die ihm auf der Strasse begegneten, stehen
blieben und sich umschauten, ln Geschäften und Lokalen bildet
sich um ihn ein Kreis Neugieriger. Der fein empfindende
junge Mann litt so sehr darunter, dass er sich schliesslich
kaum noch, vor Einbruch der Dunkelheit überhaupt nicht
inehr, auf die Strasse traute. Könnte er sich entschliessen.
Frauenkleider zu tragen, würde sicherlich weder er die
Üeffentlichkeit noch diese ihn mehr behelligen. In St. Louis
wurde vor einigen Jahren eine junge Dame, die einen ernst-
lichen Selbstmordversuch ausgeführt hatte, in das Kranken-
haus eingeliefert. Ihr Fall hat zu einer heftigen Polemik
zwischen den Aerzten des Hospitals und der Justiz von St.
Louis Veranlassung gegeben. Die Dame, die sich Anna Smith
nennt, erklärte, sie wolle von jetzt an Männerkleider tragen,
und wenn man ihr die Erlaubnis dazu verweigert, sei sie
entschlossen, wieder einen neuen Selbstmordversuch zu machen.
„Fräulein Smith hatte einen dichten, schwarzen Backenbart.
Sie ist aus ihrer Vaterstadt St. Paul entflohen, w'eil man
sie dort wegen ihres Bartes und ihrer Männermanieren ver-
spottete. Sie hat sämtliche Enthaarungsmittel probiert, aber
der Bart wurde immer länger. Deshalb will die Smith wie ein
Mann gekleidet sein oder sterben; Frauenkleider legt sie,
wie sie hoch un.d heilig versichert, nie und nimmermehr an.
Den Behörden wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als
sich zu fügen.“ (Jhb. III. p. 547.)
In einer grösseren Stadt im Norden Schottlands lebt ein
in der dortigen G eschäftsw'elt hochangesehener Herr, von dem
es ortskundig ist, dass er kein Mann, sondern eine Dame
ist. Sie erscheint bei allen öffentlichen Veranstaltungen,
nimmt am öffentlichen Leben regsten Anteil, ihre Kleidung
und ihre Manieren als Mann sind tadellos; ihr Geschlecht
lässt- sich umso leichter verheimlichen, als sie nicht nur eine
sonore tiefe Stimme, sondern auch einen respektablen Schnurr-
bart besitzt. (Jhb. V. 1187.)
In Deutschland ist es wiederholt vorgekommen, dass
Frauen sistiert w'urden, weil man sie für verkleidete Männer
hielt. Ich wdll einige Fälle herausgreifen, die ein gewisses Auf-
sehen erregten. In Wiesbaden wurde eine 'Teilnehmerin an der
fünften Generalversammlung des Bundes deutscher Frauenvereine
arretiert. Der in Wiesbaden erscheinende Rhein. Cour, erzählt
über den Vorfall und seine Veranlassung u. a. folgendes: „Gestern
Nachmittag wuirde uns von dem Vorstande des Frauentages
mitgeteilt, eine Delegierte des Frauenbundes sei auf der
Friedrichstrasse verhaftet, nach dem Revier verbracht und
nach Feststellung ihrer Personalien, ohne ein Wort der Ent-
schuldigung, entlassen worden. Da uns dieser Vorgang sehr
unw'ahrscheinlich vorkam. erkundigten w'ir uns und konnten
folgendes feststellen: Gestern Naclimittag bemerkte ein
Schutzmann in der Friedrichstrasse einen Mann, der,
von etwa 300 Personen umgeben, langsam die Strasse ent-
lang schritt. Der Schutzmann hegte die Befürchtung, es sei
etwas Ungebührliches vorgefallen, eilte hinzu und ersuchte
den Herrn, ihm auf die Polizeidirektion zu folgen. Hier bat
der Vertreter der heiligen Herinandad um den Namen des
Betreffenden und erfuhr zu seinem grössten Erstaunen, dass
er es mit einer Dame zu tun habe, die sich ihm als eine
Berliner Delegierte zum Frauentage legitimierte. Der Schutz-
mann sorgte zuerst dafür, dass die schaulustige Menge von
dannen zog, und entliess dann die sehr entrüstete Dame, in-
liem er ihr. immer noch zweifelnd, bis nach dem Zivilkasino
folgte.
Wie des näheren berichtet wird, trug Frau H. v. D. zu
ihrer Reformkleidung einen Herrenhut und unter diesem kurz-
geschnittene Haare, und dieses' ganze Ensemble hat in dem
Schutzmanne die seltsame Meinung entstehen lassen, e r
habe es nicht mit einer Frau zu tun, die
ähnlich wie ein Mann, sondern mit einem
Mann, der ähnlich wie eine Frau gekleidet
sei.“ (Jhb. V. 1226.)
Fräulein Dr. Katharine F., Assistenzärztin an der Uni-
versitätsklinik in Bonn, schreibt dem B. T. (15. 12. 06);
-Ich fuhr gestern die Strecke Köln — Hamburg. Da wurde ich
auf einmal in Hamburg von der Polizei festge-
nommen, mit der Begründung, der Stätions-
vorstandin Bremen habe es gewünscht,
weil ich ein verkleideter !Mann sei. Ich füge
hinzu, dass ich ein gut gearbeitetes Jackenkleid trug, in
dem ich im Kraiikenhause tagtäglich Dienst tue. Das genügt
doch wohl für seine Korrektheit. Ich betone ferner, dass ich
auch nicht kurzgeschnittene Haare trage. Wenn der Urheber
der Anzeige etwas genau hingesehen hätte, wäre das Ganze
unmöglich gewesen. Es war auch kein Beamter im Coupe,
nur ein Schaffner in Osnabrück. Ich habe das Coupe auch
nicht verlassen. Es muss also der Stationsvorstand in Bremen
entweder vielleicht auf Aussage des Schaffners hin die Polizei
gegen mich alarmiert oder auf sein eigenes, aus der Ent-
fernung gebildetes Urteil hin gehandelt haben. Ich füge
ausserdem hinzu, dass die Polizei in Hamburg zugab, sie
verstehe nicht, wie die Bremer darauf gekommen seien. Eine
Legitimation hatte ich nicht bei mir, ich bestand nur auf
telephonische Anfrage in Bonn bei der Universitätsbehörde.
Ich weiss nicht, ob die Vernehmung in Hamburg sich so ein-
fach gestaltet hätte, wenn es sich nicht um eine Dame ge-
handelt hätte, die an einer königlichen Klinik fest ange-
stellt ist. Dem Minister habe ich den Vorfall berichtet.“
(Mb. 06. p. 19.)
349
„Im Februar 1907 wandte sich eine Schriftstellerin
namens K. an die Oeffentlichkeit, die bereits siebenmal von
deutschen Sicherheitsbeamten sistiert war, weil man sie für
einen „verkappten“ Mann gehalten hatte. Jetzt war sie
wiederum von einem Berliner Schutzmann verhaftet worden
und trotz ihrer Versicherung, sie sei in einem benachbarten
Cafe, in das sie gerade gehen wollte, bekannt, sodass man
sie dort legitimieren könne, nach der Wache in der Ober-
baumstrasse gebracht. Dort angelangt, wurde sie aufge-
fordert, Papiere vorzuzeigen. Sie war so glücklich, welche
bei sich zu haben, nämlich; ihre Staatsangehörigkeitsaus-
weisung und Heiratsurkunde. Beide lauteten auf denselben
Namen. Man hielt es zunächst nicht für ausgeschlossen, dass
sie irgendwo gestohlen sein konnten. Aber die Dame wies
einen dritten Schein vor, der, sollte man meinen, jedes Miss-
trauen hätte beseitigen müssen: Es war die doppelte Be-
scheinigung des Bürgermeisters und des Polizeiarztes von
Bingerbrück am Rhein, dass Frau K. geh. C. daselbst unter
dem Verdacht, sich verkleidet zu haben, angehalten, vom
Polizeiarzt untersucht und als Weib festgestellt sei. Der
Beamte konnte sich trot-z alledem nicht entschliessen, sie als
Weib anzuerkennen. Er stellte in Vergleichung mit den
Legitimationspapieren ein peinliches Verhör an. Diesen
Szenen wohnten acht Polizisten und ein Wachtmeister bei.
In Anbetracht ihres Tituskopfes riet ihr einer wohlwollend:
„Tragen Sie doch eine Perücke.“ Eine Berliner Zeitung fügt
diesem Bericht hinzu:
„Das Schicksal der Dame, dass sich nun zum siebenten
Male, aber diesmal in einer für sie besonders peinlichen Form
wiederholt, hat grundsätzliche Bedeutung. Ohne weiteres
geben wir zu, dass Frau K. ein Aeusseres hat, dass einem
Mann ähnlicher als einer Frau sieht. Sie würde es aber
unter der üppigsten Perücke und unter dem schönsten
Frauen-Hut behalten. Unverdächtig wäre ihr Aussehen erst
dann, wenn sie sich als Mann verkleidete. Damit begänge
sie aber gerade den Gesetzesverstoss, unter dessen Verdacht
sie jezt zum siebenten Male unschuldig gestanden hat. Was
soll sie tun? Wenn man das Verbot, sich anders zu kleiden,
alß dem CreschlcTht entspredieiid. nicht ganz auilieben will,
.-^0 müssten sich die ßehürdon wenigstens zu Ausnahmen ver-
stehen. Dieser Frau z. B. müsste es erlaubt sein, Herren-
tracht zu tragen. Sie selbst würde sich wohler fühlen, und
die Polizei auch." (Hb. 06. p. 74.)
In einem weiteren Beispiel stellen wir die Darstellungen
gegenüber, wie sie von der sistierten Dame und der Behörde
gegeben wurden. Diese schilderte den Vorfall nach einem
Bericht der Zeitschrift: _Die Frauenbewegung“ wie folgt;
..Fräulein Dr. juris A., die sich in Weimar aufgehalten
hatte, befand sich auf dem Wege zum Bahnhofe und ging in
ganz unauffälliger Weise die Strasse hinauf, als sie sich zu
ihrem Erstaunen plötzlich von einem Polizeibe-
amten a n g e h a 1 t e n sah, der ihr eine lange Strecke zu-
vor begegnet war. sie demnach schon etwa drei bis fünf
Minuten verfolgt hatte. Der Schutzmann forderte von der
Dame im Unteroffizierston Auskunft über die Zeit ihrer An-
wesenheit in Weimar. Der wahrheitsgemäss erteilten Ant-
vort legte der Beamte keine Bedeutung bei. Auf seine weitere
Frage: „Was sind Sie denn?“ erhielt er die ihm ebenfalls
ungeheuerlich klingende Auskunft; ..Doktor juris“, was ihn
besonders heiter zu stimmen schien. Nun verlegte sich Fräu-
lein Dr. A. aufs Inquirieren: Sie fragte; „Ist ihnen etwas
an meiner Persönlichkeit nicht recht? Wünschen Sie mich
etwa zu verhaften?“ Der Beamte erklärte, dass er allerdings
diese Absicht habe, worauf Fräulein Dr. A. sofort mit ihm
der Stadt zu umkehrte, nicht ohne ihn darauf aufmerksam
zu machen, dass die Sache, da er sich in einem Irrtum
befinde, für ihn unangenehme Folgen haben könne.
Er beharrte jedoch bei seinem Verlangen, und der Marsch zur
Wache wurde angetreten, natürlich nicht, ohne dass sich
auf dem etwa viertelstündigem Wege ein Schwarm von 40
bis 50 Schaulustigen angeschlossen hätte. Auf der
Polizeiwache sah der dort anwesende höhere Beamte sofort
das völlig Unhaltbare dieser Arretierung ein. Fräulein Dr.
jur. A. erhielt bereits ein amtliches Schreiben, welches das
Vorkommnis bedauert und bestätigt, dass der Schutzmann
unvorsichtig gehandelt habe und entsprechend „rektifiziert“
sei.“ Da diese Darstellung zu heftigen Angriffen in der
Presse Anlass gab. veröffentlichte der Weimarer Oberbürger-
meister als Vorstand der Weimarer Polizei bald darauf fol-
gende „Bekanntmachung“: „Die Berichte in den Zeitungen
über das Vorkommnis mit Fräulein Dr. jur. A. veranlassen
mich, den Vorgang, wie er amtlich festgestellt worden ist,
bekannt zu geben: Dem Schutzmann Haldrich — und nach
dessen Angaben auch den beiden Bahnsteigschaffiiern — war
die betr. Dame nach Stimme, Gesicht, Haartracht,
Hut und Gesten (wie sie den Hut abnahm und durch
die Haare strich) aufgefallen. Der Schutzmann schöpfte den
Verdacht, dass ein Mann sich verkleidet und
die Verkleidung gewählt habe, um sich
einer etwaigenErkennung undEntdeckung
aus gewichtigen Gründen zu entziehen.
Deshalb sprach er, da die Schutzleute wegen der jetzt so
häufigen Schwindeleien, Betrügereien und Diebstähle zur
strengen Vigilanz, insbesondere während der Abend- und
Nachtzeit, angewiesen sind, die betreffende Person auf der
Strasse an und fragte, wann sie zugereist sei, welche Frage
sie nicht beantwortete und, bevor Haldrich imstande war,
weitere Fragen zu stellen, hinziifügte: „Sie wollen mich doch
mit auf die Wache nehmen, da nehmen Sie mich nur gleich
mit, ich will Ihre Behörde sprechen und ein Protokoll auf-
nehmen lassen, die Frechheit geht noch über Wiesbaden.“
Des Schutzmanns Einwand, die Befugnis um Auskunft über
ihre Person zu bitten, stehe ihm doch zu, fertigte die Dame
mit der Erklärung ab: „Dieses Recht wollen wir Ihnen eben
nehmen“, und wiederholte auf das bestimmteste das Ver-
langen, der Polizeibehörde vorgeführt zu werden, ohne dass
sie ihren Namen und Stand dem Schutzmann nannte. Diesem
Verlangen entsprach der Schutzmann Haldrich, ohne dass die
Aufmerksamkeit anderer erregt wurde. Schutzmann Schulz,
der Dienst auf der Polizeiwache hatte, bezeugt, dass pp.
Haldrich nach Ankunft mit der Dame im Rathause letztere
nochmals trug. „Wollen Sie mir nun Ihren Namen nennen?“
worauf dieselbe antwortete: „Nein, Ihnen sage ich meinen
Namen nicht, ich verlange einen höheren Beamten.“ Dem an-
wesenden Krinünalschutzmann C^iehl, dem die Dame dann
ihren Namen nannte und der mit ihr über den Vorfall ver-
handelte. erklärte Fräulein Dr. A. unter anderem: .,Eigent-
lich habe sie den Schutzmann mit hergebracht und nicht der
Schutzmann sie, der Vorfall komme ihr gerade recht, sie
brauche solches Material, damit der Paragraph (sie nannte
einen Paragraphen des Strafgesetzbuches) falle, sie gehe an
den Reichstag, ihr Name sei kein unbekannter, ihr stünden
fast alle Zeitungen zur Verfügung; wir hätten einen Fall
Berlin, Köln, München. Wiesbaden gehabt und nun hätten
wir noch einen Fall Weimar.“ Weimar, den 30. Oktober 1902.
Der Gemeindevorstand Grossh. Residenzstadt. Der Ober-
bürgermeister. Pabst, Geheimer Regierungsrat.“
Das gemeinsame und für unsere Darlegung wesentliche
in diesen und ähnlichen Fällen ist, dass Beamte Personen,
die in Wirklichkeit Frauen waren und sich als solche klei-
deten — denn sie trugen das Hauptattribut des w'eiblichen
Anzuges, den Kleiderrock — irrtümlicherweise für verkleidete
Männer hielten und in dieser Vorstellung an ihnen Anstoss
nahmen.
Um zu zeigen, dass deutsche Gerichte sich in Fällen
wirklicher Verkleidung bereits wiederholt auf den Standpunkt
stellten, den Dr. jur. Wilhelm als den einzig vernünftigen
ansieht, will ich noch einige Berichte von Gerichtsverhand-
lungen bringen, von denen der erste eine als Mann ver-
kleidete Frau, der zweite einen als Frau verkleideten Mann
betrifft.
„Einen seltsamen Fang (wir zitieren den Bericht der Münch.
N. N. Jhb. V. 1179) machte vor kurzer Zeit der Gendarm
Katzbichler von Pasing auf seinem Pätrouillengange nach
HolzapFelkreut. Schon seit längerer Zeit bemerkte er einen
jungen, mittelgrossen, bartlosen Mann, in einen schwarzen
Sackanzug gekleidet, mit schwarzem, steifem Hut, Steh-
kragen und schwarzer Kravatte angetan, der sich Tag für
Tag bei Holzapfelkreut herumtrieb. Als der Gendarm kon-
trollieren wollte, wer er sei, gab der Bursche an, er heisse
Max Berr, sei Schneidergeselle und zurzeit, da ausser Stelle,
bei seinen Eltern in Haidhausen. Der Gendarm sah sich den
353
Kunden genauest an und stutzte. Nach eindringlichem Be-
fragen gab der Bursche auch zu, kein ]\Iann, sondern die
stellenlose 19 Jahre alte Kellnerin Sophie Berr von hier zu
sein. Sie wurde verhaftet und stand vor dem Schöffenge-
richte, angeklagt einer Verübung des groben Unfugs, be-
gangen durch Tragen von Männerkleidern, eines Weiteren der
falschen Namensangabe und der Arbeitsscheu. Die Ange-
klagte erscheint im Frauenstrafgewande und macht genau den
Eindruck, als wenn man einen Mann in Frauenkleider ge-
steckt hätte. Die Berr hat männliche Gesichtszüge, männ-
lichen Gang und Bewegungen. Ihr Kopfhaar ist ä la Fiesco
kurz geschnitten, hinter den Ohren abrasiert und verläuft
nach vorne zu einem kleinen Scheitel, den zu beiden Seiten,
,,Sechser“ umrahmen. Sie fühlt sich, wie sie sagt, in der
Frauenkleidung sehr unbequem, da die Röcke keine Hosen-
taschen haben, und sie die Gewohnheit hat, die Hände in
die Tasche zu stecken. Unumwunden gesteht sie
zu, seit längerer Zeit auch bei Tage,
meistens aber zur Nachtzeit, in Männer-
kleidung in und ausserhalb der Stadt her-
umspaziert zu sein, und will auf diesen Einfall da-
durch gekommen sein, dass ihr der Friseur den „Tituskopf“
zu kurz geschnitten hätte. In Wirklichkeit hatte die Berr
von der Polizeibehörde wiederholt Arbeitsauftrag bekommen,
den sie nicht befolgte, und wollte auf diese Weise der be-
vorstehenden Strafe entgehen. Charakteristisch bei
der ganzen Sache ist, dass niemand der
Berr, selbst auf offener Strasse ansah,
dass sie ein Weib sei. Nach längerer Verhandlung
wird die Berr wegen der genannten Uebertretungen zu einer
SOtägigen Haftstrafe verurteilt ; von der Anschuldi-
gung ein er Verübung des groben Unfugs,
begangen durch Tragen von Männerklei-
dern auf Strassen und öffentlichenPlätzen,
wird die Berr freigesprochen. Das Ge-
richt ging hierbei von der Erwägung aus,
dass es überhaupt fraglich ist, ob das
Tragen von Männerkleidern durch Frauen-
H i r s c h f e I d , Die Transvestiterf. 23
Zimmer unter den i Vi r a g r a p h e n des groben
Unfugs fällt und strafbar sei; man könne
höchstens einen groben Unfug dann für
gegeben erachten, wenn die betreffende
Person öffentliches Aergernis durch ihre
Handlungsweise hervorgerufen habe. Dies
sei aber bei der Angeklagten, die man
allgemein für einen Mann hielt, nicht zu-
treffend, es fehle deshalb das ^loment des
§ 360. Z i f f. 11 des R.-Str.-G.-B., das eine Be-
straf ungbedingt, und sei deshalb die
Angeklagte von diesem Reate freizu-
sprechen gewesen.“
Ueber eine andere Gerichtsverhandlung heisst es im
Vorwärts (Jhb. V. 1195);
„Weil er sich in Frauenkleidern nächtlicher "Weise auf
den Strassen herumzutreiben liebt, kam der Artist W. wieder-
holt mit der Polizei in Konflikt. Vorgestern stand er aus
derselben Veranlassung wegen groben Unfugs vor der achten
Strafkammer des Berliner Landgerichts I. Der Ge-
richtshof stellte sich auf den Stand-
punkt, dass das Tragen von Frauenklei-
dern durch Männer nicht ohne Weiteres,
s 0 n-d ern nur dann als grober Unfug anzu-
sehen sei, wenn den Strassenpassanten
leicht erkennbar sei. dass in der weib-
lichen Kleiderhülle ein Mann stecke. Dies
sei bei dem Angeklagten allerdings nicht der Fall, viel-
mehr habe dessen Figur und Gesicht etwas weibliches an
sich. Erwiesen sei aber durch Beobachtungen eines Schutz-
manns, dass der Angeklagte auf der Strasse sich genau so
geriert habe wie eine öffentliche Dirne, er auch mit männ-
licher Begleitung in den Tiergarten hineingegangen sei, was
den Kontrolldirnen bekanntlich überhaupt verboten ist. Bei
dieser Sachlage verurteilte der Gerichtshof den Angeklagten
zu sechs Wochen Haft.“
Unter den Berliner Gerichtsverhandlungen vom 9. Februar
1904 findet sich folgender Bericht: „Ein kleiner Scherz wäre
dem Schauspieler Albert B. aus Stettin beinahe verhängnisvoll
geworden. Im verflossenen Herbst fand in der Wohnung seiner
Nichte deren Verlobungsfeier statt. Behrens hielt, als Dame
verkleidet, einen komischen Vortrag. Er gefiel allen und auch
sich selbst derartig in der Damenrolle, dass ihn die Lust an-
wandelte, sein Talent einer weiteren Probe zu uuterwerfen.
Er beschloss, in Begleitung eines Herrn einen Spaziergang
durch die Strassen Berlins als Dame zu machen. Als beide in
der Schumannstrasse einbogen — es war gerade um die Zeit
des Theaterschlusses und es herrschte ein starker Verkehr — ,
wurde das Pärchen von einem Schutzmann, welcher Behrens
als Mann kannte, bemerkt. Dieser nahm die falsche Dame beim
Kragen und führte sie auf die nächste Polizeiwache. Behrens
erhielt eine Anklage wegen groben Unfugs und wurde
vom Schöffengericht zu 6 Wochen Haft
verurteilt. Er legte Berufung ein. Die achte Straf-
kammer stellte gestern zu Gunsten des Angeklagten fest, dass
die Strassenpassanten in der vermeint-
lichen Dame den verkleideten Mann nicht
erkannt hätten und dass der Schutzmann nur aus zu-
fälliger Kenntnis der Geschlechtszugehörigkeit des Angeklagten
dessen Sistierung bewirkt habe. Es sei deshalb anzunehmen,
dass dem Angeklagten nicht die Absicht innegewohnt habe,
groben LInfug zu verüben, und er sei deshalb unter Aufhebung
des schöffengerichtlichen Urteils kostenlos freizu-
sprechen.
Aehnlich liegt der folgende Fall:
„Ist das Anlegen von IMännerkleidung durch junge Damen
grober Unfug? Diese Frage hatte am 15. Dezember
1886 die Danziger Strafkammer zu entscheiden. Die als extra-
vagante Dame bekannte Frau Martha Pieske, welche sich seit
längerer Zeit in Danzig aufhält und gegenwärtig als Hand-
lungsgehilfin fungiert, war vom Danziger Schöffengericht wegen
groben Unfugs zu 30 Mark Geldstrafe verurteilt worden, weil
sie wiederholt auf der Strasse und, auch bei öffentlichen \ er-
handlungen in den Gerichtssälen in Männerkleidung erschienen
ist. Die Verurteilte hatte gegen dieses Urteil Berufung einge-
legt und präsentierte sich am Donnerstag in dem inkrimi-
23*
liierten Kostüm auch dem Gerichtshöfe, behauptend, dass sie
schon im Elternhause oft solche Kleidung getragen habe, die-
selbe ihr bequemer sei und ihr den Erwerb ira Handelsgeschäft
erleichtere. Der Gerichtshof konnte in dem Jünglingskostüm,
das die Angeklagte trug, nichts Anstössiges finden, hob
das Urteil des Schöffengerichts auf und
erkannte auf völlige Freisprechung.“
Dass aber nicht alle Gerichte auf demselben Standpunkt
stehen, zeigen folgende beiden besonders bemerkenswerten Ver-
handlungen gegen denselben Angeklagten:
„Das Berliner Tageblatt schreibt unterm 22. März 1881;
„Eine Dame, welche sich auffallend benahm, die vorübergehen-
den Herren anlächelte und ihnen Kussfinger zuwarf, wurde vor
einigen Tagen Abends durch einen Kriminalkommissarius am
Potsdamer Tor verhaftet und nach der nächsten Polizeiwache
gebracht. Hier verweigerte sie jedoch jede Auskunft über ihre
Person und wurde deshalb mit dem Polizeiwagen nach dem
Molkenmarkt befördert, wo sie im Frauengewahrsam bis zu
ihrer Voriühnmg untorgcbracht wurde. Doch wurde durch
Verrat bekannt, dass die geheimnisvolle Dame ein Mann sei,
nämlich der 18jährige frühere Schuhmacherlehrling Paul Man-
delwirth aus Trier. Am jüngsten Sonnabend wurde der Jüng-
ling dem Einzelrichter vorgeführt, und da man ihn weder in
der Detentionszelle für Frauen, noch in der für Männer unter-
bringen konnte, so wurde er bis zum Beginne der Verhandlung
im Gerichtssaale plaziert. In dem ganzen Auf-
treten des Verhafteten w'ar auch nicht
eine Spur von unweiblichem zu entdecken.
Sowohl seine Stimme wie seine sorgsam gepflegte Damen-
koiffüre, sein mädchenhaftes Aussehen, die kleinen zierlichen
Hände mit den feinen Handschuhen bekleidet, seine elegante
Robe, dazu ein mit Pelz besetzter Damenmantel und eine
Nerzmütze täuschten über sein Geschlecht
vollständig. Mandelwirth ist wiegen ähnlicher Sachen
schon viermal vorbestraft und der Anwalt bean-
tragte deshalb 6 Wochen Haft. Der Angeklagte, der hier in
Berlin eine elegant eingerichtete Wohnung hat, bat tun mil
dernde Umstände, da er sich nur einen Scherz gemacht habe.
357
und beantragte einstweilige Entlassung aus der Haft, da er am
Abend Gesellscbaft bei sich habe. Der Einzelrichter erkannte
jedoch auf 6 Wochen und lehnte die Entlassung ab. Der An-
geklagte wurde hierauf in Isolierhaft abgeführt, wobei er sich
mit den höflichen Worten empfahl: „Ich hatte die Ehre, meine
Herren!“ Dieselbe Zeitung berichtet unterm 11. Mai desselben
Jahres: „Der bekannte 18]ährige Schuhmacherlehrling Petrus
Paul Mandelwirth aus Trier stand am Donnerstag abermals
vor dem Einzelrichter am Molkenmarkt. Derselbe hatte die
am 19. März über ihn verhängte sechswöchige Haft abgebüsst,
erschien aber schon wieder vor dem Richter, weil er die
Damentracht beibehalten hatte. Nach Ver-
büssung der Strafe am 30. April musste der Angeklagte, da
er Männerkleidung nicht besass, in dem Damenkostüm,
in welchem er eingeliefert war, wieder
entlassen werden. In diesem Kostüm sass Mandel-
wirth in der Nacht zum Donnerstag in einem unserer elegan-
testen Wuener Cafes, als der Kriminalkommissar Weien das
Lokal betrat und den ihn wohlbekannten Mandelwirth verhaf-
tete. Der Angeklagte gibt den Tatbestand der Anklage zu
und beteuert unter vielen Tränen , dass er keine
Männerkleidung besitze und auch nicht
imstande sei, sich solche anzuschaffen.
Der Richter gibt ihm den Rat, die gut erhaltene Damengarde-
robe zu verkaufen und sich Herrenkleider dafür anzuschaffen,
ein Vorschlag, den der Angeschuldigte zurückweist, weil er
die Damengarderobe gegen wöchentliche Abzahlungen ent-
nommen habe und diese erst sein Eigentum werde, w'enn sie
vollständig bezahlt sei. Als der Amtsanwalt den Antrag
stellte, den Angeklagten wegen Unfugs mit 6 Wochen Haft
zu bestrafen und der Einzelrichter an den Mandelwirth die
Frage richtete, ob er noch etwas anziiführen habe, liess der im
Gefängnis jetzt weiter geschulte eine gut einstudierte Vertei-
digungsrede vom Stapel. Er führte an, dass durch
das einfache Gehen in D a m e n k 1 e i d e r n
durch ihn kein Unfug verübt sei. Nie-
mand habe ein Aergernis an seiner Toi-
lette genommen, niemand ihn erkannt. Die
- 3.=.8 -
Möglichkeit, dass ein solcher Fall hätte eiutreten können, gibt
er zu, solange aber dies nicht nachgewie-
s e n sei, müsse er straflos bleiben, denn der Versuch. Unfug
zu verüben, bleibe straflos. Wenn jemand bestraft werden
müsse, so sei es der Beamte, der ihn verhaftet habe, denn
dieser habe dadurch, dass er dies getan, ganz allein eine Stö-
rung verursacht, nicht er. Es gelang dem Ange-
klagten aber nicht, den Richter zu seiner
Auffassung der Sache zu bekehren, viel-
mehr diktierte ihm der Amtsgerichtsrat
Holzapfel wiederum 6 Wochen zu.“
Dieselbe Auffassung, eher noch eine liberalere wie zur Zeit
die meisten deutschen Behörden, bekunden die französischen.
Als dort vor einigen Jahren die Gattin des Forschungsreisen-
den Dieulafoy, die diesen in Männerkleidung nach Persien usw.
begleitete, auch nachher bei amtlichen Festlichkeiten im Kreise
der Akademiker im Zylinder und mit dem Bande der Ehren-
legion im Knopfloche ihres Fracks erschien, zog die Zeitung
„Petit Parisien“ an zuständigen Stellen Erkundigungen ein,
ob und inwieweit derartige „Vermummungen“ gestattet seien.
Wie die Kölnische Zeitung mitteilt (Jhb. V, 1188), erklärte
ein höherer Präfekturbeamter, „dass in dieser Beziehung eigent-
lich nur die jährlich zum Kanieval erneuerte Polizeiverordnung
über dieStunden in Betracht käme, während deren die Verkleidung
auf offener Strasse erlaubt sei. Wenn aber eine Person versichere,
dass sie einen Anzug alltäglich trage, und wenn dieser
der landläufigen Tracht entspreche, sei nicht einzusehen, wes-
halb man sie verhindern könne, sich nach ihrer Art
und nach den Bedürfnissen des Standes zu kleiden. Andernfalls
müsste man auch das geistliche Gewand verbieten, meinte der
Präfekturbeamte, weil sieh darin womöglich eine Aehnlichkeit
mit einem weiblichen finden lasse. Es gäbe Fälle, wo Frauen
in der Tracht von Maurern. Fuhrleuten usw. arbeiteten, imd
in solchen Fällen drücke die Polizei ein Auge zu. Im Ka-
binett des Präfekten gab man die Ant-
wort, dass die vorliegende Frage streng
genommen nur noch durch eine Polizei-
verordnung vom 16. Brumaire de.s Jahres
359
IX (7. Movember 1800) entschieden werden könne,
welche die Genehmigung zu den damals
häufigen Vermummungen von einem ärzt-
lichen Zeugnis abhängig macht, das der
Bewerber oder die Bewerberin der beson-
deren Tracht aus Gesundheitsrücksich-
ten bedürfe. Mit der Zeit habe man aber Ausnahmen
hiervon gemacht, so bei Aurore Dupin (George Sand). Rosa
Bonheur und Marguerite Bellanger, der Margot Napoleons III.,
die die Eifersucht der Kaiserin erregt habe. Früher seien die
Gesuche um die Erlaubnis zum Tragen von Männerkleidern
häufiger gewesen; seit Einführung der an das stärkere Ge-
schlecht erinnernden Kleidung für Radfahrerinnen aber scheine
die Sucht der Frauen nach sonstigen männlichen Trach-
ten immer mehr abgenommen zu haben.“
Am rigorosesten geht man gegen die Verkleideten in Eng-
land, den englischen Kolonien und den Vereinigten Staaten von
Nordamerika vor. ln 'sdelen Fällen haben hier die Richter die
Verkleidung kurzweg als Betrug erklärt und als solchen be-
straft. Ein solcher könnte nach unserer Auffassung doch nur
in Frage kommen, wenn die Betreffenden mit der Verkleidung
die Absicht haben, sich einen rechtswidrigen Gewinn zu ver-
schaffen, wobei dann dieses Verbrechen gegen das Vermögen,
nicht aber die Verkleidung als solche, die in das Recht des
l^Ienschen über seinen eigenen Körper fällt, die Straftat dar-
stellt. Das im Lande der streitbaren Suffragettes geübte Ver-
fahren ist um so befremdlicher, als, wie aus der Art, in der in
der Presse über solche Vorkommnisse berichtet wird, hervor-
geht, das Volk dazu neigt, derartige Verkleidungen als drollige
Kuriositäten aufzufassen. Einige Beispiele aus der englischen
Rechtspraxis dienen zur Illustration dos Gesagten: „Grosses
Aufsehen — so berichtet die Londoner Presse (Jhb. II, S. 453)
— erregte in dem Kriminalgerichtshof in Clerkenwell, Alt-
London, ein in Untersuchungshaft befindlicher junger Mann,
der als elegant gekleidete Dame auf der An-
klagebank erschien. Er trug ein tadellos sitzendes schwarzes
Kostüm, das nach neuester Mode speziell für ihn gearbeitet
zu sein schien. Um seinen Hals schmiegte sich eine graue
360
Federboa, die in der Farbe mit einem kokett garnierten Ma-
trosenhut aus Seident'ilz harmonierte. Die in perlgrauen Gla-
cees steckenden Hände in einem fashionablcn Astrachanmuff
verbergend, lehnte sich das merkwürdige Individuum in
graziöser Haltung an die Barriere, die es von den Geschwore-
nen und dem Untersuchungsrichter trennte. Wie sich aus dem
Verhör und den Zeugenaussagen ergab, hatte der in so sonder-
barem Aufzuge sich zeigende Angeklagte, ein bis vor kurzem
in einem vornehmen Hause in Gresse Street angestellter
Kammerdiener, am Abend vorher in Eustonroad in dersel-
ben Verkleidung die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich
gelenkt. Der Abenteuerlustige hatte sich, wie er angibt, einen
Scherz machen wollen. Ein Geheimpolizist war der sich ver-
dächtig benehmenden Person schon einige Zeit gefolgt; da
wandte diese sich plötzlich um und legte ihren Arm in den des
Beamten. Zu ihrer wohl nicht sehr angenehmen Ueberraschung
erfasste der vermeintliche Verehrer die auf seinem Arm liegende
Hand mit weniger zärtlichem als energischem Griff und sagte
laut: „Ich bin Detektiv und habe Ursache, Sie für einen Mann
zu halten.“ Darauf suchte die „Dame“ ihren Arm zu befreien
und rief im Tone der Entrüstung: „Sie Elender, ich bin eine
Lady!“ Als der Beamte jedoch keine iMiene machte, sich seinen
Fang entschlüpfen zu lassen, führte die Person, ehe er es ver-
hindern konnte, mit der geballten Faust einen derben Stoss
gegen seinen Mund aus. „Ihnen allein soll es nicht gelingen,
mich mitzunehmen!“ schrie der Verkleidete wütend und zer-
kratzte mit der rechten Hand das Gesicht des Gegners. In
dem nun entstehenden Ringkampf wiude die „Lady“ zu Boden
geworfen, riss aber im Fallen den Detektiv mit und biss ihm
in die Finger. Einige inzwischen herbeigeeilte Polizisten be-
wältigten das um sich stossende, kratzende und heissende In-
dividuum und schleppten es zur Polizeistation. Der An-
geklagte wurde wegen öffentlichen Tra-
gens weiblicher Kleidung zu drei Mona-
ten und wegen Körperverletzung und Beanitenbeleidigung zu
weiteren drei Monaten Gefängnis verurteilt.“
Am 13. November 1908 wnirde in London ein Mann,
Julius Walters, 38 Jahre alt, der sich „Klara M y e r“
361
nannte, zu 5 Monaten verurteilt und ausgewiesen. Dieser
hatte bereits 1895 3 Monate .bekommen „for masquerading as
a female“; 1896 erhielt er dieselbe Strafe für das gleiche
Vergehen. 1899 wurde er zu 6 Monaten, 1900 zu 12 Monaten
verurteilt, 1904 zu „12 months and 12 strokes for masquera-
ding as a woman and frequenting streets.“ 1906 und 1907
erhielt er kleinere Strafen.
lieber eine Gerichtsverhandlung, die sich in Durban ab-
spielte, berichtet die „Natal Mercury“ (citiert nach der Ber-
liner Nationalzeitung v. 1. VIII. 05): Dem Richter Stuart
wurde ein leidlich hübsches „Kaffernmädchen“ wegen groben
Unfugs ' vorgeführt. „Was hat sie denn verbrochen?“ fragte
der Richter den Polizisten. „Sie hat gar nichts getan — aber
er — das Mädel ist nämlich ein Mann!“ berichtet der Beamte.
Verdutzt schaute der Richter sich die nur mit einem weissen
Musselinrock, einen um den Oberkörper geschlungenen schweren
Schal bekleidete und den gewöhnlichen Kopfputz
der Kaf fern f rauen tragende Gestalt an. „Ein Mann?“
fragte er dann ungläubig. „Jawohl, ein ganzer Mann, Ew.
Ehren“, erwiderte der Polizist. „Zweimal ist dieses männlich-
weibliche Wesen bereits früher wegen seiner Maskerade bestraft
worden. Aber immer wieder läuft sie — er, w'ollte ich sagen,
in dem Musselinröckchen herum.“ „Wie heissen Sie denn?“
fragte der Richter die falsche Schöne. „Mariechen!“ lautete
die Antwort. Nun war es auch mit dem richterlichen Ernst
vorbei und er stimmte in die allgemeine Heiterkeit ein, die
diese Antwort im Saale entfesselte! Als die Ruhe wieder her-
gestellt war, fragte der Richter das männliche „Mariechen“,
warum „es“ denn in Frauenkleidern herumlaufe? „Ja, darin
fühle ich mich bequem“, erwiderte das „Mannweib“.
„Mariechen“ wurde zu einer Geldstrafe von 200 Mark verur-
teilt. Da sie diese Summe in ihrem Kleide nicht finden konnte,
musste sie auf 3 Monate hinter schwedische Gardinen
spazieren. „Wenn ich herauskomme, ziehe ich meinen Musse-
linrock doch wieder an“, meinte lachend die „Schöne“, als sie
abgeführt wurde.“
Sehr wenig einheitlich ist die Rechtsprechung in Nord-
;imerika, wo in den tnnzolnen Bundesstaaten ganz verschiedene
Bestimmungen massgebend sind. Nicht überall verfahrt man
so milde wie im Staate Ohio, von wo im April 1906 folgender
Vorfall gemeldet wurde: „Randolph Milburn. der in Washing-
ton (Ohio) als Musiklehrer seit langem tätig ist, wurde .jüngst
festgenommen, weil er in F r a u e n k 1 e i d u n g in den
Strassen erschien. Als man ihn fragte, warum er ein solches
Kostüm bevorzuge, erklärte er, wenn es einem „gewissen Fräu-
lein Mary Walker erlaubt sei, in Männerkleidung daherzu-
gehen, so müsse er auch ein Recht dazu haben, Röcke zu
tragen.” Damit war die schwierige Frage nacli der gesetz-
lichen Erlaubnis einer solchen Kleidung angeregt, und als man
nun die Gesetze von Ohio befragte, so ergab es sich, dass das
Recht von Ohio einem Mann gestattete, anzuziehen, was ihm
beliebte, vorausgesetzt, „er beabsichtigt keinen
Versuch, bezüglich seines Geschlechtes
eine Täuschung herbeizuführen“, wie das
Gesetz sich ausdrückt. Um also ferneren Belästigungen vor-
zubeugen und den Gesetzen seines Staates gemäss zu handeln,
trägt Milburn, w'enn er jetzt in Frauenkleidern spazieren geht,
ein grosses silbernes Schild auf der Brust, auf dem geschrieben
steht: „Randolph Milburn. Ich bin ein Mann.“ Mit dieser In-
schrift erklärte sich die Polizei befriedigt.
Nicht nur fast alle Staaten, sondern beinahe jede grössere
Stadt besitzt in Amerika Polizeivorschriften, die das Tragen
der Kleider des anderen Geschlechts ausser in der eigeneni Woh-
nung und im Karneval verbieten. Californien beispielsw^eise
hat zwar kein Staatsgesetz darüber, dafür haben aber die
meisten stärker bewohnten Plätze Paragraphen, die für Ge-
schlcchtsmaskierungen Strafen von fünf bis hundert Dollars
festsetzen. 1890 wurde aus diesem Grunde ein ziemlich be-
kannter Politiker L., der später sogar Kongressmitglied in
Washington wurde, verhaftet und für Anlegen von Frauenklei-
dern mit lOO Dollars Geldstrafe belegt;, natürlich wurde in dem
Wahlkampf diese Tatsache nicht wenig gegen ihn au.sgemünzt.
In der Stadt New York wurde 1904 ein Mann namens Becker
wegen Gehens in Frauenkleidern zu 6 Monaten Gefängnis ver-
urteilt; er war von einer Frau der Polizei angezeigt worden.
363
In einer New Yorker Zeitung vom 6. 7. 07 findet sich folgen-
der Bericht: „Weil er keine Stellung zu finden vermochte, zog
sich John Becht ein elegantes Tailormadekostüm an, versah
sich mit einer blonden Perücke, einem malerischen Hute und
fragte in dieser Verkleidung um Arbeit an. Er erhielt solche
als Köchin in verschiedenen Haushalten. Donnerstag nacht fiel
er in die Hände der Polizei. Er wurde wegen Gefährdung der
öffentlichen Sittlichkeit durch seine Maskierung als Weib zu
neun Monaten Gefängnis verurteilt.“ Die Ver-
kleidung wird im „freien“ England und Amerika auch, wenn
durch sie kein öffentliches Aergernis erregt wird, als
öffentliches Aergernis angesehen; im allgemeinen werden
dort allerdings nur ertappte Männer bestraft, als Männer
auftretende Frauen kommen meist mit einem Verweis oder
einer Warnung davon.
Das einzige Land, in dem es ausdrücklich verboten ist,
eine andere als die dem Geschlecht entsprechende Kleidung zu
tragen, ist Japan; wenigstens teilt Dr. Suyewo Iwaya
aus Tokio in seiner interessanten Studie ,,Nan-sho-k’“
im IV. Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen mit, dass die ja-
panischen Schauspieler, welche nur in Frauenrollen auftreten,
„früher auch ausserhalb der Bühne weiblichen Anzug trugen,
aber jetzt nicht mehr, weil es gesetz lieh
verboten ist, dass der Mann eibliche
oder die Frau männliche Kleider trägt.“
Die zutreffendste Lösung der wie wir sehen in den
verschiedenen Ländern recht verschieden behandelten Frage
scheint uns die zu sein, dass man die Erlaubnis, die Tracht des
anderen Geschlechts öffentlich anlegen zu dürfen, von einem
Gesuch abhängig macht, das die Personen, welche dies wün-
schen, der Polizei einzureichen haben, ähnlich wie es die er-
wähnte Polizeiverordnung aus der Zeit der französischen Re-
volution vorschreibt. Das Ansuchen müsste die Gründe ent-
halten, auf die sich die Forderung stützt; in den meisten
Fällen wird sich die Beifügung eines ärztlichen Attestes un(J
einer Photographie in männlicher und weiblicher Kleidung em-
pfehlen. Im Prinzip müsste die Erlaubnis erteilt w'erden, mit
dem Vorbehalt, dass sie zurückgezogen wird, wenn die betreften-
den Personen durch die Verkleidung die öffentliche Ordnung
stören oder in ihr strafbare Handlungen begehen sollten.
Verkleidung und Kriminalität.
Das letztere kommt in nicht ganz seltenen Fällen vor,
sei es, dass die Straftaten eine direkte Folge des Verkleidungs-
triebes sind — wie es gelegentlich bei Falschmeldungen, F ahnen-
flucht, Diebstählen festgestellt wurde — sei es, dass die Ver-
mummung benutzt wird, um sich die Ausführung von Vergehen
und Verbrechen zu erleichtern oder um die Spur auf eine falsche
Fährte zu lenken. Natürlich braucht dann kein Verkleidungs-
trieb vorzuliegen. Und selbst wenn er vorhanden ist —
manchmal hat es allerdings fast den Anschein, als ob es sich
um eine Ausnutzung der primären Neigung handelt — , so ist
dadurch die freie Willensbestimmung in Bezug auf die ausser-
halb des Verkleidungstriebes liegenden kriminellen Handlungen
in keiner Weise beeinflusst; auch der ausgesprochenste Trans-
vestit ist dann genau so verantwortlich und strafbar wie jeder
andere geistig gesunde Mensch; höchstens kann bei Delikten,
die unmittelbar aus dem Verkleidungstrieb hervorgehen, in
Frage kommen, ob nicht die freie Willensbestimmung im Sinne
des dem jetzigen § 51 entsprechenden § 63 des Vorontwurfs
zum neuen deutschen Strafgesetz zwar nicht ausgeschlossen,
aber doch in hohem Grade „vermindert ist'*.
Von solchen strafbaren Handlungen, die im direktesten
Zusammenhang mit der Geschlechtsverkleidung ausgefülirt wer-
den, sind hauptsächlich folgende zu nennen; Einmal die Füh-
rung eines falschen Namens. Es liegt sehr nahe, dass eine als
Frau auftretendc Person sich auch mit weiblichem Namen an-
meldct und dass eine Frau, die als Mann arbeitet, sich auch
eines männlichen Namens bedient. Täten sie es nicht, würden
sie ja damit bald ihr meist ängstlich behütetes Geheimnis preis-
geben. Einige charakteristische Beispiele von hierher gehörigen
Falschmeldungen, die die Behörden beschäftigten,
mögen die angeführten Vorkommnisse illustrieren.
365
Das Landgericht zu Dresden verurteilte den angeb-
lichen Dienst knecht Ernst Schulze, der
angeblich am 12. Mai 1881 zu Burg bei Hoyerswerda geboren
ist; wegen Unterschlagung, Urkundenfälschung und Betruges
zu sechs Monaten Gefängnis. Als der Verurteilte zur V e r -
büssung der Strafe eingeliefert wurde,
stellte der Gerichtsarzt Medizinalrat Dr. Donau fest, dass
Schulze ein Mädchen sei. Die weitere Untersuchung ergab,
dass es sich um die am 6. April 1875 zu Neudorf bei Hoyers-
werda geborene Dienstmagd Johanna Casper handelte. Sie hat,
ohne dass jemand hinter das Geheimnis gekommen wäre, eine
ganze Eeihe von Jahren Mähnerkleidung getragen, als Dienst-
knecht gearbeitet und ist auch, wie bemerkt, als solcher ver-
urteilt worden. Weil sie sich einesihr nicht
zukommenden Namens einem zuständigen
Beamten gegenüber bedient hatte, wurde
sie des weiteren z.u einem Monat Haft
verurteilt. fJhb. III, 560.)
In Lemberg wurde ein in einem Hotel bediensteter Kellner,
der auf den Namen Michael hörte, wegen Führung
eines falschen Dienstbuches mit 3 Tagen
Arrest bestraft. Es stellte sich nämlich heraus, dass
Michael ein verkleidetes Mädchen war. Als zehnjähriges Kind
war Michaeline aus dem Elternhaus entflohen und hatte als
Bursche verkleidet eine Stellung angenommen. (Jhb. V, 1247.)
Noch zwei weitere Fälle aus Oesterreich-Ungarn, wo sich
übrigens hinsichtlich der Beurteilung der Verkleidung selbst im
allgemeinen eine ähnliche Rechtspraxis herausgebildet hat wie in
Deutschland. Aus Wien meldet man: In der Zirkusgasse in
der Leopoldstadt vmrde Sonntag auf offener Strasse ein dürftig
gekleideter Mann in tiefstem Schlafe gemächlich hingestreckt
aufgefunden, und es bedurfte nicht erst langer Beobachtung,
um zu erkennen, dass der Schläfer einen Kapitalrausch hatte.
Der Wachmann, der den Mann wecken wollte, hatte nicht ge-
ringe Mühe, denselben auf die Beine zu stellen und auf das
Kommissariat zu eskortieren; dort musste der Betrunkene
vorerst in eine Zelle gebracht werden, damit er sich ernüchtere.
Ueber Nacht war von dem Häftling der Rausch einigermassen
— ;]6G —
gewichen, und mm hognnn die polizeiübliche Prozedur: ürzr-
liche Visitation, Ahnalime der Generalien usw. Der Arzt
machte bald an dem Manne eine Entdeckung, die ihn nicht
wenig verdutzt machte; er konstatierte nämlich, dass der
Arrestant keineswegs ein Mann, sondern ein Weib war. Im
Verlaufe des unmittelbar nach dieser überraschenden Feststel-
lung aufgenommenen Verhörs gab diese merkwürdige Frau offen
zu, dass sie schon seit 30 Jahren in Männerkleidern her-
umgehe . . . Die Frau nannte sich P. E., ist gegenwärtig
53 Jahre alt, wohnt in der Haidgasse Nr. 10 bei einem Schuh-
macher und brachte sich kümmerlich als Harfenist
fort. Sie ist angeblich die Tochter eines höheren Offiziers, nach
dessen Tode sie ins Waisenhaus gebracht wurde, welches sie
noch im jugendlichen Alter verliess. Nun war sie, da ihr die
Mutter fehlte und sie weder Mittel noch an Verwandten eine
Stütze besass, darauf angewiesen, sich einen Erwerb zu suchon.
Da kam ihr, der von aller Welt Verlassenen und über ihre Häss-
lichkeit Verbittert-en, der sonderbare Einfall, die Frauenklcider
abzulegen. So wurde aus dem Fräulein Paula
ein Paul E. Da sie das Violinspielen gelernt hatte, blieb
sie bei der Musik und zog nun von Lokal zu Lokal, bald allein,
bald in Gesellschaft, von dem Erträgnisse ihrer „Kunst“ stets
kümmerlich genug lebend . . . Die Polizeibehörde wird nach
dieser Sachlage gegen P. E. die Anzeige wegen Falsch-
meldung an das Bezirksgericht leiten. (Jhb. III, 531.)
Ein weiterer Fall ebenfalls aus Wien ist noch aus einem
anderen Grunde — wegen eines mit dem Verkleidungstriebe
zu.sammenhängenden Erbschaftsstreites — von forensischem
Interesse.
Vor längerer Zeit wurd in Wien die damals 45jährigc
Anna Drexelsberger wegen Falschmeldung verurteilt. Sie hatte
30 Jahre Männerkleidung getragen und sich polizeilich a 1 s
Anton Horner, „Hausknech t“, gemeldet. Als es
durch die Verhandlungsberichte bekannt geworden war, dass
Anna Drexelsberger — so teilte sie wenigstens mit — nur des-
halb Männerkleidung getragen habe, „weil sie nur als Manu
die Stellung eines Hausknechtes habe erhalten können“, wandte
sich die Aufmerksamkeit dieser Frau zu. Von verschiedenen
367
Seiten wurde ihr Arbeit und Beschäftigung angetragen, damit
sie nicht mehr gezwungen sei, ihr Geschlecht zu verleugnen.
Sie entschloss sich endlich, als Gesellschafterin zu einer alten
Dame zu gehen. Am Ende des vorigen Jahres starb Anna
Drexelsberger in London, nachdem sie kurz vorher von ihrer
Dienstgeberin 50 000 fl. geerbt hatte. Von diesem Gelde ver-
machte sie 30 000 fl. einem Mädchen in Wien, von wel-
chem sie als Mann verehrt worden war“,
und zwar (wie es in dem Testament hiess) „als Genugtuung da-
für, dass sie das arme Mädchen in ihrem Irrtum belassen und
genarrt hatte“. Die Erblasserin wurde von den prozessführen-
den Verwandten als geistig nicht normal be-
zeichnet. Gestern entschied das zuständige Gericht in Wien,
dass das Testament als giltig anerkannt
werde. Es hätte sich keine Veranlassung ergeben, die Zu-
rechnungsfähigkeit der Erblasserin zur Zeit der Testaments-
legung zu bezweifeln, die Verlassenschaftsbehörde hatte viel-
mehr die angefochtene Verfügung als „ganz plausibel“ befun-
den. (Jhb. II, p. 451.)
Es wäre zu erwägen, ob man nicht Personen, die im Ge-
wände des anderen Geschlechts arbeiten oder Beschäftigung
suchen, folgerichtig auch gestatten sollte, ausser der zum
Amtsgeheimnis verpflichteten Polizeibehörde gegenüber ein
Pseudonjun, zum mindesten einen Vornamen zu führen,
der mit der gewählten Kleidung übereinstimmt. Wenn man den
Petenten dies verweigert — wie in dem oben Kap. II. p. 198
von uns gutachtlich mitgeteilten Fall, so erschwert man ihnen
ganz ausserordentlich, eine soziale Stellung zu finden und för-
dert leicht das Aufsehen, welches man vermindern möchte.
Ein weiteres Verbrechen, das mit dem Verkleidungstrieb in
engen Beziehungen stehen kann, ist die F ahnenflucht , wie
folgende Beispiele beweisen: Ein Deserteur in Frauenkleidern ist
kürzlich, wie die „Nat.-Ztg.“ imSept. 1900 meldet, in Troppau
(Oesterr. Schles.) gefasst worden. Der Infanterist Jaskulsky
vom 1. Oesterreichischen Infanterie - Regiment war wegen De-
sertion steckbrieflich verfolgt. Seine Auffindung war deshalb
erschwert, weil der Infanterist als Dienst-
mädchen in Beschäftigung stand. Sein mädchenhaftes
368
Aussehen und der Umstand, dass er in früheren Jahren als
Damen-Iinitator sich produziert und daher seine Stimm-Mittel
entsprechend inodulationsfähig gemacht hatte, begünstigten
die Täuschung. Auf einer Tanzunterhaltung, die er als Dienst-
mädchen besucht hatte, wurde er trotz seiner Frauenkleider
von einem Soldaten erkannt, der ihn auf dem Heimwege arre-
tieren liess. Der Deserteur wurde dem Garnisonsge-
richt eingeliefert, nachdem er seiner Frauenkleider entledigt
und in eine männliche Zivilkleidung gesteckt worden war.
(Jhb. III. 554.)
„Am 8. März 1896 wurde in dem von Oldenburg in Leer
eintreffenden Zuge im Damenkoupe ein Fräulein bemerkt, wel-
ches durch seine tiefe Bassstimme dem Bahnpersonal verdächtig
vorkam. Der herbeigerufene Polizeisergeant, der neben dem
Fräulein Platz nahm, erkannte bald, dass er einen Mann vor
sich habe. Zur Rede gestellt, erwiderte der verkleidete Passa-
gier, dass er zu seinem Vergnügen in Frauenkleidern nach
Holland reisen wolle. Der Beamte brachte nun den Verdäch-
tigen nach dem Amtsgerichtsgefängnis, wo er endlich ein-
gestand. aus Oldenburg . desertiert zu sein.“
Am 16. April 1897 wurde ein Deserteur in Frauenkleidern
in Weissenburg festgenommen. In der Umgebung daselbst
trieb sich seit einiger Zeit eine verdächtige Frauensperson um-
her. Der ziemlich beträchtliche Schnurrbart-Anflug und einige
andere wenig weibliche Eigenschaften an dieser Person veran-
lassten einen Einwohner, die Polizei auf die sonderbare Dame
aufmerksam zu machen. Es stellte sich heraus, dass die Si-
stierte unter ihren Kleidern Uniformstücke des in Landau
garnisonierenden 23. Infanterie-Regimentes trug. Der Deser-
teur stammt aus Kaiserslautern und hat schon 5 Jahre bei der
Fremdenlegion gedient.
„Am 8. Juni 1895 erschienen im Hause des Advokaten Po-
telli in Mantua ein Wachtmeister und zwei Mann, um einen
im Hause angeblich verborgenen Deserteur zu verhaften. .Jeder
Protest, dass es sich um ein Missverständnis handeln müsse,
war vergeblich. Das Haus vuirde durchsucht — umsonst. Da
trat plötzlich das erst seit 6 Tagen im Dienste stehende
Kammermädchen der gnädigen Frau ein. Den Wachtmeister
369
sehen und auf und davon gehen, war eins; der Wachtmeister
und die Soldaten stürmten hinterher. Das Kammermädchen
wurde erwischt und entpuppte sich als der gesuchte De-
serteur, der sofort wie er ist in seinen Weiberkleidern in
Garnisonarrest geführt wird. ^ladame Poteili soll geschworen
haben, nie wieder ein Kammermädchen aufzunehmen, ehe sie
nicht genau weiss, ob es auch ein Kammermädchen ist.“
Es ist ohne weiteres klar, dass das Anlegen von Weiber-
kleidern auch von einem völlig normalen Soldaten angewandt
werden kann, um die Spur zu vertuschen. Zahlreicher übrigens,
wie die weiblich gearteten Männer, die vom Militär fliehen,
sind — wie wir noch hören w'erden — die männlich gearteten
Frauen, die sich verkleiden, um Soldaten zu werden.
Wie in dem letztgenannten Beispiel, so kann auch bei Ver-
brechen und Vergehen gegen das Eigentum die Ver-
kleidung sowohl die Ursache als auch — und
das dürfte häufiger Vorkommen — ein Mittel zur
Erleichterung der Tat sein. Für beides wiederum einige
Vorgänge aus dem Leben; „Eineo ’ schweren Vertrauens-
bruchs hat sich der Diener Eugen B. schuldig gemacht, der
sich unter der Anklage des Diebstahls vor der ersten Ferien-
strafkaramer des Landgerichts I zu verantworten hatte. B;
stand seit kurzer Zeit in den Diensten des Kommerzienrats
B., als dieser mit seiner Familie eine Reise nach dem Süden
■unternahm, ohne den Angeklagten mitzunehmen. Er verlebte
nun beschauliche Tage, von häufigen Vergnügungen unterbrochen.
Am 7. März sollte ein Maskenball in einem Hotel statt-
finden. Der Angeklagte hatte das Verlangen, daran teilzu-
nehmen, aber keine Mittel, sich eine so kostbare Maskengarde-
robe leihen zu können, wie er sie zu haben wünschte. Da kam
er auf eine verwegene Idee. Die Hausdame, die in Abwesen-
heit der Frau Kommerzienrätin den Hausstand führte, hatte
den Schlüssel zum Kleiderschrank in Verwahrung. Der Ange-
klagte wollte auf dom Maskenball als elegante Dame auftreten.
In Abwesenheit der Hausdame nahm er den zum Kleiderschrank
gehörigen Schlüssel fort, öffnete den Schrank und nahm unter
dem Inhalt eine Auslese vor. Es waren nicht die schlechtesten
Uirschleld, Die Transvestiten.
24
Stücke, die er aussuchte und mit auf sein Zimmer nahm. Als
er einen der kostbaren Spitzenröcke anprobierte, zerriss dieser.
Der Angeklagte brachte ihn nach dem Aufbewahrungsort zu-
rück, die übrigen Sachen brachte er nach der Wohnung eines
Freundes, des Masseurs D., wo er sich auch am Abend des
Maskenballes ankleidete. Nach durchschwärmter Nacht zog er
sich wieder in der Wohnung seines Freundes um und Hess die
Damenkleider dort. Nach einigen Tagen entdeckte die Haus-
dame, dass die Kleider fehlten. Sie machte der Kriminalpolizei
Anzeige. Als ein Beamter den Angeklagten verhörte, gab
dieser an, wo er die Kleider gelassen und wozu er sie benutzt
hatte. Man liess die Garderobe holen. Die Kleider sahen bös
aus, sie waren teilweise zerrissen und be-
schmutzt. Der Angeklagte entschuldigte sich vor Gericht
damit, dass er auf dem Maskenball angetrunken gewesen sei
und in diesem Zustande die Kleider nicht so habe in Acht
nehmen können, wie er es gewollt. Durch die Beweisaufnahme
wurde festgestellt, dass die Sachen einen Wert von über 2000
Mark gehabt hatten und nun fast wertlos geworden waren.
Als der Staatsanwalt eine Gefängnisstrafe von drei Wochen
wegen Diebstahls beantragt hatte, erhob der Angeklagte den
Einwand, dass er doch unmöglich wegen Diebstahls verurteilt
werden könne, denn er habe doch nicht die Absicht gehabt, die
Kleider zu behalten. Nur aus Nachlässigkeit habe er verab-
säumt, diese rechtzeitig wieder an Ort und Stelle zu bringen.
Seiner Ansicht nach könne er nur wegen Sachlic-
schädigung verurteilt werden. Der Gerichtshof trat
dieser Ansicht bei. Es liege kein Diebstahl, sondern Sachbe-
schädigung vor und deshalb sei der Angeklagte mit einer Ge-
fängnisstrafe von 4 Monaten zu belegen, denn seine Hand-
lungsweise erfordere eine strenge Sühne. (Jhb. V, 1196.)
„Der 19 Jahre alte Kellner Wilhelm Hans Julius Sch. ist
wmgen Diebstahls angeklagt; er räumte die ihm zur Last ge-
legten Straftaten reumütig ein und bittet um milde Strafe.
Der Staatsanwalt beantragt wegen dreier einfacher Diebstähle
10 Monate Gefängnis und 2 Jahre Ehrverlust; der Gerichtshof
erkennt auf 8 Monate Gefängnis, rechnet dem Angeklagten aber
6 Wochen auf die erlittene Untersuchungshaft an. Der Ange-
371
klagte kielt sich im Oktober vorigen Jahres in Hamburg auf,
um sich eine Stelle auf einem Schiffe zu suchen; er logiert bei
Leuten, zu denen ihn sein auswärts wohnender Vater gebracht
hatte, der auch sein Logisgeld bezahlte. Eines Tages fand Sch.
in einem Schranke, der in seinem Zimmer stand, zwei Spar-
kassenbücher über 2700 Mk. ; er nahm diese Bücher heraus und
hob in mehreren Raten eine Summe von ungefähr 500 Mk. bei
der Sparkasse. Für dieses Geld kaufte er sich
Frauenkostüme, die er anzog und damit
auf die Strasse ging. Der Angeklagte ist anschei-
nend ein abnorm veranlagter Mensch, der die eigentümliche
Neigung hat, sich wie ein Frauenzimmer zu kleiden und in
dieser Kleidung umherzustreifen.“ (Jhb. V, 1185.)
Von einem weiblichen Seitenstück zu diesen Männern ist
in folgendem Bericht aus dem Jahre 1898 die Rede: „Eine Ver-
lobung, die in ihrer Art vereinzelt dastehen dürfte, hat eine
Beamtenfamilie in grosse Bestürzung versetzt. Vor kurzem
machte die 17jährige Tochter auf einem Balle die Bekannt-
schaft eines jungen Seemannes, der durch seine schmucke Uni-
form und seine angenehmen Manieren sofort ihr Herz gewann.
Der hübsche Matrose war, wie er erzählte, auf längere Zeit
beurlaubt. Nach einigen Wochen schon willigten die Eltern
in eine Verlobung, die auch regelrecht bei Musik und
Tanz gefeiert wurde. Eines Tages war der Seemann verschwun-
den. Als sich die verlassene Braut an Verwandte wendete, von
denen der Bräutigam früher gelegentlich gesprochen hatte, er-
fuhr sie zu ihrer grenzenlosen Ueberraschung, dass der Auser-
wählte ihres Herzens gar kein Mann, sondern weiblichen Ge-
schlechts sei. Da das junge ^lädchen hieran nicht glauben
wollte, wurde ein Zusammentreffen mit dem Bräutigam, der
Berlin noch gar nicht verlassen hatte, ermöglicht. Hier er-
schien der Bräutigam, der keine Ahnung hatte, wer ihn er-
wartete, in weiblicher Kleidung. Wie sich jetzt herausgestellt
hat, ist der Verlobte derselbe weibliche Matrose, der, wie
jüngst berichtet wurde, einen Schneidermeister im Norden
mit zwei Matrosen - Anzügen prellte. Der
Person sieht man allerdings kaum an, dass sie zu Evas Ge-
schlecht gehört. Männliche Gesichtszüge, kurzgeschnittenes
24*
Haar erleichtern die Maskerade ganz bedeutend. Die Eltern
sind dem Treiben ihrer Tochter gegenüber völlig machtlos."
Von Verbrechern a 1 1 e r A r t , die in Frauenkleidern aui-
treten, um leichter an ihi- Ziel zu gelangen, sind in der Krimi-
nalgeschichte eine ganze Heihe verzeichnet. Schon Ilarmodius
und Aristogeiton verkleideten sich als Tänzerinnen und er-
dolchten so den Tyrannen Hipparchos. Im Jahre 1807 erregte
in England ein Gauner grosses Aufsehen, der sich in Damen-
kleidung bewegte und insbesondere in Postwagen bei
vornehmen Herren Diebstähle ausführte, nachdem er die -be-
treffenden Opfer zu allerlei Liebenswürdigkeiten und zärtlichen
Annäherungen veranlasst hatte. Vor einigen Jahren wurde aus
Kopenhagen folgendes Vorkommnis mitgeteilt: „In einem hie-
sigen Verein wurde dieser Tage ein grosser Maskenball veran-
staltet. Unter den Anwesenden zeichnete sich besonders eine
als Pierette kostümierte deutsche Dame durch ihre Schönheit
und Anmut aus. Die Herren wetteiferten um einen Tanz mit
der entzückenden Dame. Prüde war die schöne Pierrette nicht,
denn sie erwiderte ^ede Liebkosung und drückte ihre Tänzer
sehr zärtlich an sich. Die vielen Eroberungen der Pierrette er-
regten jedoch die Eifersucht der anderen Damen, von denen
eine, die das Treiben jener scharf beobachtete, bald die unlieb-
same Entdeckung machte, dass die deutsche Dame während de>
Tanzes die Brusttaschen der Herren unter-
suchte und sich ihre Brieftaschen an-
eignete. Ueber diese Frechheit entrüstet, machte sie einen
Polizeiagenten auf ihre Entdeckung aufmerksam. Xaclidem
dieser sich von der Richtigkeit der Sache überzeugt, führte er
die junge Dame auf die Wache, wo Pierrette untersucht wurde.
Gross aber war das Erstaunen der Polizei, als die schöne
Deutsche sich als ein Mann, ein Buchbindergesellc namens Alois
Embusch entpuppte. Man fand in seinem Besitz mehrere Port».'-
monnaies. Er gestand, eine ganze Reihe Taschendieb
stähle verübt zu haben. Der junge Mann wird sich nun
wohl auf eine längere Gefängnisstrafe gefasst machen müssen.“
(Jhb. V, 1191.)
In der Berliner Gerichtskorrespondenz vom 2. Febru.ir
1892 findet sicL folgender Bericht: Wegen Diebstahls unil
373
Körperverletzung stand gestern der Hausdiener Franz Fröhlich
vor der zweiten Strafkammer hiesigen Landgerichts I. Der An-
geklagte, dessen Gesicht ganz weibliche Züge zeigt und dessen
Haar auch in langen Locken auf die Schulter fällt, macht ein
Gewerbe daraus, in Frauenkleidern die Strassen Berlins zu
durchstreifen und in dieser Verkleidung Ge-
legenheit zu Diebstählen und anderen
Straftaten zu suchen. Eines Abends hatte er sich
wieder als Dame kostümiert und seine schöne Gestalt erregte
die Aufmerksamkeit eines Schiffers, der sich an die Dame her-
anschlängelte imd ihr seine Begleitung anbot. Der Angeklagte
fand nun Gelegenheit, dem freundlichen Begleiter das Porte-
monnaie zu stehlen, und als dieser den Verlust bemerkte und
seiner Begleiterin den Diebstahl auf den Kopf zusagte, schlug
dieselbe mit solcher Wucht auf den armen Schiffersmann ein,
dass dieser schon durch die Gewalt solcher Fäuste die Ueber-
zeugung gewann, dass hier keine Vertreterin des zarten Ge-
schlechts vor ihm stände. A.uf sein Hilfegeschrei wurde der
Angeklagte festgenommen und der Gerichtshof verurteilte ihn
gestern zu zwei Jahren sechs Monaten Zuchthaus.
Am 8. Mai 1908 wurde aus Paris folgender Vorfall gemeh
det: „Seit einiger Zeit war der Pariser Kriminalpolizei ein
merkwürdiges Paar aufgefallen. Eine sehr elegant gekleidete
Dame besuchte täglich in den Mittagsstunden in Begleitung
einer Amme, die ein Baby auf dem Arme trug, die grossen Ge-
schäfte und Warenhäuser. Nach einiger Zeit betraten beide
wieder die Strasse, ohne etwas gekauft zu haben.- Da gerade
in den letzten Wochen in Paris Ladendiebstähle mit grösstem
Raffinement ausgeführt wmden, ordnete der Chef der Pariser
Kriminalpolizei an, die Verdächtigen nicht aus den Augen zu
lassen. Die Beamten taten ihre Schuldigkeit und die Beobach-
timgen ergaben ein überraschendes Resultat. Die Beamten be-
merkten, wie die Dame mit der Amme in einem Hause der
Rue Frangois I. verschwand. Man kundschaftete die Wohnung
aus, in die sie sich begeben hatten und verschaffte sich bald
darauf gewaltsam Zutritt zu dem Quartier. In der kleinen
und dürftig möblierten Wohnung fanden die Geheimpolizisten
zwar die Dame wieder, aber statt der Amme einen
374
Mann. Die Verdächtigen wurden verhaftet;, im Polizeiprä-
sidium konstatierte man, dass die elegant gekleidete Dame
eine mehrfach wegen Diebstahls bestrafte Frau Hortense Zelter
ist. Ihr Partner, der in Verkleidung als Amme auf Diebes-
imd Beutezüge ausging, wurde als ein Arbeiter L. Fenerand
rekognosziert, der ebenfalls bereits mehrere Male mit dem Ge-
fängnis Bekanntschaft gemacht hatte. Bei einer eingehenden
Untersuchung der Wohnung des diebischen Paares wurde auch
das Baby entdeckt. Dieses Baby bestand aus einer kleinen
Holzkiste, deren abnehmbarer Deckel mit dem gemalten Ge-
sicht eines kleinen Kindes versehen war. In dieser Kiste be-
fanden sich die mannigfaltigsten Diebeswerkzeuge und ver-
schiedene Gegenstände, die von Ladendiebstählen herrührton.
Die beiden hatten in folgender Weise operiert: während die
Dame die Käuferin markierte und sich diese und jene Waren
vorlegen liess, benutzte die neben ihr stehende männliche Amme
die Gelegenheit, Diebstähle auszuführen.“
Auch die weiblichen Analoga, die ihre verbrecherischen
Handlungen in Männerkleidern ausführen, fehlen nicht. In der
Familie des Medizinalrats E. in Charlottenburg verkehrte seit
einigen Monaten ein junger Student der Medizin, der sich von
Kaminski nannte und angab, gebürtiger Pole zu sein. Vor
etlichen Wochen machte nun der Medizinalrat die unangenehme
Entdeckung, dass ihm mehrere teure chirurgische Instrumente
sowie einige Schmuckgegenstände von Wert abhanden gekommen
waren, und sein Verdacht lenkte sich auf den jungen Polen.
Um sich darüber Gewissheit zu verschaffen, betraute er ein
Privatdetektivbureau mit der Beobachtung, des jungen Studenten.
Schon nach wenigen Tagen teilte ein Detektiv dem erstaunten
Medizinalrat mit, dass der angebliche Pole eine Polin sei und
bei einer Frau in der Knesebeckstrasse möbliert wohne. In
Begleitung des Medizinalrats begaben sich zwei Detektivs
gestern vormittag zu dem Pseudo-Studenten und entlarvten
ihn als Betrügerin. Von den gestohlenen Schmuck-
sachen fand man nichts mehr vor, wohl aber sämtliche Instru-
mente. Die Hochstaplerin, welche sich unter falschem Namen
in Ch. aufhielt, verkehrte in Männerkleidung in der besten Ge-
sellschaft. (Jhb. V, 1230.)
Schon Whitehead berichtet in den „Leben, Taten und
Schicksalen der merkwürdigsten englischen Räuber und Pi-
raten'“*) von Räuberinnen, die als Männer verkleidet ihre Ver- ,
brechen verübten; so von der unter Karl I. lebenden Moll Cut-
purse, die ihre Diebereien in der Xähe von London ausführte
und von einer anderen, die einst mit dem berüchtigten, 1689
hingerichteten Räuber Thomas Rumbold zusammentraf. Als
Mann gekleidet forderte sie seine Börse. Es entspann sich —
so wird erzählt — ein Kampf, in dem Rumbold Sieger blieb.
Als er den Gegner an Händen und Füssen gefesselt hatte, um
seine Taschen zu untersuchen, war er bei Oeffnung seines
Rockes erstaunt, in dem angeblichen Manne ein Weib zu fin-
den. Die Virago erzählte ihm, dass sie die Tochter eines
Waffenschmiedes sei. „In meiner Jugend wollte mich meine
Mutter zur Nadel anhalten, aber alle ihre Ermahnungen schei-
terten an meinem kriegerischen Sinn. Mit der Küche mochte
ich mir nie etwas zu schaffen machen, sondern hielt mich be-
ständig in dem Laden meines Vaters auf und freute mich, die
kriegerischen Instrumente, welche er verfertigte, zu handhaben;
mein Hauptergötzen aber war es, wenn ich ein scharfes, schönes
Schwert schwingen konnte.“ Mit 12 Jahren nahm sie heimlich
Fechtunterricht, verheiratete sich mit 15 Jahren mit einem
Gastwirte, lebte aber in unglücklicher Ehe. Von Zeit zu Zeit
unternahm sie als Mann verkleidet von ihrem Gasthause aus
Ausflüge, um auf der Landstrasse zu rauben.
Viel zu schaffen machte den Gerichten in West-
preussen in den letzten Jahrzehnten eine bereits kurz
erwähnte Schwindlerin, die sich Martin Pieske nannte,
in Wirklichkeit aber Martha Pieske hiess. Sie war
1860 als Tochter des Rittergutsbesitzers G. zu Gellnitz
(Kreis Berent) geboren; sie erklärte, von ihren Eltern als
Knabe erzogen zu sein. Die Eltern und der Ehemann, von
dem sie geschieden war, sind tot. Sie war die Frau eines
Offiziers und Grossgrundbesitzers, der früher im Kreise Pr.-
Stargard ansässig war, aber durch die tollen Streiche seiner
Frau von der Scholle vertrieben wurde. Frau Pieske hatte
•) Deutsch V. Sporschil, Leipzig 1834. Teil I, p. 93—96 u. p. 18^
bis 189. Vgl. auch Dühreu-Bloch, England p. 59 ff.
von jeher eine besondere Vorliebe, als Mann zu gehen. Ihre
Abenteuer haben in Danzig und in der Provinz viel Ge-
sprächsstorf geliefert, aber sie auch sehr oft mit dem Straf-
gesetz in Widerspruch gebracht. Als schliesslich ihr Ver-
mögen verbraucht war, sank sie mehr und mehr und kam
ins Gefängnis, später ins Zuchthaus und kaum entlassen,
immer wieder ins Zuchthaus. Nach einem schwer bewegten
Leben fand man sie auf einem Dorfe wieder. Sie war einem
Bauern monatelang ein treu ergebener und fleissiger Knecht
gewesen, als sie es sich gelüsten Hess, ihre Kunstfertigkeit
auf dem Klavier zum besten zu geben. Dadurch erweckte sie
Verdacht, und die Folge war ein weiteres Umherirren
Ihre Verbrechen waren Diebstähle. Betrügereien und Schwin-
deleien. Einer der letzten Fälle war der folgende; „Herr
Pieske". das bekannte Mannweib — wir geben den Go-
richtsverhandlungsbericht — stellte sich heute wieder
einmal in Männerkleidern und Schirmmütze der Elbinger
Strafkammer vor. Sie hat vdele Tage ihres Lebens Gefängnis-
und Zuchthauskost genossen. Zuletzt ist Frau Pieske von
der Danziger Strafkammer wegen verschiedener Betrügereien,
die sie in Danzig und Pr.-Stargard verübt hat. wieder zu
3 Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Wir haben damals
über „Herrn Pieske“ und seinen abwechslungsreichen Leliens-
lauf Näheres erzählt. Bevor „Herr Pieske“ nach Eli)ing
kam. war er vom 16. September bis Januar d. Js. bei Hrrrn
Fabian in Kalthof als Knecht tätig gewesen. Weil dc''t'n
Besitzung niederbrannte, verlor „Herr Pieske" seine Stellung
und geriet aus. Not wieder auf die Bahn des Verbrechens.
Vielen Lesern sind die Taten des „Herrn Pieske", der sieli
unter allerlei märchenhaften Erzählungen bei dem Schuh-
macher Friedrich Mater Unterkunft zu verschaffen wusste,
gewiss noch in Erinnerung. Am 21. Januar besuchte Pieske
den Schuhmacher Franz Hoffmann. . um auch diesen mit B«s
zug auf die vermeintliche reiche Erbschaft zur Hergabe von
Essen und Nachtquartier zu bestimmen. Hoffm.ann hat sich
dann über den Verbleib der Erbschaft abgemüht und schliess-
lich stellte sich alles wieder als Schwindel heraus. „Herr
Pieske“ bekam eine Zusatzstrafe von 1 Jahr Zuchthaus und
150 Mark Geldstrafe oder 20 weitere Tag Zuchthaus zu-
diktiert.“ (Jhb. V. 1206.)
Die letzte Notiz, die ich über die Pieske gefunden, ist
aus dem Konitzer Tageblatt vom 18. Oktober 09, in der
es heisst; .,Als Frau entpuppt hat sich der angebliche Ver-
walter Martin Pieske aus Seilinen, Kr. Labiau (Ostpr.), der
wegen Zechprellereien festgenommeii wurde. Martin ver-
wandelte sich bei näherer Feststellung in eine Marta, und
diese gab an, schon seit ihrer Jugend mit behördlicher Er-
laubnis stets 5Iännerkleidung getragen zu haben. Sie hat
auch ein männliches Aussehen und ist 50 Jahre alt.“
Ein Seitenstück zur Pieske ist in Süddeutschland die
Notburga Kerndl. Ueber ihren letzten Termin, der im Juni
1909 stattfand, heisst es in einem Gerichtsbericht:
,,Auf der Sitzungsliste des Landgerichts II in München
war zu lesen: Notburga Kerndl von Wörnsmühle wegen Be-
trugs. Der Angeklagte der eben beendeten Sache wird durch
einen Schutzmann abgeführt und der Gerichtsdiener ruft;
,.Notburga Kerndl eintreton!“ Festen Schrittes kommt ein
stämmiger Kamerad zur Tür herein. Die Notburga erscheint
nämlich in grauer Lodenhose und brauner Joppe, das grüne
Jägerhütl hält sie in der Hand. In der Brusttasche steckt
eine Tabakspfeife und aus dem Hosensack schaut das Schmei-
Glasl heraus. ..Sie sind die Notburga Kerndl?“ fragt der
Vorsitzende. ..Jawohl“, anwortete die Angeklagte und nimmt
auf der Anklagebank Platz. Dem Gericht fällt die Tracht
der Angeklagten nicht weiter auf. Die Notburga, die
nun 50 Lenze zählt, ist vor Gericht schon
13 m a 1 erschienen. Seit ihrem 20. Lebensjahre treibt
Notburga sich in IMännerkleidung im ba5’rischen Oberlande
umher. Sie verdingte sich nie als Dienstmagd, sondern immer
als Knecht und arbeitet, wie die Bauern sagen, für zwei.
Sie nennt sich nicht Notburga, sondern Jakob Kerndl,
in der Miesbacher Gegend ist sie unter dem Namen „der
Hackl“ bekannt, alle Männergewohnheiten sind ihr eigen.
Sie ist sehr trinkfest. 15 bis 18 ‘Glas Bier sind ihr ein Spass;
sie stellt ihren Mann beim Kartenspiel wie auf der Kegel-
bahn. Auch beim Fingerhakeln hat sie schon manchen Sieg
378
über den Gegner davongetragen; das Schmalzlerglasl und
die Tabakspfeife sind ihr unentbehrlich. Am „Kammer-
fenstcrl“ stellt Notburga zur rechten Zeit sich ein und in
früheren .Jahren hat sie mancher Dorfschönen ewige Treue
geschworen. .Jetzt stand Notburga wieder wegen Zech-
prellerei vor Gericht. Am 19. Februar kehrte *feie im Gast-
hause zum Wendelstein in Miesbach ein, trank neun Halbe
Bier, liess sich Geräuchertes und Würste vorsetzen und
schmauchte zum Schlüsse einige Zigarren. Als die Kellnerin
um die Polizeistunde herum die Bezahlung verlangte, meinte
die Maid: „Heut is a Tag, wo ma koa Geld hat, es gibt
aber a Tag, wo ma a Geld hat!“ Am anderen Tage wollte
Notburga zahlen, sie liess auch als Pfand eine wertlose Uhr-
kette zurück. Notburga ging und kam nicht mehr, sie liess
die Kellnerin mit 2,17 Mk. aufsitzen. Auf die Frage des
Vorsitzenden, warum sie dmmer noch in Männerkleidung gehe,
erzählte die Notburga Kerndl, das Mannsbilderhütl mit dem
Spielhahnstoss zwischen den Händen drehend: „Dös tua
i scho sitta mehr als dreissig Jahr,". Wia i no a
jungs Madl gwest bin, hat amal a Bursch von mir w'as
woll’n; kinnas Eahna scho denka, was. I hab eahm abblitz’n
lass’n, gibt mir der Loder a Datz’n (Schlag ins Gesicht),
dass mia ’s Fuia vor dö Aug’n ummagflog’n is. Seit dera
Zeit mag i koa Mannsbild mehr. Dass i von dena a Ruah
hab, desw'eg’n hab i dö ganz Zeit her, is scho mehr wia
dreissg Jahr, nix wia Maimsbildergwand trag’n.“ Wegen Be-
trugs im Rückfalle wmrde die tapfere Notburga diesmal zu
drei Monaten Gefängnis verurteilt. Sie will die
Strafe gleich antreten, „um die Hoamroas zu sparen“.
Gefährlicher wie die beiden letztgenannten ist eine
Schwindlerin, die in Melbourne ihr Unwesen treibt. In einem
Bericht vom 20. VI. 09 wird mitgeteilt: „Amy Bock, die
schon unzähligemal in Australien und Neuseeland des
truges überführt ist, wurde jetzt wieder in Port Molyneux
in Neuseeland verhaftet. Unter dem Namen „Perey Carol
Redwüod“ hielt sie sich in einer Pension in Port Molyneux
auf, und da sie den Leuten in dieser Pension zu verstehen
zu geben wusste, dass sie ein „Neffe des Erzbischofs JUhI-
379
wood“ sei, wurde sie natürlich mit der grössten Zuvor-
kommenheit behandelt. „Redwood“ verlor keine Zeit, seine
Gunstbezeugungen Miss Ottaway, der Tochter der Pensions-
besitzerin, zuzuwenden; schliesslich machte er ihr einen
Heiratsantrag und wurde auch als Freier angenommen. Die
Eltern der glücklichen Braut erhielten wenige Tage nach der
Verlobung einen Brief, der anscheinend von der Mutter des
„Bräutigams“ kam, und in dem diese schrieb, dass ihr Sohn
reichliche Mittel besässe die sie an seinem Hochzeitstage
noch verdoppeln werde, und dass bei ihrem Tode noch
einiges mehr folgen würde. Ein anderer Brief, der auf dem
Briefpapier einer Behörde von Auckland geschrieben war,
teilte den Brauteltern mit, dass „Redwmod“ als Sekretär
mit einem Gehalt von 140 M. pro Woche angestellt worden
sei. Dann fuhr „Redwood“ mit der Braut nach Dunedin und
kaufte ihr dort Schmuck im Werte von 3400 M. ; um hierfür be-
zahlen zu können, verpfändete „er“ ein „Gut im Norden“,
über dessen Besitz er sich durch Dokumente auszuwmisen ver-
mochte. Kurz darauf fand die Hochzeit statt — ein glän-
zendes Fest, über das lauge Berichte in den Zeitungen er-
schienen. Indessen hatte sich doch ein leiser Verdacht gegen
den so höflichen „Bräutigam“ erhoben, ein Familienrat wurde
abgehalten, dann wurde ein Detektiv hinzugezogen, und
dieser brachte dann Licht in die Sache. „Ah“, sagte er, als
er „Redwood“ erblickte, ..ich habe mir das gleich gedacht,
Amy Bock! Das Spiel ist aus, Amy!“ „All right“, er-
widerte der falsche Bräutigam gleichgültig. Zu denjenigen,
die an die Verhaftete noch finanzielle Ansprüche haben, ge-
hören ausser den Juwelieren, den Personen, denen das „Gut
im Norden“ verpfändet wmrde und den Eltern der „Braut“
auch noch eine junge Dame, die Tochter einer früheren
Wirtin, die „Redwood“ über 800 M. vorgeschossen hatte,
um einen Taucher, der die von „Redwood“ beim Bootfahren
in der See verlorenen Gegenstände, wie ein Portemonnaie,
Schmucksachen und Banknoten, wiederentdecken sollte, zu be-
zahlen.“
Der Heir atsschw'indel ist ein Verbrechen, auf das sich
Frauen in Männergestalt besonders gern verlegen. In den Ge-
380
richtsarchiven von Taunton. der Hauptstadt der englischen
Grafschaft Somerset, findet sich ein Bericht aus dem No-
vember 1746, demzufolge eine Frau Namens Mary Hamilton
angeklagt war, weil sie sich mit vierzehn verschiedenen
Frauen hatte trauen lassen. Ihre letzte „Gattin" war Mary
Price, die, nachdem sie die gegen sie verübte Täuschung ent-
deckt hatte, ihren weiblichen Gatten verhaften liess;
sie legte gegen ihn vor Gericht Zeugnis ab. Der Fall war
so ungewöhnlich, dass die richterlichen Beamten kaum
wussten, welche Strafe sie verhängen sollten. Sie waren je-
doch einstimmig der Meinung, dass die Gefangene „eine
ungewöhnlich ruchlose Schwindlerin“ wäre. Als solche wurde
sie dazu verurteilt, „öffentlich in Taunton Glastonbury, Wells
und Shipton Mailet gepeitscht und sechs Monate eingekerkert
zu werden“, was eine relativ mässige Strafe für jene Zeit
strenger Urteile bei den leichtesten Vergehen war. (Jhb. V.
1189.) Mantegazza*) erzählt, dass am 5. Juli 1777 in
London eine Frau zu 6 Monaten Kerker verurteilt wurde, die
sich als Mann verkleidet d r e i m a 1 mit versoiiieiieneu
Frauen verheiratet hatte. Ein gleichfalls hierher gehöriger
Fall von Heiratsschwindel entstammt einer Zeitung in
Baltimore; „Bekleidet mit einem schwarzen llerrenanzug,
zierlichen Halbschuhen und einem modischni Strobhut
wurde heut Morgen ..Herr Herrnan S. Mood“, ('ig('ii1 licli
Fräulein Lola A. Sawyer. im Polizeigericht vorgefiihrf . Sie
soll unter Vorspiegelung falscher Tatsachen sich Geld ver-
schafft haben. Sechs .Jahre lang w u s s t e F r ä u -
lein Sawyer s i c h als M a n ii a u s z u g e b (' n. Sie
spielte ihre Rolle ausgezeichnet, rauchte Zigaretten, bi'-
teiligte sich an männlichem Sport, kurz Niemand ahnte, dass
sich uitter den Herrenkleidern ein weiblichi's Wo'sen verbarg.
Erst durch ihre Heirat mit Frau Ernestine L. Ilauck, einer
35 Jahre alten AVitwe mit zwei Kindern, wurch' ihr wirk-
liches Geschlecht ruchbar. ..Herr Wood" hatte bei lier
Witwe mehrere Monate gewohnt und vor einer Woche fand
•) Anthropologisch-kulturhibtorische Studien über die Geschlechta-
verhältnisse der Menschen. Jena. p. 98.
381
die Hochzeit des sonderbaren Paares statt. Letzte Nacht er-
schien die jung verheiratete Frau ganz bestürzt bei dem Rev.
Anthony Bilkousky, welcher die Trauung vor einer Woche
vollzogen hatte und erzählte dem Geistlichen, dass ihr
Gatte nicht „der Artikel“ sei, den sie gesucht habe. Der
angebliche Mann sei entweder geschlechtslos oder ebenfalls
eine Frau, jedenfalls nicht so beschaffen, wie ihr verstorbener
Erster. Der Geistliche setzte den Polizeikapitän McGee in
Kenntnis, welcher heute die Wohnung des Paares, Nr. 719N.
Eutaw Str., besuchte. Der Pseudo-Gatte behauptete anfangs
steif und fest, dass er ein Mann sei, seine Frau wisse nicht,
was sie schwätze, als aber der Polizeikapitän weitere ver-
fängliche Fragen an „Herrn Wood“ richtete, brach er zu-
sammen und legte das Geständnis ab, dass er eine Frau
sei und Lola A. Sawyer heisse. Sie stammt aus North
Carolina und ist 22 Jahr alt. Vor sechs Jahren will sie an-
geblich vergewaltigt worden sein. Sie gab einem Kinde das
Leben, das jetzt ihre Mutter in North Carolina in Gewahr-
sam hat. Um ihre Schande zu verbergen, legte sie Männer-
kleider an imd kam nach Baltimore. Hier hat sie in ver-
schiedenen Berufen als „Mann“ gearbeitet, ohne dass in be-
zug auf ihr Geschlecht Verdacht geschöpft worden wäre. D a
sie der Witwe während der Brautzeit 100
Strl. entlockt hat, erfolgte auf Grund
dessen ihre Verhaftung.“
Mehr um Erbschafts- als um Heiratsschwindel handelte
es sich im Fall der Amerikanerin Alice Brown. Der-
selben war ein Legat von 180 000 Kronen hinter-
lassen worden, das jedoch nur im Falle ihrer Heirat aus-
bezahlt werden sollte. Obgleich sie das Geld sehr gern in
ihren Besitz bekommen wollte, konnte sie sich nicht ent-
schliessen, einen Gatten zu nehmen, und sie traf mit einem
befreundeten Mädchen das Abkommen, dass dieses das ent-
gegengesetzte Geschlecht vorstellen und sie heiraten sollte.
Die Trauung wurde richtig in New-York vollzogen, und nach
Vorzeigung des Trauscheins wurde das Vermächtnis ausge-
zahlt. Die Täuschung wurde erst entdeckt, als die
Erbin starb.
Die Annahme liegt nahe, dass diejenigen Frauen, die
sich das ' Ansehen von Männern geben, um sich an Frauen
heranzumachen, Transvestitinnen auf homosexueller Grund-
lage sind; doch trifft dies keineswegs immer zu, so wenig
wie die ungleich grössere Gruppe von Männern, die sich
Herren gegenüber als Frauen gerieren, stets gleichgeschlecht-
lich veranlagt sind. Es wird dies namentlich in bezug auf
diejenigen, w'elche sich für weibliche Prostituierte ausgeben,
fast allgemein angenommen, doch kann es sich hier auch
ebenso gut um einfache Transvestiten oder — wenn auch
wohl seltener — um völlig normale Männer handeln. In
Paris lebte \iele Jahre lang eine sehr bekannte Kokotte.
Auf der Strasse von einem schweren Unfall betroffen, wmrde
sie eines Tages in ein Krankenhaus gebracht. Dort entdeckte
man zu aller Ueberraschung, dass man einen normal ge-
bauten Mann vor sich hatte. Die Person hatte wegen ihres
sprudelnden Temperaments und ihrer rassigen Schönheit viele
Verehrer. Direkte Kohabitation lehnte sie stets mit der
Vorgabe ab, sie hätte die Menstruation oder eine Entzün-
dung an den Genitalien oder aus irgend einem anderen
Grunde, wie dies als Prostituierte verkleidete Männer fast stets
zu tun pflegen. Diese Kokotte lebte mit einer Freundin zu-
sammen; beide waren unzertrennlich. In den Kreisen ihrer
Kolleginnen und der Lebewelt hielt man sie deshalb für eine
homesexmelle Frau, in Wirklichkeit war sie aber ein wcib-
li ebender transvestitischer Mann.
Zu eigentlichen Heiratsschwindeleien, wie sie als Männer
verkleidete Frauen verüben, haben als Frauen sich
gebende ^länner weniger Gelegenheit, doch kommt
auch dies gelegentlich vor, wie folgender Fall, der aus Nord-
hausen berichtet wurde, zeigt:
„Auf ein durch die Zeitung veröffentlichtes Heiratsgesuch
meldeie sich eine junge heiratslustige Dame aus Dresden, welche
ihrer Angabe nach über ein Vermögen von 24 000 Mark zu
verfügen hatte. Sie kam auf Einladung nach B. und stellte
sich dem heiratslustigen jungen Manne und seinen Eltern
vor, präsentierte auch die Wertpapiere in Höhe von 24 000
Mark. Sie blieb 4 Wochen auf Besuch im Hause der zu-
383
künftigen Schwiegereltern und gewann sich nicht nur die
Liebe des Bräutigams, sondern auch durch ihr herz gewinnen-
des und doch dabei zurückhaltendes Wesen, welches sie ihrem
Bräutigam gegenüber beobachtete, die ganz besondere Hoch-
achtung der Frau Schwiegermutter. Nach Ablauf der vier
Besuchswochen wmrde das Brautpaar einig, das Aufgebot
zur Hochzeit zu bestellen; sie reisten zusammen nach
Dresden, der angeblichen Heimat der Braut, um die zur
Heirat erforderlichen Papiere zu besorgen. Auf der Reise
nach Dresden machte die Braut dem Bräutigam den Vor-
schlag, in Dresden die Wertpapiere in Geld umzusetzen,
womit der Bräutigam einverstanden war. Der erste Gang
in Dresden war denn auch der zu einem Bankier, der nach
Durchsicht der Wertpapiere sich bereit erklärte, dieselben zu
kaufen. Der Bankier bereitete die Zahlungen und betrat da-
bei auf kurze Zeit das Nebenzimmer, was nicht besonders
auffiel. Bald darauf ging die Tür auf, es erschienen mehrere
Kriminalpolizisten, welche das überraschte Brautpaar mit-
nahmen. Die Wertpapiere rührten nach Ausweis ihrer
Nummern von einem Diebstahle her. Der beteiligte Bräuti-
gam konnte seine Unschuld nachweisen und wurde auf freien
Fuss gesetzt; die Braut aber wurde festge-
halten und entpuppte sich als verkleidete
Mannsperson, welche, wie vermutet wird, im Auf-
träge einer Diebesbande versucht hat, möglichst ohne Auf-
sehen die gestohlenen Wertpapiere in Geld umzusetzen.“
Auch ein Gerichtsbericht, den wür dem Echo de Chine in
Shanghai vom 25. II. 07 entnehmen, gehört in diese Kategorie:
„Hiu-A-mei, ein chinesischer Taugenichts aus Poutong, 26 Jahre
alt, wmr wegen mehrerer Verbrechen in kontumatiam zu einer
sehr strengen Strafe verurteilt worden. Um sich dieser zu ent-
ziehen, zog er Frauenkleider an und ging als Frau. Doch
nicht lange, so erkannte er, dass seine Verkleidung auch ein
vortreffliches Mittel sei, um einfältige Gimpel zu fangen. Im
Einverständnis mit seiner Mutter, liess er sich einem chine-
sischen Schneider, der zu heiraten wünschte, als Gattin an-
bieten. Die Hochzeit fand statt. Damit der Betrug nicht
schon in der ersten Hochzeitsnacht entdeckt werde, schützte
384
Hiu-A-mei Krankheit und Schmerzen vor. Auch noch den
folgenden Tag wusste er den Gatten auf diese Weise hin-
zuhalten. Länger jedoch wollte sich der stürmische Ver-
liebte nicht hinhalten lassen und so musste er in der
dritten Xacht die Entdeckung machen, dass seine Gattin ein
Mann sei. Der Schneider liess den Betrüger verhaften. Vor
dem Unterpräfekten von Shanghai gestand dieser: „Als ich
fünfzehn Jahre war, lehrten mich meine Eltern obscöne Lieder,
befahlen mir die Haare wachsen zu lassen und zu frisieren.
Dann verheirateten sie mich an einen gewissen Sino-tang,
Koiffeur zu Poutong, mit dem ich während dreier Jahre lebte.
Darauf nahm ich den Schneider zum Gatten und den Rest
wisst Ihr. Ich bitte Euch, mir zu verzeihen, denn ich habe
in Unkenntnis des Gesetzes gehandelt und der Fehler ist
nicht auf meiner Seite. Der Präfekt bestimmte als Strafe
für die Pseudogattin 500 Schläge auf die Fusssohlen, für
deren Mutter 100 Schläge ins Gesicht und ausserdem musste
diese dem betrogenen Gatten Ming-A-hon 40 Dollars Busse
zahlen. Auch der erste Gatte von Hiu-A-mei vcurde ver-
haftet und ebenfalls mit 300 Schlägen auf die Fusssohlen
bestraft.*'
Sehr weit häufiger kommt es vor, dass Männer in der
Maske von Dirnen auf ^lännerfang ausgehen. Die Berliner
Kriminalpolizei bewahrt im Verbrecheralbum ungefähr zwan-
zig Photographien von Individuen auf, die dies gewerbs-
mässig tun. Sie begnügen sich häufig nicht mit dem ilmeu
freiwillig gespendeten Lohn, sondern begehen Handlungen,
die in das Gebiet dessen fallen was in der kriminalistischen
Terminologie als Beischlafsdiebstähle bezeichnet
wird. Auch hier einige Beispiele aus dem Leben.
„Ein junger Mann in Frauenkleidern
wurde in das Moabiter Untersuchungsgefängnis eingoliefert.
Der 19jährige Kellner Franz W. aus Berlin liebte es, des
Abends stets in Frauenkleidern auszugehen. In dieser Ver-
kleidung lockte er Männer an und benutzte derartige Ge-
legenheiten, um Diebstähle, Erpressungen und dgl. auszu-
führen. Am Freitag fiel er der Kriminalpolizei in die
Hände. Im Polizeipalast am Alexanderplatz wurde er zwar
385
als männliches Individuum erkannt, da es dort aber keine
besondere Garderobe für Untersuchungsgefangene gibt, wurde
er in seinen Frauenkleidern nach Moabit überführt, woselbst
er sein Kostüm natürlich sofort mit einem Gefangenen- An-
zuge vertauschen musste.“ (Jhb. III. 543.)
In Berlin wurde ein Damenimitator, welcher sich nicht
nur auf der Bühne, sondern auch auf der Strasse in
Frauenkleidern zu bewegen pflegt, als Dieb verhaftet. Er
hatte, als -Frau verkleidet, einen Herrn nach dessen Wohnung
begleitet; dort klagte er über plötzliches Unwohlsein, ver-
fiel in Weinkrämpfe und entfernte sich nach kurzem Aufent-
halt. Unmittelbar darauf vermisste der Herr seine goldne
Uhr nebst Kette im Werte von mehreren hundert Mark.
Der Verdacht der in Kenntnis gesetzten Kriminalpolizei war
durch die Umstände, unter welchen der Diebstahl ausge-
führt war, sofort auf die richtige Spur geleitet worden.
Ein junger Bursche aus Mainz, dessen Vater Wein-
wirt ist, verschaffte sich nach seiner Entlassung aus der
Schule Frauenkleider. Er hatte eine weibliche Stimme und
seine Erscheinung stand der Verkleidung nicht im Weg. Als
Frau ging er auf Abenteuer aus. Er richtete die über-
schwenglichsten Liebesbriefe an Persönlichkeiten, die er nur
dem Nanien nach kannte, besonders an Offiziere. Als er
älter geworden war, wuirde er noch dreister. Er machte,
wie die „Kl. Presse“ berichtet, in Frankfurt die Bekannt-
schaft eines reichen Barons von E., dem gegenüber er sich
als eine verarmte Komtesse v. S. ausgab. Er spielte seine
Rolle so vorzüglich, dass er den Baron vollständig be-
herrschte und dass dieser ihn auch reichlich unterstützte.
Allen Annäherungen des Barons wusste er geschickt aus dem
AVege zu gehen: er sei ein „anständiges Mädchen“. Da er
fiber dem Baron gegenüber auch sehr zurückhaltend in bezug
auf seine Familienverhältnisse war, so suchte sich dieser
von anderer Seite Klarheit zu verschaffen. Dadurch wurde
der Schwindel aufgedeckt. Eines Tages verschwand der junge
Mann wieder aus Frankfurt, ohne dass man wusste, wohin.
Sechs AVochen später vuirde in Darmstadt eine Kellnerin
wegen Diebstahls verhaftet. Es war der junge Mann, der
Hirschleld, IMe Transvestiten. 25
386
die gc\nze Zeit in der Wirtschaft bedienstet war und mit
einem Unteroffizier angebandelt hatte, der sich nun ver-
setzen lassen musste, weil der Spott seiner Kameraden zu
gross war. Seine letzte Rolle spielte er in einem Prozess,
dessen Schauplatz die Husarenkaserne war. Auch damals
stand der junge Mann mit Offizieren auf einem sehr guten
Fuss; einem von ihnen, dem gegenüber er sich als adelige
Dame ausgegeben hatte, stahl er eine wertvolle Brieftasche.
Keiner der Herren wollte glauben, dass die Dame, die so
glühende Liebesbriefe schreiben konnte und die sich bewegte
wie eine Dame von Welt, ein gewöhnlicher Schwindler sei.
Man brachte ihn für einige Zeit in die Irrenanstalt. Dort
behielt man ihn aber nicht, weil er nicht gefährlich schien
und nur durch kleine Diebstähle sich bemerkbar machte.
Kaum war er frei, als er sein altes Metier wieder be-
gann. Nun hat sich das Gericht seiner angenommen, in-
dem es ihn verhaften liess.“ (Mb. 06 p. 198.) Im Sommer
1907 passierte in Berlin folgendes: „Ein älterer wohlsitu-
ierter Herr hatte eine Reise nach Berlin unternommen, um
das Leben und Treiben der Gressstadt zu studieren. Ge-
führt von seinem Neffen, einfem flotten Studenten begab er
sich auf den Weg, um zunächst seinen Wissensdurst zu be-
friedigen und Stoff für die Berichte in der Heimat zu
sammeln, welche nun einmal von Frau und Kindern, von
Freunden und Kegelbrüdern als ein unveräusserliches Recht
gefordert werden. Nachdem man die Museen, sowie die
meisten anderen Sehenswürdigkeiten besichtigt hatte, be-
gab man sich in ein Weinrestaurant, um sich zu erfrischen.
Da es gerade zu regnen begann, betrat gleichzeitig mit ihnen
eine feine junge Dame den Hauseingang, der zu dem
Restaurant führt, um dort kurzen Unterschlupf zu finden.
Graziös schürzte die rotblonde Schöne die Sommerrobe, unter
der sich dezent ein seidener Volant hervorstahl und dabei fiel
ihr zufällig der Schirm zur Erde. Der biedere Herr aus der
Provinz war einem kleinen Abenteuer durchaus nicht ab-
geneigt. Als Kavalier hob er schnell den Schirm auf und
übergab ihn mit einer höflichen Verbeugung der Berlinerin.
Damit war die Bekanntschaft angeknupft. Nach kurzer
387
Unterhaltung kam man überein, . den Tag durch ein kleines
Souper zu beschliessen. Ein Auto führte die kleine Gesell-
schaft in ein vornehmes Weinrestaurant, wo bald die
Sektpfropfen in einem verschwiegenen Separe knallten. Die
Schwüle in dem engen, dichtverhangenen Raume veranlasste
die junge Dame, ihr Capothütchen abzunehmen. Da die
Stimmung allmählich recht hoch gestiegen und man recht
nahe zusammengerückt war, wollte es das Unglück, dass
sich eine Strähne der goldblonden Gretchenfrisur der Dame
in das Pincenez des älteren Herrn verwickelte. Das wurde
zum Verhängnis. Denn beim Versuch, sich loszuhäkeln, blieb
zur grossen Bestürzung aller Beteiligten die „ganze Frisur“
an dem Glase des alten Herrn hängen und das lockenge-
schmückte Haupt der Dame war plötzlich in den kahl ge-
schorenen Kopf eines jungen Mannes verwandelt. Darauf kam
es zu einer kleinen Auseinandersetzung, die der Oberkellner
schlichten musste. Dann einigte man sich schliesslich dahin,
den Damenimprovisator bis zur Strasse zu geleiten und ihn
mit dem hinreichenden Fahrgeld zu versehen, damit er so
schnell wie möglich in einer Droschke verschwinden konnte.
(Z. f. S. p. 55.)“
Selbst in Bordellen sind solche Geschlechtsvor-
6 p i e g e 1 u n g e n festgestellt w'orden; so berichtet die Rhei-
nische Zeitung (vom 12. 12. 07) dass bei einer Revision eines
solchen „in der Elstergasse Beamte der Sittenpolizei eine
elegant gekleidete Frauensperson fanden, die seidene Kleider
trug, und im Verdacht stand, der gewerbsmässigen Un-
zucht nachzugehen. Die Beamten führten die Dame zur
Wache, wo sich herausstellte, dass man es mit einem
jungen Manne in Damenkleidern zu tun hatte. Man stellte
fest, dass es ein etwa zwanzig Jahre alter Kellner war,
der bereits seit zwei Jahren hier in Damenkleidern sich aui-
hält und mit einem Handtäschchen versehen spazieren ging.
Der Kellner ist bereits wegen Diebstahls vorbestraft. Er
gab an, keine Herrenkleider tragen zu können.“ Im Oktbr.
1904 wurde in Genua ein internationaler Hochstapler Renato
Rivolta aus Venedig dingfest gemacht, der unter dem
Namen und in der eleganten brillantengeschmückten Toilette
25*
388
einer Gräfin Neri in Paris, Brüssel und den Sammelplätzen
der grossen Welt Kavaliere, namentlich Offiziere in sich ver-
liebt gemacht hatte, die er dann mit vielem Raffinemenx
ausnützte und betrog. (Mb. III. 05, p. 8.)
Viel weniger häufig kommt es vor. dass Frauen männ-
liche Prostituierte Vortäuschen, dass es aber auch vorkommt,
dafür liegen historische Belege vor, so erzählte Seneca (Contr.
1. 2) und Juvenal (III. 135) dass in Rom weibliche Prostitu-
ierte als Jünglinge verkleidet, ^länner anlockten und ganz
dasselbe berichtet Dühren-Bloch aus der Sittengeschichte des
18. Jahrhunderts in seinen: „Neuen Forschungen über den
Marquis de Sade und seine Zeit.“ (Jhb. VII. p. 825.) Auch
jetzt sollen Pariser Grisetten in Männerkleidern keine Selten-
heit sein; besonders während des Karnerais tragen viele
Herrenanzüge, so sah ich am Mardi gras (Fastnachtsdienstag)
1910 mehrere als „Apachen“ verkleidet in den Lokalen von
Montmartre.
Um das Kapitel von den Beziehungen zwischen Ge-
ichlechtsverkleidung und Kriminalität hier gleich zu er-
schöpfen. sei endlich noch erwähnt, dass auch bei allen
anderen Straftaten Verkleidungen zur Verdeckung der Täter-
schaft Vorkommen, sei es, dass das Verbrochen selbst in
den Kleidern des anderen Geschlechts begangen wird, oder
dass diese, was viel häufiger ist, erst nach Vollbringung
der Tat angelegt werden. Erst in dtun Aufst'lion errogon-
den Prozess Steinheil in Paris trat ein ,iung<'r SchauspioliT
auf, der an den Präsidenten folgendes gesclirb'bcn liattr.
„Ich kann die Last der Verantwortung niclit mehr tragen
und tvill ein Geständnis ablegen. Ich bin die „rote Frau",
die am Verbrechen teilnahm. Ich hatte mich mit einer
Perücke versehen, die ich beim Verl)rechen trug. Jean
Lefebvre“, eine Selbstbezichtigung, die sich allerdings in
diesem Falle als Phantasieprodukt erwies. Dass Flüchtlinge
und Ausreisser aller Art, stec.kbrieflich e:esuchte Verbrecher,
auch Spione, sich — ähnlich ?.ie wir dies von den Deser-
teuren berichteten — in Frauenkleider stecken, ist oft ge-
schehen. Natürlich ist es in .allen diesen Fällen sehr
zweifelhaft, ob es sich dabei um von dem sexuellen Voll-
389
typus abweichende Personen handelt. So floh, um seine
Verfolger zu täuschen, der bekannte holländische Gelehrte
und Staatsmann Hugo Grotius im Jahre 1621 in den Klei-
dern seiner hochherzigen Frau aus dem Gefängnis und
rettete sich nach Frankreich. Ein Fall, der neuerdings
(29. X. 09) durch die Presse ging, ist der folgende:
.,Seit längerer Zeit polizeilich gesucht wurde der schon
vielfach, zuletzt mit Zuchthaus vorbestrafte Arbeiter Artur
Müller, welcher bei zahlreichen schweren Einbrüchen beteiligt
war, sich jedoch seiner Festnahme stets zu entziehen wusste.
Jetzt erhielt die Polizei Kenntnis, dass M. in Nauen eine
Braut habe und sich bei dieser aufhalte. Mehrere Beamte
begaben sich nach der Wohnung, in der ihnen ein Mädchen
entgegenkam, welches ohne weiteres zugab, dass Müller zwar
öfter dorthin komme, der Gesuchte aber jetzt schon seit
längerer Zeit sich nicht habe sehen lassen. Einem der Be-
amten fielen die etwas sehr derben Hände der Wohnungsin-
haberin' auf und eine weitere Untersuchung ergab dann,
dass die angebliche Braut des M. ein Mann und zwar der
gesuchte Zuchthäusler selbst war. Die richtige Braut er-
schien bald darauf, während sich die Polizeibeamten noch
in der Wohnung befanden. Müller ■ft'urde sofort nach Berlin
überführt und in das Untersuchungsgefängnis eingeliefert.“
Ein Fall, der seinerzeit grösste Sensation erregte,
ereignete sich im Jahre 1887 in Oesterreich. Damals hatte
in Wien ein Postassistent Zalewski, recht hohe Geldbeträge
unterschlagen. Er wurde erfolglos steckbrieflich verfolgt und
in allen grossen Städten der neuen und alten Welt ge-
sucht, während er sich als Frau verkleidet Monate lang
am Tatorte selbst aufhielt. Er war sogar mit seinem
Bruder, einem Feldwebel, ungeniert spazieren gegangen, der
Defraudant in Fraucnkleidern, der Bruder in Uniform, so-
dass sie jedermann, der sie Arm in Arm promenieren
sah, für ein Liebespaar hielt. Eines Tages meldete ein
Dienstmädchen namens Cäcilie Zwicker der Polizeidirektion,
dass sie ihrem Geliebten, dem Feldwebel Zalewski, auf sein
Bitten ihr Dienstbuch mit Reisebewilligung gegeben habe,
es seien ihr aber Bedenken gekommen, ob sie damit
390
nicht eine ungesetzliche Handlung begangen habe. Dieses
brachte die Polizei auf die richtige Fährte und es stellte
sich schliesslich heraus, dass Zalewskd mit seiner Geliebten,
einem gewissen Fräulein Nathanson, deren Reisebe-
g 1 e i t e r i n er markierte, nach Paris gereist war. Als
Reisedokument hatte er den Pass des Dienstmädchens
Zwicker, welchen ihm sein Bruder, der Feldwebel, verschafft
hatte. Als die Polizei dies ermittelt hatte, hatte Zalewski
bereits von Havre aus die Reise nach New-York angetreten.
Man verständigte die amerikanische Polizeibehörde und wäh-
rend der Defraudant auf hoher See darüber nachdachte,
welches Leben er in Amerika mit dem unterschlagenen
Gelde führen wolle, wmrden in New-York alle Anstalten
zu seiner Verhaftung getroffen. Bei seiner Landung vmrde
er unter Intervention des österreichischen Konsuls ver-
haftet. Man fand bei ihm noch 100 000 Gulden
Es seien noch einige ■weitere analoge Beispiele aus unserer
Sammlung angeführt:
„In Mädchenkleidern meldete sich am 31. Oktober 1894
in Hamburg bei der Polizei der ISjährige Knabe Georg Sch.
aus Nürnberg, der sich dem Beamten gegenüber Maria nannte
und, da er mittellos sei und eine angeblich in Hamburg
wohnende Schwester nicht auffinden könne, freie Rückbe-
förderung nach Nürnberg verlangte. Bei der Untersuchung
im Polizeigewahrsam wurde das Geschlecht des Knaben fest-
gestellt, der dann folgendes Geständnis ablegte; Er sei
seinem Lehrherrn, einem Barbier in Nürnberg, nachdem er
ihm 35 Mark gestohlen habe, durchgebrannt, habe sich, u m
sich vor Entdeckung zu schützen, Mäd-
chenkleider gekauft und in diesen die Reise nach
Hamburg unternommen. Unterwegs habe er die Bekannt-
schaft einer in Hamburg wohnhaften Frau gemacht, die dem
vermeintlichen Mädchen Unterkunft angeboten habe. Bei
dieser Frau habe er die letzten 10 Tage zugebracht und für
Kost und Logis sich als Dienstmädchen zu schaffen gemacht,
Angaben, die von der Frau bestätigt wurden.“
Aus Budapest wird am 29. Mai 1907 berichtet: Bei dem
hauptstädtischen Zuckerbäcker Lukacs war seit drei Monaten
391
ein Stubenmiidchen angestellt, mit dem L. um so mehr zu-
frieden war, als es keine Männerbekanntschaften anknüpfte.
Dieser Tage nun erschienen Polizisten bei L. und erklärten
sein Stubenmädchen für verhaftet, da es gar
kein Mädchen, sondern ein 19jähriger Kammachergehilfe sei,
dessen Name ebenfalls Lukacs Alexander lautete. Es war
festgestellt worden, dass er einer Diebesbande angehörte und
sich, um den Nachforschungen der Polizei
zu entgehen, mit einem gestohlenen Dienstbuch ver-
dingt hatte.
Wie verschiedene Berliner Zeitungen vom 8. Februar
1886 meldeten, hatte sich in einer Familie im Westen
Berlins ein Hausmädchen, das sich Rosa nannte, in der
kurzen Zeit ihres Dienstes das volle Vertrauen ihrer Herr-
schaft erworben, als eines Tages ein Herr erschien und sich
nach dem neuen Mädchen erkundigte, und natürlich die beste
Auskunft erhielt. Wer beschreibt nun den Schreck der Haus-
frau, als am anderen Tage zwei Herren erschienen und so-
fort dem Mädchen, das ihnen die Salontür geöffnet hat, zu-
riefen: „Perücke herunter!“ Und was ereignete sich? Rosa
präsentierte sich unter der schönen blonden Frauenperücke
als ein Mann mit kurzen Haaren, der nach den Angaben der
beiden Kriminalbeamten gesucht wurde und so manches auf
dem Kerbholz hatte. Es war nicht das erste Debüt des ver-
schlagenen Gauners, sich als Hausmädchen zu
vermieten, die Herrschaften zu bestehlen um dann
plötzlich auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden.
Dasselbe Motiv, das die Verbrecher anwenden, um die
Kriminalbeamten und Detektivs hinters Licht zu führen, be-
nutzen gelegentlich auch die letzteren, um die Verbrecher zu
täuschen. Auf der internationalen photographischen Aus-
stellung zu Dresden fand sich in der Kriminalabteilung eine
Photographie, auf der wir einen als Dame verkleideten
Polizisten sehen, wie er unauffällig Glücksspieler beobachtet.*)
Ein höherer Polizeibeamter in Amsterdam hatte sich
in Ausübung kriminalistischer Beobachtungen wiederholt als
*) Vergl. Die Photographie im Dienste der Kriminalpolizei von Staats-
anwalt Dr. Erich Wulffen. „Die Woche“ Nr. 34, 1909.
S t r e i c h h 0 1 z h ä n d 1 e r i n verkleidet, was übrigens
zu satirischen Bemerkungen der Witzblätter gegen ihn Anlass
gegeben hat. Die Verkleidung wurde dadurch sehr er-
leichtert, als er, wie ich mich selbst überzeugte, vollkommen
die Gesichtszüge und Stimme einer alten Frau hat.
In Paterson (Nord-Amerika) hatte im Jahre 1909 ein
Mann zahlreiche Frauen in der Weise belästigt, dass er sie
abends an verborgenen Stellen überfiel, sie abküsste und
kniff. Der Polizei war es lange Zeit nicht möglich, des
Menschen habhaft zu werden, bis man schliesslich, als die
eigenartigen Ueberfälle immer grössere Dimensionen an-
nahmen, auf den Gedanken kam, eine Anzahl Polizisten als
Frauen zu verkleiden. Dies führte in der Tat rasch zur Fest-
nahme des küss wütigen Patersoner Bürgers Edward 1\I., der
nun zur Strafe für seine Handlungen auf 6 l\Ionate in die
Patersoner Bastille kam.
Das Motiv zu diesen Verkleidungen von Frauen in
Männer- und von Männern in Frauentracht zum Zwecke be-
wusster Vortäuschung des anderen Geschlechts ist vielfaca
dasselbe, was in der Tierwelt unbewusst und in-
stinktiv als Mimikry auftritt.
Dauer der Geschlechtsverkleidiing.
Es wäre ein Fehler, wollte man aus der Häufigkeit,
mit der Verbrecher und Verbrecherinnen in der Tracht des
anderen Geschlechts attrapiert worden sind, einen Scldiu-s
ziehen auf die Kriminalität der Transvestiten otler auf ihre
Anzahl im allgemeinen. Es liegt auf der Hand, dass \ er-
kleidete, die sich unauffällig benehmen und siel» niclits zu
schulden kommen lassen, verhältnismässig selten die Behörden
beschäftigen. Viele Transvestiten beschränken sich ja — wie
wir sahen — darauf, nur in ihrer Behausung Frauenkleidr-r
zu tragen, ja manche begnügen sich nur mit Surrogaten,
die sie durch ihre lebhafte Phantasie zu vervollständigen
wissen. So schrieb uns kürzlich Fall IV. in Ergänzung
seiner früheren Mitteilungen:
393
„Ich sehe alles, ausser wenn ich in meiner geschäftlichen
Praxis bin, mit den Augen eines Weibes, zunächst rein
äusserlich, wenn ich stundenlang in Warenhäusern und vor
Schaufenstern mich ausschliesslich an weiblichen Ausstellungs-
gegenständen erfreue, gern elegantes Schuhwerk, feine
Wäsche, moderne Hüte, Frisuren usw. sehe, aber noch viel-
mehr in Kleidern, Korsetts und weiblichen Schmuckstücken
einen Kult treibe, leider dies alles grösstenteils nur im Ge-
dächtnis meiner Seele, aber heiss empfunden, als besässe ich
es in Wirklichkeit. Mein Seelenleben fülle ich aus, mir das
i d e e 1 1 e W e i b zu malen; zu forschen und zu trachten, so
zu werden, wie die schönsten Gestalten,
die mein Auge je gesehen und deren Bild sich mir
so einprägt, dass ich in Wahrheit mit diesen in einem har-
monischen Ganzen zu leben mir einbilde. Wachend träume
ich von süssen Stunden mit schönen Frauen und Mädchen,
wobei ich selbst glaube, eine der ihren zu sein, oder ich
denke an schöne Männer, die mir mit der Kraft des besitzen-
den Geldes die Möglichkeit verstatten würden, ihr Weib zu
werden. So denke ich es mir herrlich, ganz
AVeib zu sein, ohne auch nur ein Manko an den unerläss-
lich weiblichen Attributen. Der Wunsch gebiert und er ge-
bar, wie er nun einmal vorhanden und wie er täglich
mächtiger wird, wenigstens einige weibliche Gegenstände. So
trage ich gern lange Strümpfe, zart durchbrochen oder in
lichten Farben, oder Strumpfbänder mit rosa seidenen
Schleifen, Damenschuhe mit hohen Absätzen, früher eine Zeit-
lang sogar ein Korsett. Beim Alleinsein habe ich schon des
öfteren mit feinen dünnen Nähnadeln mir durch die Ohr-
läppchen Löcher gestochen, wobei nur der Mangel an edlem
Ohrgeschmeide Schuld war, dass ich diese angenehmen
schmerzlichen Stiche öfter wiederholen musste. Ich bin nun
einmal nur auf gute Sachen aus und versage mir die Ohr-
ringe wie auch die Kleider usw., bis ich mir dies alles ein-
mal ganz nach meinen Ideen selbst anschaffen kann. Ich
verkehre geschlechtlich ausschliesslich mit meiner
Frau und bedarf zur Anregung dieses Verkehrs nur der
Phantasie. In derselben stelle ich mich als Weib vor, denke
394
mir die schönsten Toiletten aus und variiere darin von dem
Extrem eines weiblichen Mannes, wo ich aus gesellschaftlichen
Gründen mein Geschlecht nicht abzulegen imstande, aber
dies so zart weiblich hinübergeneigt mir ausmale, als dies
irgend nur zulässig erscheint — am. liebsten in Rococco —
bis zu einem vollkommenen Mädchen im Brautstaat mit
Kranz und Schleier und darauf folgender Hochzeitsnacht.
Ich bin zwar in meinen Phantasien glücklich, da ich ihnen
nach Belieben eine Richtung geben kann, aber unglücklich,
dass es mir nicht vergönnt ist, wenigstens jede Woche ein-
mal wirklich das letzte Männerhemd abstreifen und mich
von der absoluten Nacktheit bis zu einer ^lodedame wandeln
zu können. ‘‘
Das andere Extrem zu diesen blossen Illusions-Trans-
vestiten bilden diejenigen, die jahrein jahraus oft viele Jahr-
zehnte die Tracht des anderen Geschlechts tragen und sich
ihr so angepasst haben, dass niemand ihr Geheimnis ahnt,
das oft genug erst nach ihrem Tode offenbar wird. Ja es
kommt vor, dass es auch dann noch verborgen bleibt. Das
ist nicht so verwunderlich, wenn man berücksichtigt, dass
ärztliche Leichenbeschauer sich vielfach damit begnügen,
die Augen und den Puls der Verstorbenen zu kontrollieren,
ohne den übrigen Körper, namentlich die Genitalien, einer In-
spektion zu unterziehen. Ein in dieser Hinsicht lehrreicher
Fall passierte vor mehreren Jahren in Riga (Jhb. II. 456).
Dort reichte die Witwe eines achtbaren Mannes bei der Be-
hörde ein Gesuch ein, wieder ihren Mädchennamen führen zu
dürfen, da ihr verstorbener Gatte, mit dem sie zwanzig
Jahre vermählt war, eine Frau gewesen sei. Auf die Frage
warum sie den Fall nicht früher zur Anzeige gebracht habe,
erklärte die Witwe, dass sie sich geschämt habe, die ganze
Angelegenheit bekannt zu geben.
Am ehesten laufen noch diejenigen Transvestiten Ge-
fahr, dass ihr Geschlecht entdeckt wird, die, durch ihren
Beruf gezwungen Männerkleider zu tragen, von Zeit zu Zeit
der Versuchung nicht widerstehen können, in Frauenkleidern
auszugehen. Die Angst und Erregung, mit der solche Per-
sonen dies manchmal tun, spiegelt sich in der Schilderung
395
wieder, die uns ein als Frau gekleideter Polizeisekretär (unser
Fall VII.) von einem Ausgang im Berliner Norden entwirft.
Wir geben seine durch den Berliner Lokalton um so an-
schaulicher wirkende Erzählung fast wörtlich wieder:
„Am 17. August 1909, einem zwar trockenen, aber nicht gerade sehr
schönen Tage, zog ich mich Nachmittags als Dame an und verliess zwischen
4 und 5 Uhr meine Wohnung. Folgendermassen war ich gekleidet; Damen-
homd, Damenhose, durchbrochene, braune Strümpfe, blaue Strumpfbänder,
weisser Stickerei-Unterrock, graues Korsett, weisser Korsettschoner, weisse,
durchbrochene Bluse, ein blaues Cheviotkleid mit dunkelblauen, breiten Samt-
streifen und mit Knöpfen besetzt, schwarzes Samtbändchen um den Hals,
silbernes Armband, weisse Handschuhe, hellblaue, lederne Handtasche mit
Damentaschentuch etc., weisser Sonnenschirm, Damenstiefel, goldblonde Pe-
rücke, weisser Strohhut mit Vergissmeinnicht und Rosen und eingeklemmte
Ohrringe. Mehrere Tage vorher hatte mich meine junge Aufwärterin, die
mich so angekleidet gesehen hatte, noch gewarnt, die Strasse nicht so zu
betreten. Meine Perücke, meinte sie, wäre zu auffällig in der Farbe; ausser-
dem stände mir meine Bluse nicht recht, eine Taille würde besser sein. Man
würde mich vielleicht doch nicht für eine richtige Dame halten, sondern mel-
leicht für einen Zwitter. Kenner, meinte sie, würden jedenfalls herausmerken,
dass etwas nicht stimme. Ich liess aber ihre Warnungen unbeachtet luid
verliess meine Wohnung. Auf der Treppe begegnete mir niemand, und auch
vor der Haustür, wo sonst immer 4 bis 5 Kinder zu spielen pflegen, war
kein Mensch zu sehen. Ich war glücklich zum Hause heraus. Auf der
Strasse sahen mir wohl ab und zu Männer und auch Frauen nach, jedoch
anscheinend nicht anders, als sie sonst vielleicht Personen nachschauen, die
ihre Aufmerksamkeit erregen. Meist gingen Männer, Frauen, Mädchen und
Knaben ganz achtlos an mir vorüber. Sehr belebt ist die W . . .-
Strasse nun überhaupt nicht und sie war es zu jener Nachmittagsstunde erst
recht nicht. Als ich über den Strassendamm ging, schienen drei Schüler, die
ihren bunten Mützen nach vermutlich einer höheren Lehranstalt angehörten,
sich über mich lustig zu machen. Ich tat, als ob ich das nicht beachtete
und ging ruhig weiter. Nun betrat ich das Spezial- Wäsche-Geschäft einer
.Jüdin in der W . . . strasse, bei der ich schon wiederholt Damenwäsche ge-
kauft hatte und die meine Neigungen kannte. Ich habe Freundschaft mit
ihr geschlossen und kaufe ganz gern bei ihr. Ich hatte ihr schon vorher
gesagt, dass ich sie einmal als Dame besuchen würde und sie hatte damals
gemeint: „Na ja, ziehen sie sich doch einmal recht schneidig an und kommen
Sie zu mir." Als ich sie nun besuchte, war sie doch recht erstaunt über
mich und meinte, dass es doch ein grosses Wagnis von mir wäre, so zu ihr
zu kommen; denn mein Aussehen wäre doch auffallend. Sie bewundere
meinen Mut, sagte sie. Es kamen zu ihr nun mehrere Kundinnen in den
Laden. Niemand aber sagte etwas in Bezug auf mich. Es ist ein ganz
kleiner, schmaler Laden, in welchem höchstens 8 Personen Platz haben.
Ein Fräulein aus einem Schankgeschäft nebenan betrat mit einem kleinen
396
Knaben Jen Laden nnd kaufte etwas. Dieser .Junge ist der Liebling der
Ladenbesitzerin und sie spielte mit ilnn. Das Kind streckte auch mir die
Häncichen hin und ich streichelte sie; es merkte sicher nichts. Die Ladenin-
haberin bestellte bei dem Fräulein eine Limonade und auch ich bat um eine
Citronen-Limonade, da es sehr heiss war. Bald darauf brachte das Fräulein
die beiden Gläser und ich zahlte für mein Getränk, indem ich meine Le«ier-'
tasche öffnete und dem Fräulein das Geld hinreichte. Sie merkte scheinbar
absolut nichts Seltsames an mir. Später erzählte mir jedoch die Wäsche-
geschäftsinhaberin, dass dem Fräulein meine etwas rauhe Stimme aufgefallen
wäre. Darauf hätte sie geantwortet, dass das doch zuweilen bei Frauen vor-
käme. Ich sass im Laden auf einem Sessel, den mir die Inhaberin mit den
Worten: .Bitte, setzen Sie sich doch, Fräulein!“" angeboten hatte. Sie
Fragte mich nun, ob ich einen Bedarf an Wäsche etc. hätte. Ich sagte, ich
würde einen Herrenschlips kaufen, den ich sehr nötig hätte, aber es sehe
doch so seltsam aus, wenn ich jetzt als Dame so etwas kaufen würde. Da
meinte sie zu mir. das könnte ja für meinen Bräutigam sein. Nun stellte
sie auch mehrere Kästen mit Schlipsen vor mich hin, und ich wählte einen
aus. Die Verkäuferin sah unter dem Durchbruch meiner Bluse mein Damen-
hemd, das ich s. Z. bei ihr gekauft hatte, und sie machte mich darauf auf-
merksam, dass sie es als aus ihrem Geschäft stammend erkenne. Sie wollte
mich gar nicht fortlassen, da sie Besorgnis um mich zu haben schien, dass
mir etwas passieren könne, zumal ich ihr gesagt hatte, dass ich nach dem
Tiergarten mit der Strassenbahn fahren wolle. Sie meinte beständig, meine
Perücke wäre zu goldblond und somit zu auffällig. Endlich, als es bald
acht Uhr und schon dunkel geworden war, meinte sie zu mir, nun könnte
ich gehen, im Zwielicht wäre mein Haar nicht mehr so auffällig. Dass sie
ganz recht gehabt hatte, sollte ich tatsächlich später erleben. In Berlin
sind viel rohe Elemente vertreten und es ist hier ganz anders als im Riesen-
gebirge, wo ich ganz ungehindert als Dame gehen konnte. Ich verliess also
das Geschäft in der W . . . strasse und ging nun zwischen den jetzt ziem-
lich dichten Menschenmassen hindurch nach der Weinmeisterstrasse, wo ich
eine Masseuse besuchte. Im Hausflur stand ein Mädchen von etwa zwölf
Jahren, die mich ansah. Ich war das Treppensteigen in Frauenkleidern un-
gewohnt und stolperte schon bei den ersten Stufen. Ich raffte mein Kleid
und es ging etwas besser, aber doch sehr unbeholfen. Wie eine Frau, ohne
ihr Kleid zu raffen, Treppen steigen, in die Strassenbahn einsteigen etc.
kann, ist mir bis auf weiteres noch ganz unklar. Zu lang ist mein Kostüm-
rock nicht, er ist so lang wie er sein muss. Die Masseuse erkannte mich
sofort wieder, als sie die Tür geöffnet hatte und liess mich eintreten. Sie
freute sich sehr über meinen Anblick und untersuchte mein nobles Exterieur.
Ich zeigte ihr alles. Massieren liess ich mich aber nicht, da ich hierzu kein
Geld hatte. Wie gern hätte ich mich als Mädchen, als das ich mich doch
jetzt fühlte, von ihr massieren lassen! Nach einiger Zeit verliess ich die
Masseuse. Auf der Treppe stand eine feine Dame, die einem kleinen
Mädchen, wohl ihrer Tochter, Aufträge erteilte, was sie einholen sollte.
Ich ging an beiden unauffällig vorbei. An der Tür standen ein Mann
397
und eine Frau, an denen ich vorbei huschte. Jetzt war ich also
wieder auf der Strasse, mitten im Menschengewühl, das jetzt beinahe
so stark wie in der Friedrichstrasse war. Ich ging nach dem Rosen-
thaler Tor, vorbei an Männlein und Fräulein, sogar an meinen Kol-
legen der „heiligen Hermandad“, und von da nach der Elsasser-
strasse, wo ich wieder eine Masseuse besuchte. Auch hier fiel mir das
Treppensteigen in den Frauenkleidern recht schwer. „Na, bist Du auch mal
wieder da, Gretchen! Das ist recht von Dir, Gretchen, dass Du Dich wieder
einmal sehen lässt.“ Dies waren die Worte, mit denen mich die Masseuse
die mich sofort wiedererkannt hatte, empfing. Sie nötigte mich nun in ihren
Massage-Salon und musterte mich ebenfalls von oben bis unten. Ich zeigte
ihr meine Strümpfe, meine Höschen, meine ünterröckchen usw. Jeder Ge-
genstand an mir wurde besprochen. Ich sagte ihr ebenfalls, dass ich nur
gekommen wäre, um mich ihr als Dame zu zeigen, dass ich mich heute aber
nicht massieren Hesse. Sie nahm das weiter gar nicht übel, sondern blieb
sehr freundlich, setzte sich auf eine Ottomane und bedeutete mir, dass ich
mich neben sie setzen solle. Nun erzählten wir uns alles mögliche wie zwei
Frauen, zwei richtige Freundinnen sich miteinander aussprechen. Natürlich
bildete die Liebe den Punkt, um den sich alles drehte. Bei dem Aufenthalte
bei dieser Masseuse und den Erzählungen mit ihr war jede Männlichkeit in
mir 80 gut wie erlcschen. Ich fühlte mich ganz Weib und
betrachtete die Masseuse wie meine Mitschwester.
Es war schon fast 10 Uhr abends, als ich von ihr ging. In der L . . . strasse
sah ein älterer Herr mir nach. Ebenfalls in dieser Strasse standen vor
einem Hause einige junge Mädchen. Dienstmädchen usw. Sie lachten mir
nach und ich hörte ganz deutlich die Worte hinter mir: „Das ist doch ein
Mann, dem wollen wir nachgehen!“ Ich bewahrte aber meine Ruhe und die
Frauenzimmer führten ihren Vorsatz nicht aus. Trotzdem überkam mich
plötzlich eine kolossale Angst und ich wünschte innerlich sehr, dass ich
nur erst wi^er zu Hause wäre. Als ich in der Nähe der Pfefferberg-
Brauerei war, kamen mir zwei junge Männer entgegen, die anscheinend dem
Arbeiterstande angehörten. Der eine von ihnen nahm seinen Hut tief vor
mir ab, behielt ihn in der Hand und machte, ohne etwas dabei zu sagen,
vor mir Front. Ich tat so, als wenn ich es gar nicht bemerkt hätte und
ging ungehindert weiter. Am W . . . platz standen etwa 4 bis 5 halb-
wüchsige Burschen, die liinter mir herlachten. Einer von ihnen gebrauchto
wiederholt die Redensart: „Ach. seht doch mal den- ollen Kuhkopp! Nee,
so’n Kuhkopp! Is det nich een richtiger Kuhkopp?“ Diese Burschen ahnten
nicht, dass es sich in Wahrheit bei mir um einen Ochsenkopf handelte. Kurz
darauf kam mir eine ganze Gesellschaft entgegen; anscheinend Vater, Mutter,
Onkel. Tante sowie etwa .3 bis 4 Kinder. Ein Mann oder eine Frau von
dieser Gesellschaft sagte: „Hat der Mensch Worte?“, aber ich weiss nicht,
ob sich die Worte auf mich bezogen. Trotzdem bekam ich es immer mehr
mit der Angst zu tun. Jedoch jetzt waren es nur noch einige Häuser und
ich stand vor meiner Haustüre. Es war inzwischen 10^ Uhr geworden.
Ich entnahm schnell meiner Handtasche den Hausschlüssel und öffnete das
398
Haus. Es war stockdunkel auf den Treppen und so wurde mir Jas Herauf-
gehen noch viel schwerer. Zum Glücke begegnete mir niemand auf der
Treppe. Schnell schloss ich die Korridortür auf und war nun wieder bei
meinen heimischen Penaten. Ach, wie glücklich war ich! Ich fühlte
mich wie gerettet. Ich warf mich tatsächlich in meinen Frauen-
kleidem auf die Knie nieder und dankte Gott, dass er mich vor Unheil b(^
wahrt hatte; die ausgestandene Angst und das Treppensteigen hatten mir
fast den Atem benommen. Ich zog mich aus und legte mich zu Bett. Gleich
am anderen Morgen begab ich mich aber zu einem Perückenmacher und lies,s
meine goldblonde Perücke brünett färben.“
Zu denjenigen Transvestiten, die in der Tracht des
anderen Geschlechts niemals die Strasse betreten, die es
nur ausnahmsweise und die es ständig tun,
kommt eine vierte Gruppe, die in der Kasuistik des
ersten Kapitels dieses Buchs besonders häufig vertreten ist,
Personen, denen es gelingt, für längere oder kürzere Zeit
das ersehnte Leben in dem anderen Geschlecht zu führen,
um dann wieder, durch äussere Verhältnisse gezwungen, in
ihr eigentliches Geschlecht zurückznkehren. Es ist erstaun-
lich, wie solche Menschen selbst auf die Dauer oft diejenigen
täuschen, die mit ihnen täglich zusammen sind, ihre
Arbeits- und Zimmerkollegen, ihre Vorgesetzten, ihre Dienst-
herrschaften, ja, so ungeheuerlich und abenteuerlich es klingen
mag, vorübergehend selbst ihre Ehegatten. Ich will zunächst
zwei Personen anführen, deren Geschlecht über 40 Jahre ver-
borgen blieb, einen Engländer und eine Amerikanerin. Im
Jahre 1904 hatte sich vor dem Polizeigericht in Westminster-
London ein kleiner alter Mann zu verantworten, der auf der
Liste des Angeklagten als Charlie Wilson bezeichnet war,
in Wirklichkeit aber Katherine Coombe hiess. 46 Jahre lang,
vom 23. bis 68. Lebensjahr war sie unbeargwohnt und un-
entdeckt in Männerkleidung gegangen. Mit 16 Jahren hatte
sie einen Schulmeister geheiratet, der sie schlecht be-
handelte. Sie lief ihm schliesslich fort und ging zu ihrem
Bruder, der ein Flach- und Schildermaler war. Sie erlernte
dasselbe Gewerbe; zog Männerkleider an, nannte sich Charlie
Wilson und nahm Dienste auf einem Schiff als Anstreicher
und Verzierer. Viele Jahre trieb sie sich auf dem Meere
herum, kehrte dann nach London zurück und verheiratete sich,
399
imd zwar diesmal als Mann mit einem Dienstmädchen vor dem
Zivilstandsbeamten in Westminster, und die beiden lebten 15
Jahre zusammen in „glücklicher Ehe". Dann starb die Frau;
der weibliche Witwer verdingte sich wieder als An-
streicher bei einer der grössten Schiffsgesellschatten Londons
und verdiente in dieser Stellung einen Wochenlohn von
40 Mk.
lieber ihr Liebesieben erzählt sie einem Berichterstatter;
„Auf meiner ersten Reise mit Kapitän Peiannie und seiner
Frau erlebte ich meinen ersten Roman. An Bord befand
sich eine Freundin der Pciannies, eine schöne und berühmte
Schauspielerin, und dieses schöne Geschöpf, die das Idol
mehrerer Londoner Saisons gewesen war, verliebte sich bis
über beide Ohren in den kleinen lockigen Schiffsschreiber.
Knieend bat sie mich, sic zu heiraten. Ich war kaum an
das Tragen von Hosen gewöhnt und so beschämt, dass ich
ihr sagte, ich wäre nur ein Mädchen. Ihre Liebe verwandelte
sich in Freundschaft, und sie ist bis zu ihrem Tode meine
Freundin geblieben. Ich fand nicht nur in jedem Hafen,
sondern überall, wohin ich kam, Mädchen, die sich in mich
verliebten. Eine sagte mir, das käme daher, weil ich so
gütig, freundlich und anders wie die Männer sonst wäre.
Als ich dann ein eigenes Heim hatte, wünschte ich es recht
nett zu haben, und suchte die Kameradschaft einer guten
Frau. Ich wollte mich verheiraten wie die Männer, die
wie ich arbeiten, und so heiratete ich schliesslich meine erste
Frau, Annie Ridgeway in St. Margarets Church, Westminster.
Annie liebte mich zärtlich und selbstlos. Unsere Ehe war
sehr glücklich, aber nach vier Jahren starb sie zu meinem
grossen Kummer. Schmerzlich vermisste ich die Gemütlich-
keit, die ein echtes Weib dem Hause gibt, und deshalb
heiratete ich nach einiger Zeit wieder. Meine zweite Frau
war mir so treu wie die erste, und vierundzwanzig Jahre
lebten wir glücklich zusammen, bis der Töd sie von mir
nahm.“
Von da ab scheint sie das Glück verlassen zu haben, sie
ergab sich dem Trünke, wurde wiederholt in Piccadilly be-
rauscht aufgegriffen, kam immer mehr herunter, bis sie zu-
400
letzt in einem Armenhause Unterkunft suchte, wo sie, be-
vor sie das vorgeschriebene Bad nahm, ihr Geheimnis der
Verwaltung selbst enthüllte. (Jhb. V. p. 1130.)
Auf einem Landgute in der Nähe der Stadt Oswego, am
östlichen Ende des Ontario-Sees, lebt der in dem ganzen
Bezirke wohlbekannte Herr Ur. Mary Walker, eine Frau,
die seit 40 Jahren nur Männerkleidung getragen hat. Vor
einiger Zeit wurde durch Zufall das Geheimnis verraten,
aber sie kümmert sich nicht darum, sondern führt das ge-
wohnte Herrenleben, das ihr sehr zusagt, ruhig wmiter, ohne
dass irgend jemand daran Anstoss nimmt. Sie liebt es zu
reiten, schiessen, fischen und zu pflügen, und ist ein leiden-
schaftlicher Raucher.
Verhältnismässig lange verstand auch im folgenden Fall
eine Frau ihre Umgebung zu täuschen: Das Berliner Tage-
blatt vom 30. März 1881 teilt mit: „Eine fast unglaublich
klingende Geschichte, die uns indess von sicherer Seite als
wahr verbürgt wdrd, hat man uns in Folgendem aus der
Umgegend Berlins berichtet. Vor etwa einem Jahre hat sich
in dem bei Weissensee gelegenen Dorfe Marzahn ein Dienst-
mädchen, welches mit einem im Dorfe in Dienst stehenden
Knechte ein Liebesverhältnis unterhalten hatte, das Leben
genommen. Allgemein wurde damals angenommen, dass das
Mädchen deshalb Hand an sich gelegt hatte, weil sein etwa
40 Jahre alter Bräutigam trotz fortgesetzten Drängens
keine Anstalten treffen wollte, das Liebesverhältnis durch
die Hochzeit zu krönen. Im Laufe voriger Woche erschien
nun in M. ein Arbeiter namens K., um sich nach seiner
Schwester zu erkundigen, die er seit 20 Jahren nicht ge-
sehen und die in dem Orte dienen sollte. Eine Dienst-
magd des angebenen Namens existiert aber dort nicht,
wohl aber führte der Knecht diesen Namen, dessen Braut,
wie oben erwähnt, sich vor Jahresfrist das Leben genommen
hatte. Schon wollte der fremde Arbeiter unverrichteter
Sache den Hof des Schulzen, bei dem er die Erkundigung
eingezogen, verlassen, als zufällig der erwähnte Knecht K.
dort vorüberging. „Da geht ja meine Schwester“, rief der
Fremde aus und der Schulze glaubte, dass es in dem
401
Oberstübchen des Mannes nicht richtig sei, da jener K.
schon seit etwa 20 Jahren in Malchow, Marzahn und an-
deren Dörfern der Umgegend als Knecht gearbeitet hatte,
also unmöglich eine „Schwester“ sein könne. Der Knecht
wird herangerufen und dem Fremden gegenübergestellt; er
behauptet jedoch, dass er diesen nicht kenne und meint
ebenfalls, dass derselbe „bestrampelt“ sein müsse. Bei der
entschiedenen Behauptung des Fremden, dass er ganz be-
stimmt seine Schwester vor sich habe, fand der Schulze
sich doch veranlasst, eine nähere Untersuchung einzuleiten
und es ergab sich, dass der vermeintliche Knecht in der Tat
ein Mädchen war. Mehr als 20 Jahre lang war -es ihm
gelungen, die Leute über sein Geschlecht zu täuschen, es
hatte stets als Knecht gearbeitet und als solcher die härtesten
Arbeiten verrichtet. Nun war guter Rat teuer. Man wusste
nicht, was man mit dem Mannweib anfangen sollte. Der
Schulze behielt dasselbe 2 Tage in Gewahrsam und liess
dasselbe dann auf höhere Weisung laufen. Am letzten Sonntag
soll die „unverehelichte K.“ sich in einem anderen Dorfe
als Magd verdungen haben.“
Geschlechtsentdeckung nach dem Tode.
Von ganz besonderem Interesse sind aber die recht
zahlreichen Männer und Frauen, deren wahres Geschlecht
sich erst nach ihi’em Verscheiden oder auf dem Totenbette
ergab. Trotzdem ich fürchte, dass die Menge
verwandter Einzelfälle die Leser etwas
ermüden wird, halte ich eine grössere
Zusammenstellung doch auch hier für un-
erlässlich, weil sich erst aus der Ordnung
der voneinander so völlig unabhängigen
Ereignisse die entsprechenden Schlüsse
auf die Eigenart, Häufigkeit und Gesetz-
mässigkeit der Erscheinung ziehen lassen.
Das „Echo der Gegenwart“ vom 9. März 05 bringt unter
dem Titel „Der Engländer von Ligneuville“ ein Feuilleton
von Fre Pascal, dem wir die folgende Stelle entnehmen;
Elrscbfeld, Die Tranavestilen. 26
402
„Es dürfte wohl selten Vorkommen, dass Damen lange
Jahre hindurch in IleiTenkleidern unbehelligt im Leben aus-
harren, ohne wieder zu den Kleidern des w^eiblichen Ge-
schlechtes zurfickgreifen zu müssen. In der manchem
Aachener w'ohlbekannten Sommerfrische Ligneuville bei Mal-
raedy kam vor ca. 60 Jahren ein junger, etwm 30 Jahre
alter Engländer an, ein hübscher Bursche von sehr vor-
nehmen Allüren. Er stieg in dem kleinen Gasthofe des
Ortes ab, und da Land und Leute ihm gefielen, kaufte er
bald das kleine Wohnhaus eines Bauern von Pont (dicht
bei Ligneu\ille) und liess dasselbe umbauen und nach
seinem Geschmack möblieren. Der junge Mann lebte sehr
zurückgezogen, ein einziges Dienstmädchen besorgte den
Haushalt und Herr de Hawmrden, wie er sich nannte,
schloss mit Niemandem weder Bekanntschaft noch Freund-
schaft. Er w'ar ein grosser Hundeliebhaber und schien ein
besonderes Faible für Spaziergänge im Walde bei hellem
Mondschein zu haben. Auch ward erzählt, dass er oft wie
in Träummrei versunken mit Vorliebe an den Ufern der
Arael auf und ab spazierte. Korrespondenzen erhielt Herr de
Haw’arden keine, nur ein einziges Mal im Jahre erhielt der
Landbriefträger ins einsame Haus Zutritt, nämlich wenn
er Herrn de Hawmrden seine Renten brachte. Ab und zu
ging de Hawarden nach Malmedy, um Einkäufe zu machen,
sprach in den Geschäften nicht viel, aber in einem der
besseren Manufaktur- und Luxuswarengeschäfte war es
öfters aufgefallen, dass der Engländer sich so sehr wie
eine Dame benahm und als einst die Inhaberin des Ge-
schäftes eine entsprechende Bemerkung wmgte, lächelte der
Engländer, lenkte aber bald das Gespräch auf einen
anderen Gegenstand. Von der Bevölkerung blieb er stets
unbehelligt. So lebte Herr de Hawarden bald 20 Jahre in
Ligneuville-Pont, als er plötzlich erkrankte und ehe der
aus Malmedy gerufene Dr. Closet erschien, war der geheim-
nisvolle Fremde gestorben. Erst als der Arzt die
Leiche untersuchte, soll er entdeckt
haben, dass der vermeintliche Herr de
Hawarden eine Dame war, zur nicht geringen
403
Ueberraschung des DienstmädcheiiB. Nach einer anderen
Version soll de Hawarden schon bei einem früheren Krank-
heitsfall dem Dr. Closet unter dem Siegel des ärztlichen
Geheimnisses die \Vahrheit über sein Geschlecht an vertraut
haben. In seinen hinterlassenen Papieren bekannte .,Herr de
Hawarden“ seinen richtigen Namen, mehr aber erfuhr man
nicht; er bestimmte als seinen letzten Willen, in Ligneu-
ville begraben zu werden und hinterliess für die Grab-
steinschrift nur folgende, in französischer Sprache abge-
fasste Notizen: „Ici repose dans l’esperance le corps de Made-
moiselle Meriora Gillibrand, decM4e ä Ligneuville le 1. mars
1863 ä Tage de 58 ans, munie des sacrements de l’eglise.“
Welcher Roman barg sich in dieser Existenz? Fräulein Gilli-
brand teilte vor ihrem Tode weder genau Geburtsdatum
noch Geburtsort mit, und niemand hat je Interesse daran
gehabt, danach zu forschen; hoffentlich geben auch diese
Zeilen niemandem Anlass, jetzt noch danach zu forschen und
das Geheimnis der Toten kann fernerhin in Frieden ruhen.
Ohne Zweifel trug die Dame ein Geheimnis im Herzen und
davor haben auch die kleinen Bauern Achtung empfunden; wenn
auch sie Miss Gillibrand nur als „Herr de Hawarden“ kannten.“
„Im Kloster von Tzibucani in Rumänien starb im Juni 05
im hohen Alter von 90 Jahren der Mönch Vasili
Popovici, nachdem er ein Vierteljahrhundert in den stillen
Klosterräumen ein beschauliches Leben geführt hatte. Von
weit und breit strömten die Gläubigen in hellen Scharen
zusammen, um dem Toten, der im Gerüche der Heiligkeit
stand, die letzten Ehren zu erweisen. Wie gross war aber
das Erstaunen aller, als man beim Waschen der Leiche
die Wahrnehmung machte, dass der l^Iönch Vasili Popovici
eine Frau war. Die Klosterbrüder meldeten den Vorfall
ihrem Vorgesetzten. Man hat absolut keine Erklärung da-
für, wie es dieser Frau möglich war, 25 Jahre lang un-
erkannt als Mann in dem Kloster zu leben. Die Verstorbene
trug zwar nicht den bei den orthodoxen ^lönchen üblichen
Bart, hatte aber sonst ganz männliche Gesichtszüge, und
nichts in ihrem Gehaben deutete das Geschlecht des eigen-
tümlichen Klosterinsassen an. Der Bürgermeister der Ge-
2G*
404
meinde Tzibucani hat den Fall zur Kenntnis des Staats-
anwalts gebracht, und man ist jetzt allgemein gespannt
darauf, ob es gelingen wird, des Rätsels Lösung zu finden
und das Geheimnis zu entschleiern, das sich hinter dem
merkwürdigen Fall verbirgt.“ (Mb. 05. VII. 12.)*)
Grosses Aufsehen erregte vor einigen Jahren ein Fall,
über den italienische und deutsche Zeitungen folgende Mit-
teilungen veröffentlichten:
„In dem Städtchen Sori an der genuesischen Riviera,
w'enige Kilometer östlich von Nervi starb im Mai des Jahres
1906 ein älterer deutscher Herr, der sich Professor
Anton Herrmann nannte. Zur allgemeinen Ueber-
raschung stellte es sich nach seinem Tode heraus, dass
dieser Herr die 49jährige Wiener Malerin Hermine Hermann,
die Schwester eines Universitätsprofessors ins Innsbruck, war,
die sich seit 1889 in Sori aufhielt. Sie trug gewöhnlich
einen grossen, schwarzen Schnurrbart, doch wollten Per-
sonen sie ohne Bart im Garten beim Ballspiel gesehen
haben und ein jMädchen behauptete, in der Kirche beobachtet
zu haben, dass ihr einmal der schwarze Schnurrbart abge-
fallen sei. Sie verkehrte in Sori viel mit einem dort an-
sässigen Deutschen Ehepaar, dem Oberst a. D. Dr. Z. und
Frau. Besonders nach dem Tode des Obersten sah man den
kleinen schmächtigen Professor sehr viel in der von seiner
Freundin angekauften und geschmackvoll ausgestatteten
*) Eine im Mittelalter weit verbreitete Legende von der hei-
ligen Marina erzählt, dass diese, als ihr Vater Eugenius Mönch wird,
selbst Männerkleider anlegt, um Mönch zu werden und mit ihm zu gehen.
Sie wird als solcher (ihren Namen hatte sie in Marius umgewandelt) be-
schuldigt, ein Kind gezeugt zu haben und verstossen. Sie verteidigt sich
nicht und nimmt sich des Kindes an. Erst nach ihrem Tode
kommt ihr Geschlecht zu Tage. Bayle, Dictionnaire histo-
rique et critique Bd. IV, 110b, erwähnt einen Mönch, der schwanger ge-
worden sei und ein Kind geboren habe, und von dem, nach einem Gedicht
von Jehan Molinet, es geheissen, er habe die Geschlechtsteile beider Ge-
schlechter besessen und sich selbst geschwängert. Bayle selbst hält ihn für
einen Hermaphroditen, glaubt aber nicht au die Selbstschwängerung. Nach
der „Chronique scandaleuse de Louis XI.“ wurde dieser schwangere Mönch
ins Gefängnis geworfen; nach Robert Gaguin ereignete sich der Fall in
einem Kloster zu Issoire en Auvergne,
405
Villa „Wilhelmine'‘. Später zog Professor Herrmaiin in die
von Frau Z. gemietete Adlla „Moresko“, wo im Jatire
1904 die Prinzessin Alice vor Bourbon, Tochter von
Don Carlos, mit ihrem Bruder Jaime eine Zeit lang
wohnte. Der Name „la viila misteriosa"' — so wurde die
Villa seit langer Zeit im Volksmund genannt — sollte bald
eine neue Bestätigung erfahren. Vor einigen Monaten
erkrankte Prof. Herrmann und es wurden verschiedene Aerzte
befragt, denen aber nicht gestattet wurde, eine körperliche
Untersuchung vörzunehmen. Am Tage vor Ostern wurde der
Zustand, es scheint sich um Krebs gehandelt zu haben, so
bedenklich, dass der Priester gerufen wurde. Als er zur
letzten Oelung schreiten wollte, bestand Frau Z. darauf,
dass die Brust nicht geöffnet würde, was den Geistlichen
nicht wenig befremdete. Nach dem am Montag erfolgten
Tode des Kranken erschien der telegraphisch herbeigerufene
Bruder der Verschiedenen beim Pfarrer und auf dem Zivil-
standesamt und meldete das 49jährige Fräulein Hermine
Herrmann aus Wien als verstorben an. Der Gemeindearzt
bestätigte darauf die Wahrheit und das bis dahin ver-
borgen gebliebene Geschlecht der Tote n.“
(Mb. 05. VI. p. 13.)
„Im November 1906 wurde in dem Oertchen Colombes in
Frankreich ein Fuhrmann durch ein Automobil vom Wagen
geschleudert und starb darauf. Als sein Leib begraben
werden sollte, fand man. dass es eine Frau war. Auf
weitere Nachforschungen hin ergab sich, dass sich hinter
diesem merkwürdigen Fuhrmann ein Mädchen aus guter
Familie namens Klotilde Filly, verbarg, die vor dreissig
Jahren nach einem Zwist mit den Ihrigen ihre Heimat ver-
lassen und seitdem in Männer kleidung gelebt hatte.
Von ihren Kollegen hatte sie wegen ihrer grossen Körper-
kräfte den Beinamen „Eisenarm“ erhalten. Sie war wegen
ihres hitzigen Temperaments und ihrer schnellen Kampfes-
bereitschaft von allen Fuhrleuten gefürchtet, die hinter dem
kräftigen Boxer, der so empfindliche Schläge aus-
teilen konnte, nie und nimmer eine Frau geahnt hätten.“
„In Paris hat im Jahre 1903 ein Original das Zeitliche
406
gesegnet, nicht ohne, seinem sonderbaren Charakter ent-
sprechend, der Welt eine originelle Ueberraschnng zu hinter-
lassen. Der Bureaudiener Marius war eine bescheidene
witzige und allen Pariser Journalisten bekannte Persönlich-
keit gewesen, die in den meisten Zeitungsredaktionen der
Hauptstadt ein- und ausging. Marius war klein und bart-
los; man war stets über sein Alter im Zweifel, wenn man
ihn sah. Der ehemalige Kammerpräsident Burdeau brachte
ihn in der Redaktion des „Soir“ als Bureaudiener unter.
Dann war er an mehreren anderen Zeitungen. Zuletzt diente
Marius bei der Sportzeitung Auteuil-Longchamps. Gestern
fand man ihn tot in seinem Bette. Man glaubte erst an
einen Selbstmord, aber der Gerichtsarzt stellte fest, dass
Marius im Alter von 62 Jahren eines ganz natürlichen Todes
gestorben sei, und hierbei kam er auf die unerwartete Ent-
deckung; Marius war eine Frau.“ (Jhb. V. p. 1203.)
Ende November 1909 erstattete Professor C. S u n d -
berg in Stockholm in der schwedischen ärztlichen Ge-
sellschaft über einen Aufsehen erregenden Pall Bericht. Ein
dort im 50. Jahre an der Schwindsucht verstorbener Mann
mit Vornamen Emil Kristian hatte eine letztwillige Ver-
fügung hinterlassen, worin er bestimmte, dass seine Leiche
von dem bekannten Professor Sundberg obduziert werden
sollte, damit die Frage seines Geschlechts endlich einwands-
frei fest gestellt werden könnte. Professor Sundberg nahm
die Obduktion vor, und cs stellte sich heraus, dass Emil
Kristian ein Weib war. Wie mir Professor Sundberg
selbst nützuteilen die Güte hatte, war die Person bis zu
ihrem 25. Jahre als Weib betrachtet worden. Sie ging
in die Mädchenschule, entwickelte sich körperlich ausgezeichnet,
besuchte das Lehrerinnen-Seminar, bestand ihr Examen und
wurde Volksschullehrerin. Als solche fing sie allmählich an
wegen ihrer eigenartigen Manieren peinlich aufzufallen. Sie
hatte einen kleinen Grundbesitz auf dem Lande, erledigte
dort die gröbste landwirtschaftliche Arbeit eigenhändig,
trank und rauchte „wie ein Mann“, und die Eltern ihrer
Schülerinnen nahmen immer mehr an ihrem Benehmen An-
stoss, bis ihr schliesslich nichts weiter übrig blieb, als
407
weg^n der vielen Beschwerden um ihre Entlassung aus dem
Lehrerinnen- Amte einzukommen. In der Folgezeit ernährte
sie sich ausschliesslich durch die Landwirtschaft. Ihre land-
wirtschaftlichen Produkte verkaufte sie selbst in der nächst-
liegenden Stadt. Auf ihren Reisen nach und von der Stadt
war sie wegen ihrer eigentümlichen rauhen und tiefen Stimme
und wegen ihres robusten Wesens oft abenteuerlichen Er-
lebnissen ausgesetzt. Einmal nahm sie auf einer längeren
Eisenbahnreise Schlafwagenbillett und erhielt auf ihr An-
suchen Platz in einem Abteil für Damen angewiesen. Als
sie hier ihre Toilette machte, wurde die mitreisende Dame
wegen ihres „robusten Wesens“ und ihrer „männlichen Ma-
nieren“ besorgt. Sie rief den Schaffner, welcher der mann-
haft aussehenden Dame befahl, den Wagen zu verlassen. Als
sie sich dieser Anordnung nicht gutwillig fügen wollte, musste
sie auf der nächsten Station auf Anordnung der Bahnhofspolizei
den Zug verlassen. Sie verlangte nun, zu einem Arzt ge-
führt zu werden. Ihrem Verlangen wurde stattgegeben, der
Arzt konstatierte ihr weibliches Geschlecht und sie durfte
die Reise mit dem nächsten Zug im Damenabteil fortsetzen.
Durch diese und ähnliche Vorkommnisse verbittert, gelang es
ihr schliesslich einen Arzt zu finden, der ein Attest aus-
stellte, dass sie ein Mann sei. Prof. Sundberg
schreibt mir darüber; „Ich bedauere aussprechen zu müssen,
dass ein Arzt eine so leichtsinnige Diagnose machen konnte,
ohne einen Spezialisten oder einen mehr kritischen Kollegen
zu konsultieren.“ Allerdings hatte sie keine Menstruation,
keine Brusteutwickluiig, Uterus und Ovarien waren im Leben
nicht palpabel; die äusseren Genitalien dagegen rein weib-
lich, aber atrophische dünne labia majora und beinahe keine
labia minora, die Clitoris nicht gross,' Vagina kurz und eng.
Durch die Vermittelung eines Arztes und eines hervorragen-
den Juristen, mit dem „sie“ sich über den Fall besprach, er-
hielt .,sie“ durch königliche Verfügung die Erlaubnis, künftig
als Mann betrachtet zu werden. Der zuständige Pfarrer
führte demgemäss in das betreffende Geburts- und Sterbe-
register einen dementsprechenden Vermerk folgenden Wort-
lauts ein; „Die Schullehrerin Emma Kristiana . . . soll
408
künftig als Manu gelten und mit dem Landwirt Emil Kristian
. . . identisch sein.“ Emil Kristian fühlte sich in der
Mannestracht und als „Manu“ sehr wohl, „er“ kümmerte sich
um seine Landwirtschaft, und „sein“ Leben verfloss in der
Folgezeit ohne abenteuerliche Geschehnisse. „Emil Kristian“
wurde nach einigen Jahren Bierkutscher in der Nachbarstadt.
Als solcher besuchte er einige Male den Professor Sundberg,
dem „er“ „seine“ eigentümlichen Lebensschicksale niitteilte.
„Er“ liess sich auf Wunsch des Professors von ihm unter-
suchen; der Professor hatte berechtigte Zweifel, ob „er“
denn doch nicht ein Weib sei. Er setzte sich aber jedem
Versuch, sein Geschlecht nochmals zu ändern, energisch ent-
gegen. Die königliche Verfügung über sein männliches Ge-
schlecht trug Emil Kristian immer in der Tasche bei sich.
Wie mir Professor Sundberg berichtet, war die Person
„nicht homosexuell“ ; denn sie hatte, nachdem sie als Mann
erklärt war, nur Umgang mit Männern; nur in einem Fall
hatte sie sich mit einer Frau abgegeben.
Aus Trinidad, Colorado, teilt die „Newjmrker Staats-
zeitung“ vom 12. November 1907 mit; „In einem hiesigen
Hospital ist heute Frl. Catharine Vosbaugh gestorben, die
sich sechzig Jahrelang für einen Mann aus-
gegeben hat. Vor 83 Jahren in Frankreich geboren,
fand sie es, ihres Geschlechtes wegen, schwierig, ihr Fort-
kommen in der Welt zu finden, weshalb sie Männerkleider
anlegte und eine Stellung als Buchhalter in Joplin, Mo., an-
nahm. Nachdem sie diese neun Jahre lang inne gehabt,
nahm sie eine Stellung in einer Bank in St. Joseph, Mo.,
an. In letzterer Stadt heiratete sie ein Mädchen, mit dem
sie 30 Jahre lang unter dem Namen Charles Vosbaugh zu-
sammenlebte. Vor zwei Jahren kamen die beiden als Mann
und Weib nach Trinidad. Nach dem Tode der
Frau war Frl. Vosbaugh in verschiedenen Berufsarten
tätig, bis sie letztes Jahr so hinfällig wurde, dass sie nach
einem Hospital gebracht werden musste. Dort
wurde ihr wirkliches Geschlecht erkannt.
Aber selbst dann weigerte sie sich, Frauenkleidung anzulegen,
und trug bis zu ihrem Tode Männerkleidung.“ (Z. f. S. 59.)
409
In Amerika scheinen die Fälle von Geschlechtsverklei-
dungen besonders oft vorzukommen; dass sie sich aber keines-
wegs erst mit der modernen Frauenemancipation einge-
stellt haben, zeigt das, was wir oben über ganz ähnliche
Vorkommnisse bei amerikanischen Naturvölkern berichteten.
Ein Fall, der in neuerer Zeit ganz besonders viel beachtet
und besprochen wurde, war der des bekannten Politikers
Murray-Hall. Der Arzt Dr. Galager, der ihn in seiner
Todeskrankheit, Brustkrebs, behandelte, machte nach dem
Hinscheiden Mr. Murray-Halls dem Leichenbeschauer die An-
zeige, der Verstorbene sei eine Frau gewesen. Er hatte
ein bartloses Gesicht und machte den Eindruck, eines gut-
mütigen alten Herrn; die Stimme, ein tiefer Alt, konnte
ganz gut als Männerstimme gelten. Er war dreissig Jahre
lang in Männerkleidung umhergegangen, ohne dass auch nur
„ihre“ nächste Umgebung eine Ahnung davon hatte. Er starb
im Alter von sechzig Jahren, imd als nach seinem Tode das
Geheimnis bekannt wurde, war ganz Newyork erstaunt, zu
hören, dass der wohlbekannte Bürger und eifrige Tammany-
Politiker „Mr.“ Murray Hall ein Weib war. Selbst seine
adoptierte Tochter war auf das höchste überrascht, ihren
Vater nach seinem Tode von einer so gänzlich neuen Seite
kennen zu lernen. Das Sonderbarste aber ist, dass „Mr.“ Murray
Hall zweimal verheiratet war und mit beiden Frauen sehr
glücklich gelebt haben soll. Er war der erste Teilhaber einer
grossen Newyorker Firma und hinterliess ein Vermögen von
250 000 Mark, nachdem er grosse Summen bereits bei
Lebzeiten für wohltätige und politische Zwecke geopfert
hatte. Bei Wahlen war er einer der eifrigsten Agitatoren,
und soll bei der Niederlage des Tammany-„Boss“ ganz un-
tröstlich gewesen sein. Auf ihrem Sterbebette bekannte sie,
dass sie die Verkleidung aus dem Grunde getragen habe,
um besser Geld verdienen zu können, und der Erfolg hat
ihr Recht gegeben.“ (Jhb. III. 583).
Die bekannte Duplizität der Ereignisse, die sich dieses
Mal sogar bis auf den Namen erstreckte, fügte es, dass sich
nicht lange darauf folgender FaU zutrug:
„Miss Karoline Hall, die Tochter eines Bostoner Milli-
410
onärs und Architekten, hatte im Auslande Malerei studiert
und in ihrem Fach einen gewissen Ruf erworben. Schliess-
lich schlug sie ihren Wohnsitz in Mailand auf, wo sie
Josephine B. kennen lernte, die dort an der Kunstschule
war. Beide Frauen wurden intim befreundet, und als Miss
Hall später männliche Kleidung anlegte, galt Signorina B.
als Frau Hall. Bewunderung für ihre grosse Kollegin Rosa
Bonheur hatte Karoline angeblich dazu geführt, männliche
Kleidung und Gewohnheiten anzunehmen. Sie galt überall als ein
rechter Bonvivant und guter Kerl. Als Graf Cassini war sie in
der besten Pariser und Londoner Gesellschaft bekannt. Sie
jagte und spielte Golf in England, besuchte die Cafes in
Paris, rauchte, schoss, trank viel und benahm sich voll-
kommen wie ein Mann. Als sie sich mit Signorina Boriani
auf der „citta di Torino“ als Mr. und Mrs. Hall von Genua
nach New-York einschiffte, wurde sie während der Reise
krank, sodass der Arzt gerufen werden musste, der ihr Ge-
heimnis entdeckte. Sie räumte ein, dass sie eine Frau wäre,
bat ihn aber darum, es vor den Mitreisenden zu verheim-
lichen, was der Arzt ihr versprach. Die Krankheit ver-
schlimmerte sich aber schnell, und als das Schiff sich dem
New-Yorker Hafen näherte, starb sie.“ (Jhb. Y. 11S2).
Auch hei einem Fischer aus der Bretagne fand
man nach seinem Tode, dass er dem weiblichen Geschlecht
angehört hatte. Es ging ihm sehr gut, er besass eine
kleine Bootflotte und hatte eine beträchtliche Summe als
Notgroschen zurückgelegt. Er genoss aller Achtung und
war bei seinem Tode Witwer. Er war tatsächlich zweimal
verheiratet gewesen und hatte ein halbes Jahrhundert sein
wirkliches Geschlecht verbergen können. Niemand hatte ge-
ahnt, dass er eine Frau war, noch dazu eine, die Frauen
geheiratet hatte. (Jhb. V. 1190.)
Aus Spanien wurde ira November 1906 folgendes ge-
meldet: „Eine nette Enttäuschung musste die Siadtver-
waltung von Sevilla mit ihrem ältesten Polizeiagenten er-
leben. Dreissig Jahre lang -hat Fernando Marqueuse seine
Vorgesetzten Behörden in ganz unglaublicher Weise hinters
Licht geführt. Vor einigen Tagen nämlich tat der Sieb-
411
zigjährige einen unglücklichen Sturz und
wurde in das Krankenhaus geschafft. Wer
aber beschreibt die verblüfften Gesichter der Aerzte, als sie
am 1. Nov. entdeckten, dass der Alte zeitlebens eine Frau
gewesen. Der Gouverneur wollte die Nachricht von der
späten Metamorphose des Wärters der öffentlichen Ordnung
und dass dieser eigentlich eine Wärterin sei, zuerst gar-
nicht glauben und er ordnete sofort eine zweite gründliche
Untersuchung an. Die bestätigte aber nur unwiderleglich
die Wirklichkeit des Phänomens.“
Ueber eine Geschlechtsvorspiegelung, die ebenfalls erst
im Krankenhause bemerkbar wurde, berichteten im
Juni 1902 die Pariser Zeitungen wie folgt: „Das Spital
Lariboisiere in Paris beherbergt augenblicklich einen
Patienten, der in Männerkleidern sich zur Auf-
nahme meldete, als Monsieur Paul ins Aufnahme-
register eingetragen wurde, sich aber alsbald als Weib ent-
puppte. Monsieur Paul ist von Beruf Fuhrmann. Seit Jahren
übt er dieses Handwerk aus., ohne dass je irgend jemand
hinter ihm ein Weib vermutet hätte. Seine Kollegen ver-
sicherten, dass er die Peitsche schwingen kann, wie jeder
richtige Fuhrmann, und auch Fluchen und Schimpfen wie ein
solcher. Und doch ist Monsieur Paul ein Weib
von riesigen Körperformen, gross und stark wie ein Mann
und in jeder Beziehung von männlichem Charakter. Ihre ganze
Person zeigt männlichen Habitus, breite ausgearbeitete
Hände, kräftigen Biceps und einen scharfgeschnittenen, trotz
des Fehlens des Bartes durchaus männlichen Gesichtsausdruck.
Monsieur Paul ist ein Findelkind. Von braven Fuhrleuten
gefunden und angenommen, hat sie ihre ganze Kindheit
— sie ist 25 Jahre alt — bei den Pferden zugebracht. Da
ihr der Beruf ihres Adopti\waters gefiel, hat sie. als sie ins
reife Alter trat, Männerkleider angelegt und die Peitsche in
die Hand genommen. Ke' in Mensch ahnte, dass
der junge Fuhrmann ein Weib sei. Im Augen-
blick, wo sie ins Spital eintreten musste, war sie bei einem
der grössten Pariser Rollfuhrwerkunternehmer bedienstet.
Seitdem ihr wirkliches Geschlecht entdeckt ist, lebt sie in
412
steter Angst, ihr Lohnherr werde sie nicht mehr zurück-
nehmen wollen.“
Die umgekehrten Fälle, in denen Frauen sich bei ihrem
Tode oder in schwerer Krankheit als Männer erweisen, scheinen
seltener zu sein. Vielleicht besitzt die männlich geartete
Frau zur Durchführung dieser immerhin nicht leichten
Aufgabe mehr Energie als der weiblich geartete Mann.
Von einer 69]ährigen Einsammlerin in Thüringen, deren Ge-
schlecht sich nach ihrem Tode als männlich erwies, war oben
bereits die Rede. Tarnowsky*) berichtet von einer be-
rühmten englischen Schauspielerin Elisa Edwards, „qui apres
sa mort fut reconnue pour avoir ete un homme deguise!“ In
Petersburg ereignete sich im .Januar 1907 ein Fall, der dort
in weiten Kreisen Aufsehen henmrrief. Vor Jahren war eine
junge Dame in Petersburg erschienen, die sich als Lehrerin
betätigen wollte und ein Mädchengymnasium gründete. Durch
ihr energisches Wesen, ihr schlichtes, ernstes Auftreten und
ihre Kunst, Kinder zu behandeln, gewann ihr Unternehmen
bald grossen Zuspruch, und sie zählte die jungen Mädchen
aus den ersten Gesellschaftskreisen zu ihren Schülerinnen.
Die Eltern selbst hatten keinen Verdacht, wohl aber
merkwürdigerweise manche der Zöglinge, die eines Tages
Zeugen waren, wie eine blinde Bettlerin, der die Lehrerin
einst in Begleitung ihrer Schülerinnen mit ein paar freund-
lichen W”orten einige Kopeken zugeworfen hatte, ihr ant-
wortete: „Danke, Herr Oberst!“ Seitdem fiel ihnen vieles
auf, ihre männlich klingende Sprache, ihr Gang, ihre Klei-
dung, die stets in einem seltsamen langen Rock und
einem Jakett bestand. Erst, als die Leiterin der
Schule plötzlich starb, wurde der Verdacht zur Ge-
wissheit. Man fand in der Wohnung der Lehrerin, die
sonst niemand betreten hatte, da sie sehr zurückgezogen
lebte, sehr viele Gebrauchsgegenstände eines Mannes, vie z. B.
Rasierzeuge, halbvolle und leere Zigarrenkisten, Tabakpfeifen
und vieles andere. Und aus den Schriftstücken und Nachlass-
*) L’instinct se.\uel et ses manifestations morbides. Au double poinb
de la Jurisprudence et de la Psychiatrie. Pariß 1904. p. 27.
413
papieren, die jetzt an die Oeffentlichkeit kamen, ging auch der
angebliche Grund der seltsamen Lebensweise dieses Mannes her-
vor. Er benutzte die Verkleidung als Schutz gegen polizei-
liche Verfolgungen. Er war nämlich vor vielen Jahren wegen
politischer Vergehen zu schwerer Zwangsarbeit verurteilt
worden, entfloh auf demi Transporte, und da er sich nur
einen Frauenpass verschaffen konnte, lebte er als Weib und
führte diese kühne Idee während seines ganzen
Av eiteren Lebens mit Glück durch.
Die „Grenzboten“ (Leipzig, v. 22. März 1906) enthielten
eine längere Abhandlung von Ch. Freiherrn v. Fa-
hr i c e , welche den Titel „Eine unheimliche Per-
sönlichkeit“ führt, und über einen unter dem Namen
eines Fräulein Henriette- Jenny Savalette de Langes lebenden
Abenteurer berichtet, „der sein keckes und geschicktes Spiel mit
den höchsten Kreisen der Aristokratie trieb. Er hatte sich
in jene exklusiven Sphären einzudrängen und darin b i s z u
seinemTode zu erhalten gewusst. Zweifel an seinem Ge-
schlechts waren, obwohl einige um den richtigen Tatbestand
gewusst haben dürften, nie laut geworden, verstand es doch
Henriette- Jenny, (seinen wahren Namen gibt der Autor des
bezeichneten Aufsatzes nicht), meisterhaft die Gewohnheiten
eines alten Fräuleins zur Schau zu tragen, auch soll er
Spitzenhauben, Häkel- und Tapisseriearbeiten mit Geschmack
verfertigt haben, seine Küche war berühmt und seine Koch-
rezepte fanden viel Beifall. In Haltung, Sprache, Geberden
und Gewohnheiten soll er gänzlich zum Weibe geworden
sein, doch nannten ihn die Kinder der gräflich S. R. 'sehen
Familie, in der er oder sie viel verkehrte, „tante Barbe“,
weil sie das Gesicht der „Tante“ beim Küssen so rauh
fanden.“ Die Entdeckung, dass Henriette-Jenny ein Mann,
ward erst nach ihrem Tode durch den Gerichtsarzt
gemacht. Als dann an dem Hause, dass das angebliche Fräu-
lein Savalette de Langes in Versailles bewohnt hatte,
ein Schild angebracht wurde, auf dem stand: „Zu ver-
kaufen wegen Todesfalles des Mannes, der zu seinen Leb-
zeiten Mademoiselle Henriette-Jeanne Savalette de Langes
hiess“, tauchte die Vermutung auf, das geheimnis-
414
volle Weib öei niemand, anders gewesen, als Ludwig XVII.,
der arme Dauphin von Frankreich, an dessen Sterben im
Temple schon damals viele nicht glaubten.*)
lieber eine bei der Aufnahme in die Irrenanstalt fest-
gestellte Geschlechtsverkleidung eines Mannes berichtete
man im März 1903 aus Budapest: „Vor einigen Jahren wurde
bei der königlichen Oper eine junge Tänzerin aufgenommen,
die sich bald ob ihrer Anmut und Bescheidenheit allgemeine
Sympathien erwarb. Die Tänzerin zeigte vor wenigen Tagen
Spuren von Geistesstörung und musste deshalb in die
Leopoldifelder Irrenanstalt gebracht werden. Bei der Unter-
suchung durch Professor Salgo stellte es sich heraus, dass
die junge Tänzerin männlichen Geschlechts sei. Die Anzeige
über den Vorfall wurde an die Behörden erstattet.“
Selbstmörder in Geschlechts Verkleidung.
Es stimmt mit unserer obigen Annahme, dass transves-
titische Frauen zur Durchführung ihrer Rolle eine grössere
Energie zu besitzen scheinen, als zur W^eibvortäuschung
neigende Männer, überein, dass, soweit sich dies durch die
bisherigen Beobachtungen eruieren lässt, diese relativ
häufiger ihrem Leben ein Ende bereiten, als jene. Von
Selbstmördern in Frauenkleidern habe ich eine ganze Anzahl
ermitteln können, während ich von Selbstmörderinnen in
Männerkleidern nur ein Beispiel anführen kann. In Königs-
berg i. Pr. erhängte sich vor einigen Jahren in eleganter
Prauentoilette der durch seine Kunstsammlungen weitbekannte
Grossgrundbesitzer und Millionär v. F., der in glücklicher
Ehe lebte. Auf der Insel Wight wurde vor nicht langer Zeit
eine weiblich gekleidete Leiche angeschwemmt, die sich als
die eines vermissten angesehenen Londoner Advokaten erwies.
Wie das Berl. T. vom 19. April 04 mitteilt, führte eine
Leichenschau in Staten Island zu einer merkwürdigen Ent-
•) Vgl. zu diesem Fall auch das Feuilleton von Dr. A. v. Wilke:
„Das Mannweib von Versailles, ein Rätsel“ im Berl. Tagebl. 1906, Nr. 438.
415
deckung. „Ein Kapitän Tweed, der lange Jahre als
Kapitän den Atlantischen Ozean durchkreuzt hatte, war in
ein Seemannsheim aufgenommen worden. Kapitän Tweed
schien schwermütig geworden zu sein, denn er verkehrte mit
den anderen Insassen des Heims nicht und wurde schliesslich
ernstlich krank. Am Montag fand man seine Leiche m i t
durchschnittenem Halse. Es war nicht daran zu
zweifeln, dass der Lebensmüde sich selbst entleibt
hatte. Als der Arzt die für die Leichenschau vorgeschriebene
Untersuchung vornahm, entdeckte er, dass Kapitän Tweed
eine Frau war. Man hatte sich zwar häufig über die voll-
ständige Bartlosigkeit des Kapitäns gewundert, aber niemals
einen derartigen Verdacht geschöpft.“
Am 27. Mai 1891 wurde in Berlin gegenüber dem Hause
Waterloo-Ufer 17 aus dem Landwehrkanal ein Mann in
Frauenkleidern aufgefischt, dessen Identität nicht festgestellt
worden konnte. „Der Tote, ein kräftiger Mann in der Mitte
der dreissiger Jahre, mit einem leichten Anhauch von blondem
Schnurr bärtchen, war vollständig wie eine Dame gekleidet, an
seinen Fingern befanden sich eine Anzahl zierlicher
Ringe, welche sich jedoch später zumeist als unecht er-
wiesen. Unter den Ringen befand sich einer mit blauem
Stein, ein Trauring, gez. 0. J., ein silberner, glatter Ring,
gez. M. S., ein ähnlicher Ring und ein unechter Trauring
ohne Zeichen. Ein weisses Taschentuch wies die Zeichen
H. J. 7 auf.“
Unter eigenartigen Umständen hat ein von Dortmund
nach Bochum zugereister junger Mann in einer dortigen Gast-
wirtschaft am 5. Nov. 1903 Selbstmord verübt. Als der
Fremde am IMorgen nicht zum Vorschein kam, wurde sein
Zimmer gewultsam geöffnet. Den Eintretenden bot sich nun
ein merkwürdiger Anblick dar. Auf seinem Bette hin-
gestreckt. angetan mit einem weissen Braut-
kleid und Schleier, auf dem Haupte einen
Myrthenkranz, fand man den jungen Mann
a 1 s L e i c h e a u f. Er hatte sich eine Revolverkugel durch
die Brust gejagt. Bei der Leiche fand man 2 Zettel, von
dem der eine die Worte enthält: Liebe Frau B. . . .! während
416
der Lebensmüde auf dem zweiten Zettel bittet, i h n i m
Brautstaat beerdigen zu lassen. Der Tote
wurde später als der 32jährige Arbeiter Pompluhn aus Gerez
im Kreise Köslin rekognosziert.
Einen weiteren Fall, über den vor kurzem die Berliner
Zeitungen berichteten, hatte ich durch die Güte des Chef-
arztes der inneren Abteilung des Urbankrankenhauses näher
zu verfolgen Gelegenheit. Die Notiz der Zeitungskorrespon-
denz lautete; „Ueber eine geheimnisvolle Selbstmordaffaire
wird uns aus der Friedrichstadt berichtet. In einem Hotel
in der Schützenstrasse dicht an der Friedrichstrasse stieg
gestern nachmittag eine junge, elegant gekleidete Dame ab.
Sie liess sich ein teures Zimmer geben und wünschte nicht
gestört zu werden. Einige Zeit darauf wurde das Dienst-
personal durch ein seltsames Geräusch, das aus dem Zimmer
des neuangekommenen Gastes drang, aufmerksam gemacht.
Man öffnete schliesslich die Tür und fand nun das angebliche
Mädchen im Blute schwimmend auf dem Erdboden vor. Auf
dem Tisch lag ein scharfes Messer, mit dem die Lebensmüde
die Pulsadern der rechten Hand aufgeschnitten hatte. Es
wurde dann die überraschende Entdeckung gemacht, dass sich
hinter der eleganten Dame nicht ein junges Mädchen, son-
dern eine männliche Person, der siebzehn Jahre alte P., der
bei seinen Eltern in Spandau wohnte, verbarg. Auf dem
Tisch wurde ein Abschiedsbrief des jungen Lebensmüden auf-
gefunden, in dem P. schreibt, dass er sich in den letzten
Tagen seines Lebens wirklich als Mensch gefühlt und die
schönen Seiten des Daseins durchkostet habe. In bedenk-
lichem Zustande wurde der jugendliche Selbstmörder nach dem
Krankenhause am Urban gebracht.“
Als ich P. am dritten Tage nach seiner Einlieferung be-
suchte, war er kurz zuvor aus der Bewusstlosigkeit und Ver-
wirrtheit, die infolge des schweren Blutverlustes eingetreten
war, zu sich gekommen. Er war vollkommen klar und freute
sich, als ich ihn auf die heile Sonne aufmerksam machte, die
in sein Krankenzimmer strahlte, darüber, dass er mit dem
Leben davongekommen war.
Ich fand einen sehr blassen, seinem Alter von 17 Jahren
417
ziemlich entsprechend aussehenden jungen Menschen mit feinen,
etwas femininen Gesichtszügen, zarter Haut und weichen
Haaren. Allmählich gelang es mir, sein Vertrauen Zu ge-
winnen. Er erzählte dann folgendes: Seit früher Jugend
hätte er an weiblicher Kleidung grossen Gefallen gehabt.
Nachdem er vor einigen Jahren auf einer Berliner VarietA
Bühne einen als Frau auf tretenden Mann gesehen hatte, sei
in ihm die immer stärker werdende Sehnsucht erwacht, auch
als Weib im Zirkus oder Spezialitäten-Theater aufzutreten.
Seine Eltern — der Vater hat eine Pantinenfabrik, die
l\Iutter ist Schneiderin — hätten diesen Wunsch, der ihn im
Wachen und Träumen verfolgte, anfangs nicht ernst ge-
nommen und ihn dann, als er immer wieder damit kam,
energisch zurückgewiesen; sie hätten ihn dann bei einem
Maler in die Lehre gegeben. Trotzdem sein Meister gut sei,
fühle er sich doch nicht glücklich, weil er immer seine männ-
liche Kleidung tragen müsse. Kürzlich las er in einer Ar-
tisten-Zeitung, dass ein Mädchen in Hamburg, die als Mann
auftreten wollte, für London einen Partner suche, der eine
weibliche Rolle übernehmen solle. Er hätte sich darauf ge-
meldet und seinen Eltern 300 Mark entwendet, um selbst
nach Hamburg zu fahren, wo er sich zunächst von dem
Gelde Frauenkleider gekauft habe. Aus dem Engagement sei
nichts geworden, da der Geliebte des Mädchens, ein Graf,
darauf bestand, dass sie keinen männlichen Partner nehme.
Seine Barmittel seien bald erschöpft gewesen. Er hätte sich
von Hamburg nach Stettin und von da nach Berlin begeben,
immer in Frauenkleidern, und sei nirgends als Mann erkannt
worden, weder auf der Eisenbahn, wo er im Frauenabteil
fuhr, noch in den Hotels, wo er sich als Selma Brügge ein-
schrmb. Da er sich nicht zu seinen Eltern zurückzukehren
getraute und diese ihm auch nicht in dem Wunsche nachgeben
wollten, ohne dessen Erfüllung sein Leben für ihn nur eine
geringe Bedeutung habe, hätte er beschlossen, sich die Puls-
adern aufzuschneiden. Auf Befragen erzählte er weiter, dass
er eine Braut, Emmy Sch., habe, mit der er schon seit einem
Jahre gelegentlich auch intim verkehre; er liebe sie sehr, wie er
sich überhaupt zu dunkelhaarigen jungen Mädchen hingezogen
H i r 8 c h f e 1 d , Die Transvestiten. 27
418
fühle. Er hätte beabsichtigt, das Mädchen später zu heiraten,
zumal seine Eltern ihr Verhältnis billigten. Neigung zu
Männern hätte er nie verspürt, könnte es sich auch nicht
vorstellen, dass das je möglich wäre; er habe zwar einen
sehr guten Freund, den er veranlasst hätte, mit ihm, und
zwar auch in Frauenkleidern, Maskenbälle zu besuchen; aber
der sei nur sein guter Kamerad und seine Braut liebe er ganz
anders. Sehr unangenehm sei es ihm gewesen, als er
merkte, dass sein Schnurrbart zu wachsen begann; er hätte
schon verschiedene Enthaarungsmittel angewandt. Seine
Stimme, die allerdings ziemlich hoch ist, brauche er beim
Auftreten als Dame (er habe sich schon oft heimlich darin
geübt) nicht verändern.
Ich Hess mir auch die Eltern des jungen lebensmüden
Mannes kommen, die seine Au.ssagen teils bestätigten, teils
ergänzten. Beide Eltern sind gesund, Willy ist ihr einziges
Kind, zwei Kinder sind früh gestorben. Die Mutter erzählte,
dass Willy schon als Kind gesagt hätte, er wolle kein Junge
sein und als er den ersten Knabenanzug bekam, habe er "viel
geweint. Er habe sich immer bei ihr in der Schneiderstube
zu schaffen gemacht, besonders an der Nähmaschine, die er
vollkommen handhaben könne; sie habe ihm schon als Kind
oft verboten, sich nicht immer die Frauenkleider anzuhalten.
Sein Hauptvergnügen waren immer Puppen und Puppen-
kleider, auch hätte er gern gestrickt und vor allem Hüte
garniert; gespielt habe er bis zu seiner Einsegnung nur mit
Mädchen. Die Mutter hatte dem allen keine Bedeutung bei-
gelegt. Der Vater sagt, dass ihm der Junge immer sehr
.phantastisch“ vorgekommen sei, der Meister sei mit ihm
zufrieden, er male mit Vorliebe „recht romantische Bilder“
und vor allem Damengestalten. Er sei leicht aufgeregt, habe
viel im Schlaf gesprochen und oft über Kopfschmerz ge-
klagt. Beide Eltern sagten, dass er ein recht braves, folg-
sames Kind gewesen sei, von dem sie nie erwartet hätten,
dass es ihnen „das antun würde“; sie hätten doch nur sein
Bestes gewollt, als sie ihn das "^vlalerhandwerk ergreifen
liessen und ihm die „dummen Gedanken“, Damenkomiker
werden zu wollen, ausgeredet hätten. Sie sähen jetzt aller-
419
dings ein, dass sie schliesslich seinem Drängen doch werden
nachgeben müssen.
Es ist natürlich nicht immer der Fall, dass transvesti-
tisch veranlagte Selbstmörder sich direkt in der Tracht
des anderen Geschlechts töten. Am 1. März 05 ging folgende
Mitteilung durch die Berliner Presse: „Erschossen hat sich
gelegentlich eines Besuches bei Verwandten der 18 Jahre alte
Handlungsgehilfe Willibald Grothe, der Sohn einer Offiziers-
witwe aus Halberstadt. Der junge Mann hatte schon vor
etwa Jahresfrist seine Heimat verlassen. Damals war er
nach Berlin gekommen, trieb sich in Frauenklei-
dern umher und wurde aufgegriffen. Jetzt ist er wiederum
seit acht Tagen unterwegs und kam am Montag nachmittag
bei Verwandten in der Mariendorfer Strasse 16 an. Seine
Tante empfing ihn freundlich, liess aber einen leisen Vorwurf
durchklingen. Darauf suchte der junge Grothe einen ent-
legenen Ort auf, von wo alsbald zwei Schüsse ertönten. Er hatte
sich mit einem Revolver in die rechte Schläfe geschossen.“
lieber den Selbstmord einer als Zählkellner verkleideten
1"' r a u wird am 19. Februar 09 aus Czernowitz berichtet:
Gestern ist hier der Oberkellner eines der ersten Restau-
rants, der sich Michael Semeniuk nannte, gestorben. Diens-
tag mietete er ein Zimmer beim Hausverwalter Sturm in der
Rotkirchgasse, wo er gestern schwer erkrankte. Der herbei-
gerufene Arzt wollte eine Untersuchung vornehmen, doch
der Patient gab dies nicht zu. Dem Arzt kam dieses Ver-
halten um so merkwürdiger vor, als Semeniuks Zustand
höchst besorgniserregend war. Der Arzt setzte nunmehr das
Thermometer an, um die Temperatur zu bestimmen. Bei
dieser Gelegenheit nahm er wahr, dass Semeniuks Körperbil-
dung weiblich sei. Ohne eine Diagnose festgestellt zu haben,
ging der Arzt fort. Am Morgen wurde ihm mitgeteilt, dass
der Patient gestorben sei. Er begab sich nunmehr ins Sterbe-
gemach und konstatierte mit zweifelloser Bestimmtheit, dass
Michael Semeniuk, der ungefähr 26 Jahre zählte, ein Weib
sei, das seit zwölf Jahren in Czernowitz Männer-
kleider trug und überall als Zählkellner bekannt war. Die
Todesursache war Vergiftung.
27*
420
Anlässe der G e s c h 1 e c h t s e u 1 1 a r v u n g.
Es ist recht bemerkenswert, dass alle diese Personen
selbst dem Arzt gegenüber so grosse Zurück-
haltung zeigen und schwer dazu zu bewegen sind. ihm
über ihr zur Verkleidung führendes Seelenleben Aufschluss zu
geben. Wenn es sich nicht, wie in den geschilderten Fällen
um sehr schwere Krankheiten oder plötzliche Unglücksfälle
handelt, pflegen sie. falls sich die Xotweydigkeit ergibt,
krankheitshalber einen Arzt zu konsultieren, vorher sorgsam
alles in der Kleidung namentlich auch in der Unterkleidung
zu entfernen. was mit ihrem eigentlichen Geschlecht in
Widerspruch steht. Der Grund ist nicht nur die oben er-
wähnte Schamhaftigkeit, sondern der Umstand, dass sie ihre
Neigung und deren Befolgung selbst mehr für etwas sehr
Sonderbares als für etwas Krankhaftes erachten und ausser-
dem glauben — bisher auch wohl nicht ganz ohne Ursache
— dass auch der Arzt ihnen nicht das Verständnis für ihre
Eigenart entgegenbringen wird, das für die richtige Beur-
teilung, namentlich ihrer nervösen und psychischen Be-
schwerden unerlässlich ist. Durch dieses mangelnde Vertrauen
erklärt es sich wohl auch, dass wir selbst in der engeren
Fachliteratur bisher so wenige Schilderungen und Fälle von
reinem Transvestitismus haben. Unter den zahlreichen
Lebensbeschreibungen von Moll finden sich zwar eine Reihe von
Beispielen, in denen die Homosexualität mit Effemination
und Verkleidungstrieb vergesellschaftet ist. aber kein in das
Spezialgebiet dieser Monographie gehöriger Fall. Auf
die von Krafft-Ebing und J. Bloch besprochenen Biographieen
ging ich bereits im vorigen Kapitel*) ein. Ganz beiläufig
erwähnt Prof. Cesare Taruffi,**) dass er sich aus seiner
Studentenzeit des Falles eines Prozessrichters erinnere, der.
wenn er in seinem Hause allein war. sich vie eine elegante
Frau kleidete. Eine gleichfalls nur kurze aber recht inter-
*) pag. 116 ff. und 238 ff.
**) Taruffi: Hermaphrodismus und Zeugungsfähigkeit. Deutsch v. Dr.
Teuscher. 1903 bei Barsdorf. Berlin, pag. 197.
essante Schilderung findet sich hei F o r e 1. Aus der Be-
schreibung ist leider nicht klar ersichtlich, ob der Be-
treffende sich tatsächlich für ein Mädchen hält oder nur
den intensiven Drang hat, ein solches zu sein — ein für
die Differentialdiagnose entscheidender Punkt. Der Fall, den
Forel selbst als „eine rein psychische Umkehrung der sexu-
ellen Persönlichkeit, oder wenn man will, als rein psy-
chischen Hermaphroditismus bei sexueller Anästhesie“ be-
zeichnet, lautet;
,,A. M., 22 Jahre alt, Dorfbewohner, Sohn eines Trinkers,
hat eine schwachsinnige Schwester. Von jeher zart, aber
sehr intelligent und geweckt, mit vollständig normal
gebauten männlichen Geschlechtsorganen, die sich auch zur
Pubertätzeit durchaus normal entwickelten, fühlt ersieh
V 0 11 K i n d h e i t an als Mädchen. Er hasst den
Umgang mit Knaben ebenso wie jede männliche Arbeit, be-
schäftigt sich dagegen leidenschaftlich mit Kochen, Nähen,
Flicken, Waschen, Bügeln, Sticken, überhaupt mit weib-
lichen Hausarbeiten. Ein unwiderstehliche!' Drang treibt ihn
dazu, Weiberkleider anzuziehen. Hohn und Strafen nützen
nichts. Er behauptet einfach, er sei ein Mäd-
chen und wolle einen weiblichen Beruf an-
nehme n. Der Versuch, ihn an einem grosseren Ort männ-
lich zu beschäftigen, scheiterte vollständig. Sein weibliches
Benehmen wurde so verdächtig, dass die Polizei ihn f ü r
ein als Mann verkleidetes Weib hielt und ihn
mit Verhaftung bedrohte. Gezwungen, Männerkleider anzu-
ziehen. zieht er unter denselben weibliche Unterkleider, so-
gar ein Korsett an."
Forel hat den Fall genau untersucht. Er schreibt: ..Das In-
teressante dabei ist, dass A. M. sexuell vollständig anästhe-
tisch ist. Alles, was mit dem Geschlcchtstrieb zusammenhängt,
ist ihm ein Greuel. Der Gedanke an den sexuellen Umgang
mit Männern, die er fürchtet, ist ihm womöglich noch
schrecklicher, als derjenige an den nor-
malen Beischlaf mit Frauen. Er hat niemals
Erektionen, obwohl, wie gesagt, die Hoden und der Penis
vollständig normal entwickelt sind. Seine Stimme ist aller-
422
dings eine hohe, und sein ganzes Wesen erinnert an das
eines Eunuchen. Es handelt sich hier offenbar um eine sexu-
elle Anästhesie verbunden mit rein psychischer Inversion der
sexuellen Irradiationen des Ichs. Dieser sehr lehrreiche Fall
zeigt, wie die psycho-sexuelle Persönlich-
keit unabhängig von den Geschlechtsor-
ganen, rein im Gehirn, hereditär prädeterminiert sein und
sogar ohne jedwede sexuelle Empfindung und ohne jeden
Sexualtrieb funktionieren kann.“
Die dritthäufigste Gelegenheitsursache, bei der ausser in
Kriminal- und Krankheitsfällen die Verkleidung des Ge-
schlechts zutage tritt, wird durch den Trunk gegeben. Es
kommt von Zeit zu Zeit bald hier, bald dort vor, dass eine
im Rausch aufgegriffene Person sich als weiblich verkleideter
Mann oder männlich verkleidete Frau erweist, und zwar
scheinen zu dieser Kategorie beide Geschlechter ein gleich
grosses Kontingent zu liefern. Auch hier noch einige Bei-
spiele. Im Berliner Polizeibericht vom 12. Oktober 1900
heisst es i
^Ein Mann in Frauenkleidung wurde in der letzten Nacht
um 3 Uhr vor dem Hause Luisenstrasse 14 sinnlosbe-
trunken aufgefunden. Die vermeintliche Frauensperson,
die langes, blondes Haar hatte, und einen grossen Federhut
trug, wurde von einem Schutzmann und einem Wächter in
die benachbarte Charite gebracht. Als man sie hier betten
wollte, stellte sich heraus, dass man es mit einem Mann
zu tun hatte. Der Betrunkene wurde nun nach dem Ge-
wahrsam des Polizeipräsidiums gebracht.“
Die Geraer Zeitung schreibt im Januar 1903: „Am Sil-
vesterabend gegen 7 Uhr erregte in Altenburg unterm Schloss
ein Frauenzimmer in "Männerkleidern berechtigtes Aufsehen
und Aergernis, die total betrunken war. Ein hinzugerufener
Schutzmann brachte das Frauenzimmer in sicheren Gewahr-
sam.“
In Mount Vernon, einer Vorstadt von New-York, wurde
im September 1904 ein Individuum, das unter dem Namen
Emma mehrere Jahre lang Köchin beim Präsidenten Roose-
velt war, vom Polizeirichter zu 4 Monaten Gefängnis ver-
423
urteilt. „Emma Becker ist schon etwa 60 Jahre alt und
trotzdem noch immer nicht von der Leidenschaft kuriert, sich
gelegentlich zu betrinken. Nachdem sie in einer AVirtschaft
durch den Rausch völlig bewusstlos geworden war, ergab die
Untersuchung der auf der Polizei eingelieierten Person, dass
Emma kein Frauenzimmer, sondern ein Alann war. Bei der
Untersuchung des Falles stellte sich heraus, dass Becker
in seiner Jugend als Knabe erzogen wuirde. Er gab an,
dass sein hohes Organ dazu führte, dass man ihn immer
damit neckte, er müsse wohl ein verkleidetes Frauenzimmer
sein. Das bestimmte ihn schliesslich zu seiner Umwandlung
in Emma, der jetzt die Polizei ein etwas rigoroses Ende
bereitet hat. Emma B. ist in jungen Jahren von Deutsch-
land eingewandert.“
„Am 22. Juni 1906 bemerkte ein Londoner Schutzmann
unweit einer Eisenbahnstation im Westen eine fashionabel ange-
zogene augenscheinlich angetrunkene Dame, deren auffälliges Be-
nehmen ihn veranlasste, an sie heranzutreten und ' sie zu
ersuchen, sich nach Hause zu begeben. Die Dame anwortete
mit rauher Stimme, wobei sie sich einer nichts weniger als
salonfähigen Sprache bediente. Der Schutzmann drohte
ihr mit Verhaftung und erhielt als Antwort einen Faust-
schlag ins Gesicht; er versuchte dann die Dame zu fassen,
die ihn aber alsbald mit einem neuen Schlage zu Boden
streckte. Andere Schutzleute kamen herbeigeeilt und ver-
suchten, sich der betrunkenen Dame zu versichern, die aber
alle Versuche erfolgreich abwehrte und sich durch den Bei-
fallsjubel einer rasch zusammengeströmten Alenschenmenge in
ihrem AViderstaiide ermutigt sah. Zwei Polizisten wurden
mit blutigen Nasen und geschwollenen Augen ausser Ge-
fecht gesetzt, und es mussten schliesslich sieben Schutzleute
in Aktion treten, um die Dame zu überwältigen und nach
der Polizeiwache zu bringen. In dem Kampfe hatte sie ihr
Haupthaar, eine schöne, goldhaarige Perücke, verloren, und
auch ihr Seidenkleid war in Stücke gerissen worden, wobei
es sich herausstellte, dass man es nicht mit einem Mitglied
des zarten Geschlechts, sondern mit einem herkulisch ge-
bauten Manne zu tun hatte. Es war ein Matrose, der von
424
seinem Kriegsschiff auf einige Tage beurlaubt, nach London
gekommen war. um seinem Vergnügen nachzugehen, das ihm
durch >iie dreimonatige Zwangshaft, zu der er jetzt wegen
Widerstands und Körperverletzung verurteilt wurde, teuer zu
stehen gekommen ist.“
Uebrigens lässt schon in einem alten englischen Lustspiel
(aus d. J. 1697) „the provoked wife“ John Vonbrugh
einen betrunkenen Mann Sir John Brüte in Frauenkleidern
auftreten. Von den Polizeiwächtern ergriffen und vor den
Friedensrichter gebracht, schildert er das Leben seiner
Frau, als ob es sein eigenes wäre in sehr amüsanter Weise.
Alle anderen Gründe der Geschlechts ent deckung treten
hinter den genannten Veranlassungen weit zurück. Verhält-
nismässig selten kommen Denunziationen vor. Vor längerer
Zeit erstattete in einer kleinen englischen Stadt eine Zimmer-
vermieterin bei der Polizei Anzeige; sie vermute, dass ein
seit mehreren Jahren bei ihr wohnendes Mädchen ein Mann
sei und zwar schlösse sie das aus ihrer Wäsche, die ihr
in negativer Hinsicht schon lange zu denken gäbe; tatsäch-
lich stellte sich dieser Verdacht als begründet heraus.
Ebenfalls in England trug sich der Fall zu, dass eine als
Mann verkleidete Frau sich selbst denunzierte, um sich aus
Erpresserhänden zu befreien. Die seltsame Lebensgeschichte
dieser Frau — sie hiess Mary East — erregte in London
in der Mitte des 18. Jahrhunderts grosses Aufsehen. Sie
hatte mit 16 Jahren einen jungen Mann geheiratet, der sich
als schwerer Verbrecher erwies und gehängt wurde. Seitdem
wollte sie „nichts mehr von den ^lännern wissen“; sie schloss
sich an eine Freundin an und beide kamen eines Tages über-
ein, als Mann und Frau zusammenzuleben. „Sie losten, wer
von ihnen die Rolle des Gatten übernehmen sollte, und da
das Los Mary East traf, nahm sie sofort Männerkleidung
an und die Heirat wurde wie üblich gefeiert. Das Paar
lebte sehr glücklich zusammen, und da sie in einem
Rechtsstreit zehn Tausend Kronen gewannen, wagten sie
es, ein Gasthaus zu begründen. Dieses gedieh unter
ihrer Leitung sehr gut. Erst nach dreissig Jahren wurde „die
Frau“ krank und starb. In dieser Zeit brauchte eine
425
skrupellose Frau, die das Paar in seiner Jugend gekannt
hatte, ihre Kenntnis, um von dem „Gatten" viel Geld zu
erpressen. Gegen die Erpresserin wurde ein A’’ erfahren an-
geordnet, in dessen Verlauf die erwähnten Einzelheiten ans
Licht kamen und grosses Aufsehen erregten." Mary East,
deren Männername James How war, starb im Jahre 1781 im
Alter von 64 Jahren.
Auf eigentümliche Weise wurde folgender Fall entdeckt:
„Auf Grund der deponierten Aussagen Dr. Toeppens wurde
in St. Louis die Verhaftung des Schriftsetzers Johann Burgers
angeordnet. Burger war vor zwei Jahren mit einem jüngeren
Alädchen Hedwig Lutze aus Leipzig nach St. Louis einge-
wandert und hatte Stellung als Setzer in der Druckerei des
deutschen Blattes: „Die Tribüne“ genommen. Er hatte sich
mit seiner angeblichen Stiefschwester, für die er Hedwig
Lutze ausgab, bei dem Juwelier Gammater, einem Berner
Eingewanderten, eingemietet und alsbald mit der Tochter
seines Hauswirtes, Martha, ein Liebesverhältnis begonnen.
Gammater, der die Leidenschaft seiner Tochter für Burger
von Tag zu Tag wachsen sah. holte bei dem früheren Brot-
herrn desselben, einem der grössten Drucker Leipzigs, Er-
kundigungen ein. In der betreffenden Druckerei war niemals
ein Johann Burger beschäftigt gewesen. Wohl aber war an
dem, durch das Datum des Zeugnisses ersichtlichen Tage
eine Setzerin Anna Mattersteig entlassen worden. Die-
selbe war in Begleitung eines Mädchens Hedwig Lutze
aus Leipzig nach Amerika ausgewandert und hatte
bereits in Leipzig wiederholt bedauert, dass sie kein Mann
sei, drüben aber ganz gewiss nur Alänner-
kleider tragen werde. Anna !Mattersteig sei am
26. Dezember 1863 in Sellerhausen geboren und von 1880 —
1893 in der Druckerei beschäftigt gewesen. Diese Auskunft
liess keinen Zweifel darüber, dass Anna Mattersteig und
Johann Burger ein und dieselbe Person sei. Vor Gericht gab
Anna Mattersteig an, sie sei sich keines Unrechtes bewusst.
Sie fühle, dass sie ein Mann sei und nur
durch einen Irrtum der Natur sei sie als
Weib zur Welt gekommen. Einen solchen Irrtum
426
aber anzuerkennen und gar noch weiter danach zu leben,
fiele ihr garnicht ein. Glaube man, dass sie sich eines Ver-
gehens schuldig gemacht habe, so nehme sie gerne jede Strafe
an, einem Verbote Männerkleidung zu tragen, würde sie aber
nie nachkommen. Da müsse man sie schon zeitlebens ein-
sperren." (Jhb. II. p. 452.)
Mit einem höchst sonderbaren Ansuchen wandte sich im
Jahre 1903 ein russischer Bauer aus dem Kreise Kologriw
an die Kostromatische Gouvernements-Medizinalverwaltung.
Er zeigte an, dass seine Frau ein Mann sei und verlangte,
dass sie als solcher erklärt wmrden solle. Wie die Zeitung
„Russkoje Slowo“ berichtet, glich die vor die Behörde ge-
ladene Frau tatsächlich einem Manne: „sie trug Männer-
hosen, ein Männerhemd, hohe Wasserstiefel und war auch
wie ein Mann frisiert. Nach der ärztlichen Besichtigung der
jungen, einem hübschen Jüngling gleichenden Frau, ver-
mochte die ^lediziiial-Verwaltung das Gesuch des Bauern
nicht zu erfüllen und erklärte, dass seine Frau wirklich
eine Frau sei. T'.Iit diesem Bescheid wollte sich das Bäuerlein
indessen nicht zufrieden geben und behauptete eigensinnig,
dass er es wohl am besten wissen müsse, wie es mit seiner
Frau bestellt sei. Weiter erzählte er, dass seine Frau trotz
vierjähriger Ehe kinderlos sei und. wie die Dinge lägen, auch
kinderlos bleiben werde. Des Zeugnisses bedurfte der Bauer,
wie er sagte, um beim Konsistorium eine Trennung seiner
Ehe beantragen zu können.“
Wir haben uns bereits oben über die Ehen transves-
titischer Männer und Frauen ausgesprochen. Hat ein in
dieser Weise veranlagter Ehepartner den andern Teil nicht
vorher über sich informiert, besteht er auf der Verkleidung
des Geschlechts, ist sie für ihn gar zur Vollziehung der
Cohabitation eine conditio sine qua non, so kann dem an-
dern Ehepartner, falls er sich nicht nachträglich einverstanden
erklärt, die Fortsetzung der Ehe nicht zugemutet werden.
Es kommen dann dieselben Erwägungen in Betracht, welche
bereits in dem Gutachten pag. 211 über den an Korsettfeti-
schismus leidenden Ehemann R. angestellt wurden. Ich be-
tonte aber auch schon bereits früher bei der Besprechung
427
meiner Kasuistik — und viele der hier kurz referierten sonstigen
Beispiele scheinen dies zu bestätigen. — dass die der Ge-
schlechtsverkleidung sich ergebenden Menschen oft in glück-
licher Ehe leben und zwar gilt dies sowohl für diejenigen,
die i n der Verkleidung einer Person desselben Geschlechts
als für die, die ohne solche eine Person des anderen Ge-
schlechts geheiratet haben. Beides kommt, wie wir sahen,
vor. Welchem von beiden Geschlechtern der Vorzug gegeben
wird, dürfte in erster Linie, wenn auch nicht ausschliess-
lich, von der Richtung des Geschlechtstriebes abhängen. Es
ist ungemein schwierig, sich aus den kurzen Notizen, die in
den meisten Fällen von Verkleidung an die Oeffentlichkeit
dringen, im Einzelfall ein Urteil zu bilden, wie die
Triebrichtung beschaffen ist. Können wir doch aus dem
wenigen, was bekannt wird, meist nicht einmal sicher ent-
scheiden, ob eine wirkliche transvestitische Neigung
vorliegt oder ob rein äussere Motive zur Verklei-
dung führten. Erstere ist anzunehmen. wenn die Verkleidung
ständig, sehr lange oder nach kurzen Zwischenräumen immer
wieder angelegt wird. Spielt beispielsweise ein Schau-
spieler auf der Bühne gelegentlich nach vielen
anderen auch einmal eine Frauenrolle, so ist es sehr wahr-
scheinlich, dass ihn diese lediglich als schauspielerische
Aufgabe gereizt hat, stellt er aber stets und
ausschliesslich nur Frauen dar, namentlich auch
noch heute, wo nicht mehr wie in Shakespeare’s Zeiten
den Frauen die Bühne verschlossen ist (siehe später), trägt
er auch ausserhalb des Theaters F rauenkleider, so ist der
Schluss auf wirklichen Effeminationsdrang viel wahrschein-
licher. Ebenso ist es, w'enn ein Weib in Männerkleidern
arbeitet oder Sport treibt. Geschieht dies nur bei diesen
Gelegenheiten, so braucht durchaus kein Verkleidungstrieb
vorzuliegen, dessen Annahme aber näher liegt, wenn die
Frauen, die angaben, sie tragen Männertracht, um besser
arbeiten zu können, eich auch stets ausserhalb
der genannten Tätigkeiten solcher bedienen. Für Ge-
schlechtsverkleidungs trieb spricht es ferner, wenn die von
den Verkleideten angeführten Gründe sehr wenig stichhaltig
428
oder so beschaffen sind, dass sie auf das engste mit dem
Wunsche nach Verkleidung Zusammenhängen, beispielsweise,
wenn Frauen erklären, sie hätten sich verkleidet, um Soldat
zu werden. Es soll damit keineswegs gesagt sein, dass die
Betreffenden ihre Handlungen absichtlich falsch motivieren,
meist tun sie es vollkommen unwissentlich, indem sie
sich selbst über die eigentliche Ursache nicht klar sind oder
wesentliches und unwesentliches, innere Gründe und äussere
Anlässe, die verschieden miteinander konkurrierenden aber
eng verknüpften Ideen durch einander werfen. Dass
allerdings oft auch absichtlich die Unwahrheit gesagt wird,
zeigen folgende Beispiele:
,,Ein Schutzmann in New York bemerkte bei seinem Rund-
gang, wie eine Person in Männerkleidern aus einem Restaurant
herausstürzte und um Hilfe schrie. Die Schreie hörten sich wie
die einer Frau an, und als der Schutzmann näher kam, sah
er, dass er tatsächlich eine Frau in Männerkleidern, ungefähr
27 Jahre alt, vor sich hatte. Sie wurde auf das Polizeibureau
mitgenommen, wo sich herausstellte, dass sie in dem betreffen-
den Restaurant mit einem Italiener Streit bekommen und
diesem ein Glas Bier ins Gesicht geworfen hatte, wofür ihr
dieser eine stark blutende Wunde auf der Stirn beibrachte. Auf
dem Bureau wurde dem Weib ein vollgeladener Gläufiger Re-
volver, den sie in der Tasche trug, abgenommen. Sie erzählte,
als sie nach der Ursache ihrer Verkleidung
gefragt wurde, dass sie gehofft hätte, in diesem Kostüm ihre
Schwester, die im Gefängnis sässe, befreien zu können. Die
Untersuchung hat diese Geschichte als unwahr erwiesen.
Die Frau ist vielmehr an einen 40 Jahre alten I\Iann verhei-
ratet, der sich dahin äusserte, dass seine Frau schon lange
,, wunderbare" Neigungen an den Tag gelegt hätte; sie hätte
immer den Wunsch geäussert, ein ^lann zu sein und sich als
solcher herumtreiben zu können. "M ä n n e r k 1 e i d e r
hätte sie bei jeder Gelegenheit angelegt,
und als er mit ihr darüber in Streit geraten wäre, hätte sie
ihm erklärt, sie würde ihn verlassen und dahin gehen, wo
sie leben könnte, wie sie wollte; das hätte sie denn auch
getan!“ (Mb. April 05 p. II.)
429
Auch die folgenden Angaben eines anscheinend homo-
sexuellen Mannes tragen den Stempel der Unglaubwürdigkeit
(Jhb. V, p. 1204):
„Eine merkwürdige, aber wahre Geschichte hat sich im
Südwesten Berlins zugetragen. Die dort wohnende Witwe R.
suchte eine Aufwärterin. Noch am selben Tage stellte sich ein
junges Mädchen vor, die, obwohl sie sogenannte Titusfrisur
trug, w'egen ihres angenehmen Auftretens angenommen wurde.
Sie Hess sich „Rieke“ rufen, machte alles, selbst die Wäsche,
zur vollsten Zufriedenheit und hatte nur den einen Fehler,
dass sie mit Zimmerherren der Frau R. anbändelte. So ging
das mehrere Wochen weiter, bis der eine Mieter vertraulich
erklärte, dass er bestimmt glaube, überhaupt kein Mädchen vor
sich zu haben. Ein Zufall kam der Enthüllung des Geheimnisses
zu Hilfe. „Rieke", die nicht bei Frau R. schlief, erzählte näm-
lich, dass sie zum Maskenball gehen wolle, und w'ar auf aus-
gesprochenen Wunsch bereit, sich in ihrem Kostüm zu präsen-
tieren. Als das in ziemlich leicht geschürztem Kleide geschah,
sagte man ihr auf den Kopf zu, dass sie gar kein Mädchen sei.
So war es in der Tat. Der verkappte junge Mann tat gar
nicht beleidigt, gab lachend sein Geheimnis preis und meinte,
dass er das Experiment nur unternommen habe, weil er
in seinem Berufe als^Ialer keine Arbeit
finden konnte. Natürlich wurde der Jüngling in Wei-
berkleidern sofort aus dem Dienst entlassen.
Geschlechtsverkleidung aus normalsexu-
eller Liebe und Eifersucht.
Es ist oft kaum möglich, in den nicht sorgfältig analy-
sierten Fällen aus den Erzählungen, wie sie durch die Ge-
schichte und von der Tagespresse überliefert werden, zu unter-
scheiden, ob die Verkleidung als eine Teilerscheinung ev.
Folge homosexueller Veranlagung zu gelten hat oder als das
Hauptsächliche und Primäre, zumal wenn wir berücksichtigen,
dass, wie wir sahen, bei sehr vielen Transvestiten das eigentlich
sexuelle Moment ausserordentlich stark hinter dem Geschlechts-
430
verkleidungs wünsch zurücktritt, so dass die Personen — man
erinnere sich des Forelschen Falles p. 421 — fast asexuell
erscheinen. Nicht selten allerdings liegen die Nebenumstände
so, dass über die heterose.xuelle Trieb-
richtung kaum ein Zweifel herrschen kann, so,
wenn Frauen sich als Männer verkleiden, um sich
auch während der Tagesarbeit nicht von dem geliebten
Manne trennen zu brauchen. So wurde vor einiger Zeit in
einem amerikanischen Kohlenbergwerk ein Weib entdeckt, die
an der Seite ihres Mannes die schwere Bergmannsarbeit ver-
richtete, um ständig bei ihm bleiben zu
können. In einem grossen deutschen Warenhause
befand sich längere Zeit eine Rayonchefin, die sich
durch ihren Eifer und ihr energisches Auftreten aus-
zeichnete. Sie wohnte mit einer Kollegin aus dem-
selben Warenhause zusammen. Eines Tages wollten beide
sich von einer dritten Kollegin zu einem Spaziergang abholen
lassen. Diese Besucherin fand sich aber eine Stunde früher ein,
als verabredet war. Die Folge davon war eine überraschende
Entdeckung. Die Rayonchefin war gerade beim — Rasieren.
Der Anblick der herumliegenden Requisiten liess keinerlei
Zweifel, dass sie ein Mann sei. Er hatte sich ein
anderes Geschlecht beigelegt, um mit dem andern Mäd-
chen, das er abgöttisch liebte und eifer-
süchtig bewachte, ungestört zusammen wmhnen
und arbeiten zu können. Eine recht kuriose Verkleidungsge-
Bchichte passierte vor mehreren Jahren in Lübeck. Dort war
in der vom Bahnhof in die Stadt führenden Holstenstrasse
einem Schutzmann ein sonderbares Pärchen aufgefallen, ein
Landmann und ein wie ein junger Künstler gekleideter Jüng-
ling, der sich etw'.as auffällig benahm. „Der Schutzmann ver-
mutete in dem Jüngling eine Dame in Männerkleidung, folgte
den beiden Gesellen und forderte sie, als sie in der Nähe der
Polizeihauptwache angelangt, aufi einzutreten. Hier w'urde
der Jüngling ersucht, seine Kopfbedeckung und Perücke sowie
seinen blauen Kneifer abzunehmen. Zeigte sich der Landmann
während der Einleitung zu dieser Entkleidung sehr ungehalten,
dass man seinen „Freund“, der auf der Reise nach Lübeck zu
431
ihm ins Coupe gestiegen war, so energisch anfasste, so sollte
er bald eine ungeahnte Ueberraschung erleben. Aus der Ent-
kleidung erstand niemand anders als — seine eigene Frau,
die ihrem Glemahl, der die Freuden des Weihnachts trubeis
in Lübeck allein geniessen wollte, unbekannt gefolgt war.“
Es ist dies nicht der einzige Fall, in dem eifersüchtige
und neugierige Frauen ihren Männern in Herrenklei-
dung folgten, um herauszubekommen, ob sie ihnen
treu sind, ein Motiv, das übrigens vielfach literarische
Verwendung gefunden hat. Mir ist in Berlin ein Ehe-
scheidungsfall bekannt, in dem die Gattin sich des-
selben Mittels bediente, um ihren Mann des Ehebruchs zu
überführen.
Auch bei einer Begebenheit, die sich im August 1890
in der Umgebung von Berlin zutrug — ein als Mädchen
verkleideter Mann suchte ein Mädchen, das er auf dem Tanz-
boden kennen gelernt hatte, auf offenem Felde zu vergewaltigen
— , kann wohl kaum ein Zweifel über die heterosexuelle
Natur des Verkleideten bestehen. „Beide Mädchen waren über-
eingekommen, den weiten Rückweg vom Ballokal nach Berlin
zu Fuss zurückzulegen, als plötzlich die eine die andere mit
grosser Gewalt zu Boden warf und sie zu notzüchtigen suchte.
Jetzt erst erkannte die Berlinerin zu ihrem Schrecken, dass sie
es mit einem in Frauenkleidern steckenden jungen Alanne zu
tun hatte. Sie schrie laut um Hilfe, ihr Gegner suchte ihr den
Mund zuzuhalten und nun entspann sich ein heftiger Kampf,
der wohl eine Viertelstunde dauerte. Schliesslich erschien
aus einem benachbarten Ort ein Mann mit einem Neufoimd-
länder, der das Mädchen aus den Händen des Burschen befreite,
dem sein in der Verkleidung begangenes Verbrechen teuer zu
stehen kommen wird.“
Die Liebe zu den Frauen bewog auch -den berühmten Ritter
und Minnesänger
Ulrich von Lichtenstein,
Frauenkleider anzulegen. Aus seiner von ihm selbst ver-
fassten Lebensbeschreibung: „Frauendienst oder Geschichte
und Liebe des Ritters und Sängers Ulrich von
432
Lichtensteiu",*) schildert er ausführlich, „wie er sich
zu Venedig Frauenkleider schneidern liess, 12 Röcke
und 30 Frauenermel an Hemden und drei weisse
Mäntel von Samt und einen klaren Hut mit weissen Perlen
bestreut, und wie er dazu zwei grosse und lange braune Zöpfe
gewann, die bis über den Gürtel schwenkten, dazu auch sei-
dene Handschuh. ‘‘ So ritt er in der Weise einer Königin mit
Ritterschaft durch die Lande von Venedig bis Wien und
,,neigte sich züchtiglich Gelen schönen Frauen, zu küssen ihren
rosenfarbenen i\Iund.“ Hören wir seine eigenen Worte:
..Am anderen Morgen als der Tag erschien und ich noch in
meinem Bette lag, waren wohl 200 Frauen vor meine Herberge
gekommen, um zu erfahren, wann ich in die Kirche gehn würde.
Einer meiner Knechte sah die Frauen und sprach zu mir mit
Züchten; viel liebe Fraue, ich meine euch edle Königinn, ich
weiss nicht, ob ihr wisst, alle Frauen aus der Stadt sind da-
hergekommen, ihr lieget allzulange. La ich das hörte,
legte ich schnell Kleider an meinen Leib, wie sie
ein werthes Weib wohl mit Ehren
tragen mag, ein blankes, kleines Hemde, zu Maassen
laug, daran zwei schöne Ermel waren, darnach ein
Röckel, das war klein und weiss wie ein Schwan, und einen
weissen Mantel von Sammet, darin von Gold manch schönes
Tier gewirkt war, meine Haube war auch gut, aus der meine
Zöpfe hingen, die zum Teil mit Perlen bewunden waren, mit
einem guten Risen verband ich mich, damit Niemand etwas von
mir sehn sollte, als meine Augen. Ich setzte einen Pfauenhut
auf, zween Handschuhe trug ich an meinen Händen, und so
ging ich in hohen Mute hin, wo mich mancher rote Mund mit
Gruss empfing, sie sprachen: Gott willkommen, Königinn
Venus!“
Im 12. Kapitel berichtet er: „In der Nacht hatte ich zu
Villach gut Gemach, am andern Tage hörte ich eine schöne
Messe, ich hatte wonnigliche Frauenkleider an mich gelegt,
•) Von ihm selbst beschrieben. Nach einer alten Handschrift bear-
beitet und herausgegeben von Ludwig Tieck. Stuttgart u. Tübingen in der
J. G. Cottaschen Buchhandlung 1812.
433
und so ging ich nach der Kirche, worüber mancher Mann lachte.
Nachher wollte ich mich zut zimiren, und so schaute ich alle
meine Röcke an und fand einen fremden Rock darunter. Da
sprach ich zu meinem Kämmerer: Wer hat Dir dies gegeben?
Er sprach: Fraue, das weiss ich nicht. — Das wäre eine wun-
derliche Geschieht, wenn dir einer dies Röcklein ohne dein
Wissen gegeben hätte.
Ich band das Röckel auf und fand einen Gürtel drinn, ein
Schapel und ein Heftlein, die alle drei sehr schöne waren, auch
lag ein deutscher Brief dabei. Darüber wurde ich sehr zornig,
ich sprach: glaube mir, dies Kleinod bringt Unheil! Er sprach:
liebe Fraue, lasst euer Zürnen sein, weiss ich, wer es mir gege-
ben hat, so lasst es an mein Leben gehn. Ich liess mir den
Brief schnell lesen, welcher so sprach:
Venus, viel edle Königinn,
Gruss und all den Dienst mein
Entbieth ich euch; gar sonder Wank,
Euch sollen alle Frauen wissen Dank,
Dass ihr durch unsre Würdigkeit
An euch gelegt habt Frauenkleid
Und damit ehret alle Weib,
Des wird geteuert euer Leib.
Ihr sollt von mir empfahen
Mein Kleinod sonder schmähen
Das ich zu Lieb hab euch gesandt.
Ich will euch bleiben unbekannt.“
Besonders stolz war Ulrich darauf, dass er sich
so ganz natürlich wie eine Frau bewegen
konnte. Im 17. Kapitel erzählt er; „Ich legte
schöne Kleid an und ritt im hohen Mute auf die Burg,
wo man mich willig empfing; der Wirth und seine
Hausfrau gingen mir entgegen, und viele Frauen folgten
ihnen eine Stiege herab, deren Kleider fielen manchen Fall ab
der Stiege nach dem Tritt, ihre gute Geberde, ihre sanften
Sitten, ihr minniglicher Schein thaten meinem Herzen wohl.
Da sie gegen mich kamen, wollte ich durch Zucht auch .nicht
länger stehen, ich ging ihnen entgegen, dessen lächelten alle
Frauen, dass ich es so frei anfing und Weibskleider trug und
Hirschfeld Die Transvestiten. 28
434
so schöne Zöpfe, darüber ward da viel gelacht. Der Hauswirth
sprach: Frau Königinn, seid mir willkommen. Ich neigte ihm
mit Züchten: die Frauen grüssten mich auch und ihrer einer
bot ich meinen Kuss, darüber wurde sie rosenroth, dann ging
ieh zu einer anderen, die auch vor Scham roth wurde. Die
Hausfrau nahm mich bei der Hand und führte mich in eine
schöne Kirche, eine Messe sang man Gott zu Ehren und bei
mir standen viele Frauen; ich muss gestehn, dass Gott da
nicht viel gedient ward. Fast hätte mich da das Netz der
Minne und mancher süsse Blick gefangen, der von lichten
Augen ging, und nur meine Treue wandte es ab, dass ich da
nicht von der Minne gefangen wimde, fast hätte es eine von
den Frauen gethan, ihre gute Geberde und ihr lichter Schein
brach durch meine Augen bis in den Grund meines Herzens,
und ihr rosenfarbener Mund, den ich gegen mich lachen sah
und der so süss zu mir sprach; ei, wäre mir nicht da meine
Treue zu Hilfe gekommen, so hätte sie meineSinne bezwungen.“
Und weiter fährt er fort: „So stand ich in Gedanken, wie
die wohl thun, die sich an Weib verdenken, ich wusste nicht
mehr, wo ich war, bis man das Evangelium las; da das ein
andrer Pfaffe anhub, da besann ich mich zuerst wieder. Da
man zum Opfer gehn wollte, bat ich die Hausfrau voran zu
gehn, die sprach: dessen sollt ihr mich erlassen, wie litte doch
meine Zucht, dass ich vor einer Königinn ginge? Da ging ich
zum Opfer, und nach mir manche schöne Fraue, man lachte
sehr darüber, dass ich so ganz in Frauensitte
ging und mich bewegte, mein Tritt war kaum
händebreit: wie langsam und sanfte ich ging, so kam
ich doch wieder an die Stelle, wo ich erst gestanden hatte,
da trug man das Pace her in einem Buche, das nahm ich
so, wie die Frauen tun.“
Trotzdem er Frauenkleider trug, stach er sich auf seiner
Fahrt mit mehr als 100 Rittern im Speerkampf und verstach
sie ritterlich.*) „Mancher sprach: ei! wie die Königin
*) In Kellers „Erzählungen aus altdeutschen
Handschriften“ findet sich auch die Geschichte eines Friedrich von,
Auchenfurt, dem seine Dame rerspricht, sie wolle ihn erhören und ihni ange-
hören, wenn er für sie in Wciberkleidern ohne Harnisch,
im Tomier kämpfe; er tut es und uird schwer verwundet.
435
Venus
die
Ritter niedersticht,
ich
habe
bei
meinen
Zeiten
nie
gesehen, dass Frauen
also
die
Männer
fällen
können.“ Einmal kämpfte
er
sogar
mit
einem
Ritter,
d e
r sich auch als
Weib
k 1 e i
d e t e ;
Otto von Buchawe, weit „durch Zucht und Mannheit“ bekannt.
Als sein Bote ihn forderte, erwiderte Ulrich: „Herr Bote, ich
will euch sagen, vor allen Männern bin ich Magd, und bin den
Weibern mit grossen Freuden beigelegen; ist euere Frau wirk-
lich ein Weib, so kann ich ohne Harnisch wohl ihre Huld ver-
dienen. Da sprach der Bote: so sei es denn euch bekannt,
meine Frau ist ein hochgemut her Ritter
und hat sich als ein Weib gekleidet, er ist ein minne-
begehrender Mann und hat oft sein Leben um die
minnigliche Weib gewagt. Ich sprach: wenn
eure Frauen ein Mann ist und mich durch seine
AVürdigkeit bestehen will und Weibskleid angelegt hat, so bin
ich das inniglich froh, und sein Tyost wird ihm gewährt, da
er ihn auf so schöne Weise bittet.“
Nur einem versagte Ulrich von Lichtenstein sich mit
ihm zu messen im schönen Ritterspiel, Herrn Hadmar von
Chunringe, und zwar, weil er von diesem gehört hatte, „er
minne den Mann“. Genau wie wir es von einigen Trans-
vestiten unserer Tage gehört haben, so war Ulrich, obgleich
er in Frauenkleidern ging, ein grosser Feind der Homo-
sexuellen. In seinem Vrouwen-buoch schilt er sie wie folgt:
Stät daz wol,
dass nu die man
mit ein ander daz begänt
des vogel noch tier niht willen hänt.
Und alle creatiure dunket ungehiure?
Ir wizzet wol, waz ich meine.
Ez ist so gar unreine.
Dass ich es nicht genennen tar,
Ir leben ist verfluochet gar.“
28'
43ß
Kritik der angeblichen Verkleidungs-
Tu 0 t i V e.
Es dürfte sich empfehlen, die für die Verkleidung an-
geführten äusseren Anlässe noch näher kennen zu lernen,
soweit solche überhaupt feststellbar sind oder angegeben
werden. Sie werden uns wesentliche Anhaltspunkte liefern
für die Entscheidung, wann eine rein äusserliche lilaskerade,
w'ann eine triebhafte Neigung vorliegt.
Die Motive, die uns hier entgegentreten, sind sehr
mannigfach und oft höchst eigenartig. So sollen sich früher
auf der Insel Madagaskar oft Männer als Frauen verkleidet
haben, um sich der Steuerpflicht zu ent-
ziehen, von der die w^eibliche Bevölkerung dort be-
freit ist. Zahlreiche Männer, die das verdross, liessen
sich — so berichten die Reiseschriftsteller — ihre Haare
lang wachsen, zogen Frauenkleider an, ja, sie gingen sogar
so weit, dass sie sich bei den Europäern als Kammerfrauen
verdingten. „Diese weibischen Männer nannte man „Sharim-
bary“, und vor der französischen Eroberung soll es auf Mada-
gaskar von solchen Individuen geradezu gewimmelt haben. In
neuerer Zeit kam die Behörde dahinter und machte energisch.
Front gegen diese Art der Steuerhinterziehung, und so kommt
es, dass die „Sharimbary“ viel seltener geworden sind und
sich nur noch vereinzelt und nicht ungestraft, und zwar am
meisten noch in Tananarivo zeigen.“
Gewiss mag die Annahme der französischen Regierung,
der Zweck der Verkleidung sei die Steuerhinterziehung, in
einigen Fällen zutreffen, sicherlich aber nicht in allen; haben
wir doch gesehen, wie sehr gerade auch in der mada-
gassischen Bevölkerung transvestitische Neigungen und Ge-
bräuche von jeher vorhanden waren. Es würde sich das ge-
wiss leicht erweisen, wenn man anstatt die als Frauen ver-
kleideten Männer zu bestrafen, Frauen, welche einen selb-
ständigen Erwerb haben, ebenso wie die >dänner besteuern würde.
In dem kleinen Ort Freien w' aide in Preussisch-
Schlesien lebte bis vor kurzem ein hochbetagter Mann namens
Clemens Jung, der volle 70 Jahre in Frauenkleidern gelebt
437
hatte, angeblich, um das hölzerne Stelzbein zu
verdecken, das er tragen musste, nachdem ihm in seiner
Jugend infolge eines unglücklichen Sturzes das rechte Bein am-
putiert war. Die Ortsbewohner nannten ihn die alte Clemen-
tine. Er spielte ihnen mit seiner Harmonika auf und die kleinen
Geschenke, die er dafür erhielt, reichten hin, seine bescheidenen
Lebensansprüche zu befriedigen. Auf einem Bilde, das ihn
neben seinem Spinnrocken zeigt, macht er einen durchaus weib-
lichen Eindruck; das Holzbein ist deutlich sichtbar und lässt
den Grund für sein lediges Frauenleben, an den er wohl selbst
geglaubt haben mag, nicht sehr überzeugend erscheinen;
Hosen hätten das künstliche Bein fast ebenso gut bedeckt und
hätte er wohl schwerlich dauernd auf sie verzichtet, wenn nicht
die weibliche Kleidung zugleich seiner seelischen Eigenart ent-
sprochen hätte.
Auch der Grund, den eine männlich gekleidete Künstlerin,
die oben erwähnte Caroline Hall alias Graf Cassini, für ihre
Verkleidung anführte: Bewunderung für Rosa Bon-
heur, kann nicht als stichhaltig angesehen werden. Man geht
wohl kaum fehl, wenn man annimmt, dass sie in ihrem Vorbild
sich selbst liebte oder besser die seelischen Eigenschaften, die
sie erfüllten und in ihr nach äusserer Erfüllung rangen. Sehr
viel einleuchtender ist eine Erklärung, der wir bereits wieder-
holt begegnet sind, der Wunsch, die Tracht des anderen Ge-
schlechts anzulegen, weil die des eigenen den sekundären Ge-
schlechtscharakteren des Körpers nicht entspricht. Ich habe
an früherer Stelle eine ganze Reihe von Beispielen gegeben, in
denen von Polizeibeamten Frauen für verkleidete Männer,
Männer für Frauen gehalten wurden, und will nur nochmals
kurz an jene Frau K. erinnern, die siebenmal sistiert wurde in
dem Verdacht, sie hätte sich als AVeib verkleidet. Es kann
sich in diesen Fällen um eine Kombination von körper-
licher Androgynie, Homosexualität und Transvestitismus, also
um eine Zwischenstufe zweiten, dritten und vierten Grades
handeln, es ist aber auch möglich, dass lediglich eine Zwischen-
stufe zweiten Grades, also nur weibliche Viraginität bzw.
männlicher Feminismus oder aber eine Verbindung von An-
drogynie mit Transvestitismus vorliegt.
Zu denen, die zunächst durch ihr weibliches Aussehen be-
wogen wurden, Frauenkleidung anzulegen, gehört einer der be-
rühmtesten Transvestiten aller Zeiten, der
Chevalier d’E o n.
Meine Arbeit würde unvollständig sein, wenn ich nicht dem
eigenartigen Lebenslauf dieses vielbesprochenen Mannes eine
etwas eingehendere Betrachtung widmen würde. Ich stütze mich
dabei in erster Linie auf die an Dokumenten reiche Aus-
gabe seiner Memoiren, die 1836 Frederic Gaillardet*) veran-
staltet hat.
Von seinen 83 Lebensjahren verbrachte d’Eon 49 als Mann
und 34 als Weib. Der Streit, welchem Geschlecht er in Wirk-
lichkeit angehörte, wurde jahrzehntelang mit grösster Lebhaf-
tigkeit geführt; namentlich in England wirbelte er sehr viel
Staub auf. Es wird mitgeteilt, dass die Wetten auf sein Ge-
schlecht in England mehr als 200 000 Pfund Sterling betrugen,
während von den Franzosen 80000 Pfund aus demselben Grunde
verwettet wurden. Einige behaupteten, mit grosser Bestimmtheit
zu wissen, er sei ein Mann, andere reklamierten ihn mit dem-
selben Eifer für das weibliche Geschlecht, wieder andere er-
dere erklärten ihn für einen Hermaphroditen. D’Eon wurde am
5. Oktober 1728 zu Tonnerre, einem Städtchen der Bourgogne
geboren. Wiederholt wird in seinen Biographien berichtet, dass
er in der Taufe männliche und weibliche Vornamen erhielt. So
heisst es in der ,.Biographie universelle“ von Michaud: „In den
Registern der Pfarrkirche gab man ihm die Namen Char-
lotte, Genevieve, Louise, Auguste, Andree,
Timothee“. Dies ist aber nicht richtig. Der rechte Taufschein
lautet: „Am 7. Okt. 1728 wurde getauft Charles
Genevieve, Louis, Auguste, Andre, Timothee, des Edlen Louis
d’Eon de Beaumont, Direktor der Königlichen Domainen, und
der Dame Frangoise de Chavanson, ehelicher Sohn, geboren am
*) Memoiren des Chevalier von Eon. Aus de.ssen Familienpapieren und
nach authentischen Quellen, welche in den Archiven des Ministeriums der
auswärtigen Angelegenheiten niedergelegt sind, zum erstenmale bearbeitet
und herausgegeben von FrMeric Gaillardet. Frei nach dem Französischen
von Dr. E. Brinckmeier. Braunschweig 1837, verlegt bei C. E. Meyer seu.
439
5. d. M. Pathen waren Charles Regnard, Pariamentsadvocat.
Baillif von Ausy, Dame G e n e v i e v e d’Eon, Gemahlin Herrn
Maison’s, Weinhändlers in Paris, welche auch unterzeichnet
haben.“ (Auszug aus den Registern der Pfarrkirche Notre-
Dame von Tonnerre.)
Es finden sich in diesem Taufschein nur zwei Namen mit
weiblichen Endungen; Genevieve und Timothee. Letzterer ist
gewöhnlich ein Mannesname und wird, ob männlich oder weib-
lich, gleich geschrieben. Ersterer ist an sich nicht auffallen-
der, als die Namen Marie, Sophie, Eleonore, welche vielen ka-
tholischen Männern in Frankreich gegeben wurden und noch
jetzt gegeben werden. Man kann diese Namen ausserdem
direkt von seiner Patin und Tante herleiten.
Es scheint auch nicht richtig zu sein, dass, wie manche
erzählen, er bis zu seinem 10. Jahre als Mädchen erzogen
wurde. Er soll vielmehr ein ganz munterer Junge gewesen sein.
Gaillardet bezeichnet ihn als einen rechten „Gamin“. Dagegen
heisst es bei demselben Autor: „Der Chevalier d’Eon hatte von
der Natur sehr zarte Formen erhalten. In seinem zehnten
Jahre zog ihm die Mutter gern die Kleider seiner Schwester
an; in diesem Kostüm hätte ihn jeder für ein kleines Mädchen
gehalten, so fein war seine Taille, so zart seine Hand, so klein
sein Fuss; aber unter der äusseren Form des jungen Mädchens
regte sich der junge Knabe; beider Naturen teilhaftig, besass
er männliche Kraft unter einer weiblichen Hülle. Noch im
zwanzigsten Jahre besass er alle diese Vorzüge, lange blonde
Haare, blaue, zärtliche, durchsichtige Augen, nicht gross, aber
robust, hatte er doch sehnige Kräfte. Sein Arm war äusserst
zart geblieben, seine Finger schlank und dünn; zogen sich
aber die Muskeln dieser Arme zusammen, so war seine Hand
so stark, dass man unter dieser rosigen Haut eiserne Zangen
versteckt wähnte. Seine Taille konnte man mit zwei Händen
umspannen; er zog einen Frauenhandschuh an, hatte keinen
Bart, kaum zeigte sich ein leichter Flaum um das Kinn.“ — -
Sein Geschlechtstrieb scheint noch lange Zeit nach der Reife
ein ausserordentlich geringer gewesen zu sein, besonders wird
darauf hingewiesen, dass seine „Herzensreinheit sich an
der Schwelle der Lupanare empörte“. Er selbst äussert sich
440
noch im Jahre 1771, also 43 Jahre alt, in einem Briefe an den
Grafen von Brogiie: „Es peinigt mich, dass ich noch so bin,
wie mich dieXatur geschaffen hat; und dass mein ruhiges Tem-
perament mich nie der Wollust zuJührte; dies hat meinen
Freunden in Frankreich, Russland und England den Gedanken
eingegeben, ich sei weiblichen Geschlechts.“ —
Dafür, dass d’E on homosexuell ge-
wesen sei, fehlen alle Anhaltspunkte.
Man sprach zwar einmal zu der Zeit, als er als Frau
lebte, er hätte ein Liebesverhältnis mit Beaumarchais,
dem berühmten Verfasser des „Barbier von Sevilla” und „Fi-
garos Hochzeit“, aber offenbar handelt es sich hier nur um
ein blosses Gerede der Wettenden, eine Legende, wie sie sich
begreiflicherweise um seine Person in Menge bildeten. Dagegen
spielen erotische Zuneigungen zu schönen Frauen, wie zu der
Gräfin Marie Rochefort und Milady Ferrers, vor allem zu Xa-
dege Stein und anderen in seinem Leben eine grosse Rolle.
Im Jahre 1755 finden wir ihn in Paris im Hause der Gräfin
Rochefort, einer jungen W^itwe, die zu ihrem „Benjamin“, wie
sie ihn nannte, eine mehr als mütterliche Zuneigung gefasst
hatte. Er selbst schreibt damals in seiner Biographie; „Die
weissen zarten Finger der sorglosen Gräfin spielten in den
blonden Locken meines weichen Haares, als ich plötzlich er-
bebte und bei der Berührung dieser weiblichen Hand mich eine
mir bis dahin unbekannte Empfindung ergriff.“ Sie führte ihn
anlässlich eines Kostümfestes in Versailles bei Hofe ein. Auf
Anraten der Freunde der Gräfin erscheint der feminine Jüng-
ling in elegantem Ballkleid, das sie ihm aus ihren Toiletten-
schätzen zur Verfügung stellt. D’Eon bemerkt hierzu: „Schon
der Gedanke, ein Kleid der Gräfin anzuziehn, auf meiner Haut
ein Kleidungsstück zu fühlen, welches den Busen dieser an-
betungswürdigen Frau umhüllt, dessen Stoff diesen schönen
Körper berührt hatte, erregte in mir im Voraus ein Schaudern
unsäglicher V’önne. Dieses Kleid muss mit duftenden Ema-
nationen der Frau, welche es getragen hat, erfüllt sein. Es
wird mich berauschen, da schon der Gedanke daran mich be-
rauscht. Ich ging schon früh hin; ich musste mich ankleiden,
denn Frauenzimmerkleider machen viel zu schaffen. Man über-
gab mich einer alten Kammerfräu, die in der Toiletten-Diplü-
matie ergraut, und ausser dem Bereich aller \'erleumdung vv^ar."
— Aul dem Hofball zieht er die Augen Ludwig XV. auf sich,
der keine Ahnung hat. dass in dem schönen Mädchen ein
Mann steckte. Es folgt eine drollige Episode. Der König lässt
Mademoiselle D'Eon zu sich bitten und zieht sich mit ihr in
ein Xebengemach zurück. Eben klärt dieser den galanten Mon-
archen über seinen Irrtum bezw. sein wahres Geschlecht auf,
als die Pompadour, des Königs Favoritin, die sich inzwischen
über d’Eon informiert hatte, eintritt, herzlich lacht und —
verzeiht.
Der König erhielt von da ab dem jungen geistvollen und
geschickten Chevalier seine Gunst und beschloss bald da-
rauf, in einer diplomatischen Mission (es war die politisch so
bewegte Zeit des siebenjährigen Krieges) ihn als Dame verklei-
det nach Russland an den Hof der Kaiserin Elisabeth zu sen-
den,-um diese mit Frankreich zu versöhnen. Anfang Juni 175-5
empfing der Chevalier d’Eon, 27 Jahre alt. aus der Hand dec-
Prinzen von Conti eine vollständige Mädchenaussteuer und
reiste in dem Kostüm seines erborgten Geschlechts mit dem
Chevalier Douglas ab. Unterwegs nahmen die Reisenden län-
geren Aufenthalt in Neu-Strelitz, wo die junge, interessante
Französin, wmlche Chevalier Douglas, ihr Begleiter, für seine
Nichte ausgab, von der herzoglichen Familie aufs freundlichste
empfangen wurde; namentlich eine der Töchter des ver-
storbenen Herzogs, die junge Sophie Charlotte von Mecklen-
burg-Strelitz (spätere Königin von England), schloss zärtliche
Freundschaft mit dem vermeintlichen jungen Mädchen und atta-
chierte sich ihr so innig, dass dem Chevalier Douglas angst
und bange wmrde. Er beschleunigte daher die Abreise, bei der
die Prinzessin Mademoiselle d’Eon eine Empfehlung an eine
Petersburger Freundin Nadege Stein, '„Ehrenfräulein ihrer
Majestät der Kaiserin aller Reussen“, mitgab. Diese Empfeh-
lung sollte für d’Eon von grösster Bedeutung w^erden; denn
Nadege wurde die überaus treue Geliebte seines Lebens, die
Stütze seines Alters. Die Kaiserin Elisabeth (vgl. pag. 49U)
war von der schönen Mademoiselle, die sie bald als Vorleserin
französischer Schriften engagierte, entzückt, noch entzückter,
442
als diese ihr schliesslich anvertraute, dass sie dein männlichen
Geschlechte angehöre. Die Zarin war nicht die einzige, die
sich in Petersburg in sie verliebte. Noch mehrere andere be-
fanden sich völlig im Bann der schönen Französin. Zu ihnen
gehörte Mylord Ferrers, Pair von England, Admiral, berühmter
Mathematiker und Physiognomiker der Lavaterschen Schule,
der sich rühmte, die symbolische Geheimschrift des mensch-
lichen Gesichts fliessend lesen zu können, eine Kunst, die je-
doch im Falle d’Eon Schiffbruch erlitt; denn während der ver-
liebte Mylord mit dem vermeintlichen Fräulein seine Gattin
zu hintergehen gedachte und sie veranlasste, „da es doch schon
so spät sei, die Nacht an der Seite seiner Gemahlin zu ver-
bringen“, bestrafte und betrog d’Eon ihn mit Mylady.
Es gestattet leider nicht der Raum, so verlockend
es wäre, die äusserst seltsamen Lebensschicksale des
Ritters d’Eon hier im einzelnen zu erzählen. Seiner
Mission in Russland entledigte er sich mit grossem Ge-
schick. Als er nach Frankreich zurückkehrte, schreibt
sein Biograph: „Triumphierend reiste der Chevalier
d’Eon mit kostbaren Depeschen nach Versailles ab, doch Herz
und Augen blieben nach Russland gekehrt. Trotz ihrer schönen
blassen Stirn und ihres schmachtenden Auges ist es nicht ^ly-
lady Ferrers, trotz des Glanzes ihres Thrones, trotz ihrer
Gunstbezeugungen nicht die Kaiserin Elisabeth, welche er be-
trauert. Es ist Nadege! die arme verlassene Nadege.“ Noch
zweimal wurde er, allerdings in männlicher Tracht als angeb-
licher Bruder des Fräulein d’Eon, in politischen Angelegen-
heiten nach Russland entsendet. Bei seinem dritten Aufent-
halte gab sich die Zarin die grösste Mühe, ihn dauernd an
Russland zu fesseln, doch konnte er sich nicht entschliessen,
dort zu bleiben. Bevor er heimkehrte, erledigte er noch wich-
tige Aufträge in Wien und besuchte von dort, wiederum in
Frauenkleidern, nochmals Neu-Strelitz. Hier erkrankte er ernst-
lich und wrude mit grösster Hingabe und Zärtlichkeit von der
Herzogin Sophie Charlotte gepflegt, die keine Ahnung von
seinem wahren Geschlecht hatte. Wieder genesen, ging er nach
Paris, verweilte aber hier nicht lange, sondern begab sich zur
oberrheinischen Armee, die gegen Friedrich den Grossen im
/
443
Felde stand. Er beteiligte sich unter Marschall Broglio an den
schwierigen Operationen des siebenjährigen Krieges, leitete bei
Höxter den Transport der Pulvervorräte über die Weser, wird
im Treffen von CJltropp an Hand und Kopf verwundet, zeichnet
sich bei der Belagerung und Eroberung von Wolffeubüttel aus,
wird zum Dragonerkapitän und Ritter des heiligen Ludwig er-
nannt und kehrt nach Beendigung des Feldzuges nach Frank-
reich zurück, um alsbald als bevollmächtigter Minister an den
Hof Von St. James entsandt zu werden. König Ludwig schrieb
ihm damals: (Versailles 4. Okt. 1763) „S i e h a b e n m i r
ebenso nützlich unter Frauenkleidern,
als in denen gedient, welche Sie gegen-
wärtig tragen“, und der Marquis von l’Hopital gratuliert
ihm mit folgenden Worten: „Ich wünsche Ihnen Glück zu dem
neuen Charakter eines bevollmächtigten Ministers. Sie eignen
sich für jede hohe Stellung und werden ihr Ehre machen. Sie
haben dasjenige in sich, was den Menschen erhebt, Geist und
Mut, und verbinden damit die Eigenschaften, welche stets die
beiden ersten begleiten, Tugend und Ehre. Sie sind also jetzt
als ein echter, reiner Mann, Vir, anerkannt! Was Ihnen in
physischer Hinsicht mangeln möge: die ausgezeichnete Wirksam-
keit Ihrer Eigenschaften und die gute Anwendung Ihrer
Zeit steht ausser aller Frage.“
Je höher sein Ruhm und seine Beliebtheit stiegen, je
reicher ihn der Monarch ehrte und beschenkte, um so mehr
nimmt die Anzahl seiner Feinde, an deren Spitze der Graf von
Guerchy stand, zu. Sie schrieben Pasquille und Schmähschrif-
ten gegen ihn, in denen natürlich auch immer wieder behauptet
wurde, er sei Hermaphrodit. Er wehrte sich dagegen mit der
Veröffentlichung seiner Briefe und Memoiren. Schon vorher
hatte er ein zweibändiges Buch „Usages““ erscheinen lassen,
das ihm viele Gegner zugezogen hatte, und schliesslich bringen
es seine Widersacher so weit, dass er beim König Ludwig in
Ungnade fällt. Damals schreibt er an den Herzog von Niver-
nais: „Ich schicke Ihnen, Herr Herzog, weinend mein politi-
sches Testament; es ist für ein Volk, welches ich, trotz seiner
Fehler, bis zur Raserei liebe. Mit Schmerz sehe ich mich ge-
zwungen. ihm zuzurufen: Ingrata patria, non habebis ossa!
444
Ich schliesse mit der Stelle aus Bacons Testament: „Meine
Mitbürger werden mich erst nach meinem Tode erkennen“. —
Inzwischen verbreitete in England sich mehr und mehr die
Meinung, dass der Chevalier d’Eon ein verkleidetes Weib sei.
Einmal hatte ihn die Königin Sophie Charlotte rufen lassen,
um wegen ihres erkrankten Kindes seinen Rat zu hören, da
trat Georg III., ihr Gemahl, ins Zimmer und es spielte sich
nach dem Bericht eines Augenzeugen folgender Auftritt ab;
„Seit wie lange kennen Sie diesen Menschen?“ fragte Georg III.
„Ich sah ihn zum ersten Male im Jahre 1755 in Neu-
Strelitz, wo er von Frankreich in Begleitung eines Schotten an-
kam. Er ging, oder vielmehr sie ging an den Hof der Kaiserin
Elisabeth, denn damals war er ein junges Mädchen.“
„Ein junges Mädchen! Haben Sie ihn als solches gesehn?“
„Ja, ich und meine Familie, denn sie verweilte einige Zeit
im Schloss«."
,Und niemand vermutete, dass er ein Mann sei?“
„Niemand, weder in Neu-Strelitz noch in Petersbürg, wm
sie sechs älonate private Vorleserin der Kaiserin war.“
„Sonderbar!“ murmelte der König und schien lebhaft auf-
geregt zu sein. — „Ich will sogleich an meinen Gesandten in
Versailles schreiben, damit er Ludwig XV. um Aufklärung
dieses Geheimnisses ersucht.“
„Als Ludwig XV. die Anfrage erhielt, geriet er in Ver-
legenheit, und „da er in diesem schwierigen Falle nicht im
Stande war. selber einen Entschluss zu fassen, teilte er
seine Verlegenheit der Dubarry. Nachfolgerin der Pom-
padour, mit, und diese befragte den Herzog von Aiguillon,
ihren Günstling“. „Nachdem die Hauptgründe, welche in diesem
geheimen Conseil über mein Loos entscheiden' sollten —
schreibt d’Eon in seinem Tagebuch — , vielfach erwogen waren,
beschloss man endlich, mich für eine Frau gelten zu lassen.
Die Details wurden mir später von der Dubarry selbst erzählt.
Ludwig XV. hatte die Aufmerksamkeit, Georg III. die For-
schungen mitzuteilen, welche der Herzog von Praslin wegen
meines Gesc’nlechts angestellt hätte. Damit verband er die
Briefe und Depeschen, w^elche während meines Aufenthalts in
St. Petersburg an mich adressiert oder von mir geschrieben
445
waren, sowie einige Handbillcts der Kaiserin an ihre
Vorleserin. Sobald Georg III. die Antwort Ludwig XV.
nebst den Documenten erhalten hatte, eilte er, sie seinem
ganzen Hofe mitzuteilen. Nach einigen Tagen wusste es
ganz London, und bald ertönte es von allen Seiten; der
Chevalier von Eon ist ein Frauenzimmer. Die Einen läug-
nen, die Andern bejahen es. Man geht beträchtliche Wetten
ein, und das Geschlecht des Chevalier von Eon wird eine
Börsenspeculation.‘‘ —
Wir übergehen die Vorgänge und sensationellen Erörte-
rungen, die sich nun jahrelang über sein Geschlecht in der
Londoner Gesellschaft abspielten, auch den Briefwechsel, der
sich an die Erklärung Ludwigs zwischen d’Eon und den Mi-
nistern seines Souveräns anschloss. Neben der Frage, welchem
Geschlecht er sich in Zukunft beizählen und welches Kleid er
tragen solle, spielt in diesen Briefen die Gewährung und die
Höhe seiner Pension, auf die er sehr angewiesen ist, eine grosse
Bolle. Schliesslich intervenierte Beaumarchais, nachdem in-
zwischen der allem Skandale abholde, sehr religiöse Ludwig XVI.
den französischen Thron bestiegen hatte. Der Vertrag, den
Beaumarchais mit dem nun bald 50jährigen d’Eon eingeht, be-
ginnt mit folgenden bezeichnenden Worten:
„Wir Unterzeichneten, Pierre Augustin Caron von Beau-
marchais, speciell mit den Befehlen des Königs v. Frankreich,
datiert von Versailles 25. Aug. 1775, für den Chevalier von
Eon in London bestimmt, betraut, einerseits, — und
Fräulein Charles, Genevieve, Luise, Auguste, Andree,
Timothee d’Eon von Beaumont, ehemaliger Capitain
der Dragoner, Ritter des Königl. und Militairordens
des heiligen Ludwig, bevollmächtigter Minister von Frank-
reich bei dem Könige von Grossbritannien, auch Doktor des
bürgerlichen und kanonischen Rechts, Advocat des Pariser
Parlaments, königlicher Censor für die Geschichte und schönen
Wissenschaften, Envoye in Russland mit dem Chevalier Dou-
glas zur Aussöhnung der beiden Höfe, Gesandschaftssecretair
des Marquis von l’Hopital, bevollmächtigter Ambassadeur bei
Ihrer Kaiserl. Majestät aller Reussen, und Gesandschaftssecre-
tair des Herzogs v. Nivernais, des bevollmächtigten Ge-
446
sandten Frankreiclis in England zum Abschluss des letzten
Friedens andererseits, sind übe reingekommen: —
Dieser Vertrag, in dem es so dargestellt wurde, als ob d’Eon
bisher als Weib in männlicher Kleidung (nicht etwa umgekehrt )
gelebt hätte, sicherte ihm eine jälirliche Pension von 12 000
livres ausser der Bezahlung seiner Schulden zu. Er selbst
schreibt in der Vereinbarung: „So willige ich ein, mein Ge-
schlecht öffentlich für weiblich zu erklären, meinen Zustand
ausser allen Zweifel zu stellen, und bis zu meinem Tode wiede-
rum weibliche Kleidung zu tragen, falls nicht Se. Majestät, aus
Nachsicht gegen meine lange Gewohnheit, Militärkleider zu
tragen, mir Männerkleider gestattet, wenn es mir etwa unmög-
lich sein sollte, die Frauenkleider auszuhalten, nachdem ich ver-
sucht habe, mich in der königl. Abtei der Bernhardinerinnen in
Paris oder in einem andern Jungfrauenkloster, welches ich
wählen und wohin ich mich nach meiner Ankunft in Frankreich
auf einige Monate zurückziehen werde, daran zu gewöhnen.“ —
Er bedingt sich aber aus, das Kreuz des heiligen Ludwig
über seiner Frauenkleidung tragen zu dürfen unter Hinzufügung
folgender Worte: „Erwäge ich, dass dieses Kreuz stets und
allein für eine Belohnung kriegerischer Tapferkeit gegolten hat,
imd dass mehrere Offiziere, nachdem sie Priester oder Staats-
beamte geworden, dieses militärische Zeichen auf ihrer neuen
Tracht getragen haben, so glaube ich nicht, dass man dieses
Recht der tapferen Dame streitig machen könne, die
von ihren Verwandten in männlicher Kleidung erzogen, die
gefährlichen Pflichten des AVaffenhandwerks auf die rühm-
lichste AA'eise erfüllt hat.“ —
Die schliessliche Ordre des Königs lautet: „Auf Befehl des
Königs! — Es wird Charles, Genevieve, Louise, Auguste, An-
dree Timothee von Eon v. Beaumont aufgegeben, die gewöhn-
lich von ihm getragene Dragoneruniform abzulegen und sich
■wiederum in die Tracht seines Geschlechts zu kleiden, mit
dem Verbot, in andern Kleidungsstücken, als weiblichen, in
dem Königreiche zu erscheinen. — Gegeben zu A'ersailles, 27.
Aug. 1777. gez. Ludwig.
Seine neue Aussteuer besorgt ihm die junge Königin
Maria-Antoinette in eigner Person.
447
„An einem Novemberabend 1777“, schreibt Gaillardet, „ver-
schwand der Chevalier v. Eon, um am folgenden Tage mitten
in dem erstaunten Paris und Versailles als Chevalier e wieder
zu erscheinen. Hof und Stadt klatschten bei dieser Art sicht-
barer Verwandlung in die Hände. Jeder drängte sich, die neue,
in einem Dragoner gefundene Jeanne d’Arc in der Nähe zu be-
trachten, die von ihrer Uniform nichts behalten hatte, als ein
grosses, schönes Ludwigskreuz, welches stolz auf einem Baum-
wollenkissen ruhte, das bestimmt war, dem natürlichen Mangel
eines Busens abzuhelfen. Kupferstiche stellten sie von allen
Seiten und in jedem Kostüm den Augen des begierigen Publi-
kums dar. Auf einem derselben, welches in London graviert
war, war sie als Pallas dargestellt, mit dem Helme auf dem
Kopfe, die Lanze in der rechten Hand, und in der linken mit
einem Schilde, um welches die Worte geschrieben waren; At
nunc dura dedit discrimina Pallas. Zur Seite ihres Bildes
liegen Fahnen mit der Devise: Impavidam ferient ruinae.“
Bald nachdem er die Frauenkleider angenommen hatte,
um sie nicht wieder abzulegen, hatte er die grosso
Freude, seine totgeglaubte, in Wirklichkeit aber nur von
der Kaiserin Elisabeth verbannte Jugendgeliebte Nadege
Stein, wiederzusehen. . Es heisst in seinem Tagebuchc
darüber: „Eines Tages öffnete sich die Türe, es erschien eine
Frau, in die Tracht des nördlichen Russlands gekleidet; meine
Augen fallen auf ihr Gesicht; ich schreie laut auf und stürze
mich rascher als ein Blitz in ihre Arme. Nadege! rief ich;
denn sie war es. Ich erkannte ihr schönes, männliches Ge-
sicht, trotz der Veränderungen, welche Leiden und Zeit darin
hervorgebracht hatten . . . Ich hänge an ihrem Halse, um-
schlinge sie, bedecke, ersticke sie mit meinen Küssen.“ —
Beide ziehen nun gemeinsam nach Tonnerre, seiner alten
burgundischen Heimat, und zwei Jahre später nach dem Frie-
densschluBS zwischen England xmd Frankreich nach London.
Während seines Aufenthaltes in Tonnerre empfing er einen
Besuch, der für den Kenner der Geschichte der sexuellen Zwi-
schenstufen recht interessant ist: den des Prinzen Heinrich
vonPreussen, Bruder des grossen Friedrich. Als d’ Eon nach
England übersiedelte, war sein erstes, sich der Königin Sophie
448
Charlotte, die ihn bis zu diesem Augenblicke für ein AYeib ge-
halten hatte, zu entdecken und ihr mitzuteilen, dass Nadege
Stein, die Freundin ihrer Kindheit, noch lebe und dass beide
als ein glückliches Paar in London weilten; d’Eon schreibt;
„Am folgenden Tage kam die Königin von England, als ein-
fache Bürgerfrau der City von London gekleidet, in mein Haus
in Brewer -Street. Seit 28 Jahren hatten Nadege und sie sich
nicht gesehn. Als sie nach dieser Trennung einander gegen-
überstanden, schauten sie sich einen Augenblick mit Rührung
an; dann aber flogen sie sich in die xA.rme. Ich entfernte mich,
um eine Unterredung nicht zu stören, bei welcher meine Ge-
genwart lästig sein musste.“
„Noch 17 Jahre hindurch sah man in London zwei alte
Frauen, welche stets zusammen ausgingen und zurückkehrten:
die eine, von Jahren gebeugt und stets einen kleinen Rohrstock
mit elfenbeinernem Knopfe in der Hand, trug auf der Brust
eine grosse schöne Dekoration, welche sonst nur auf der Brust
tapferer Krieger zu glänzen pflegte. Die andre, nicht so alt,
und etwas mehr bei Kräften, gab ihrer 80jährigen Begleiterin
den Arm, welche sich mit Freude darauf zu stützen schien.
Wenn die beiden Greisinnen bisweilen langsamen Schrittes eben
in ihre kleine Wohnung zurückgekehrt waren, sah man einen
mit dem königlichen Wappen geschmückten Wagen vor der
Tür ihres Asyls halten und die nun auch schon bejahrte
Sophie Charlotte von Mecklenburg-Strelitz, Königin von Eng-
land, stieg aus, um an die Tür dieser bescheidenen Einsiedelei
d’Eons und der Nadege Stein zu klopfen.“ —
Endlich am 21. Mai 1810 starb der Chevalier von Eon
in London, New-Wilman-Strcet, Nr. 26, in dem Alter von
83 Jahren, „ein Zeitgenosse zweier Jahrhunderte, sah er nach-
einander die beiden Monarchien Ludwig XV. und Ludwig XVL,
die Republik und das Kaiserreich an seinen Augen vorüber-
gehn, und starb in dem Augenblick, als Frankreichs Ruhm in
höchster Blüte stand.“*)
*) Von Romanen, in denen auf die Lebensgeschichte d'Eons mit
dichterischer Freiheit Bezug genommen ist, verdient „Die Grossfürstin“
von Gregor Samarow erwähnt zu werden.
449
Nach seinem Tode wurden folgende Atteste veröffentlicht:
A: Attestat (aus dem englischen Text übersetzt):
Ich bescheinige durch Gegenwärtiges, dass ich in Gegen-
wart der Herren Adair, Wilson und des Paters Elysee den
Körper des Chevalier von Eon untersucht und seziert und die
männlichen Zeugungsorgane in jeder Hinsicht vollkommen aus-
gebildet gefunden habe.
W ilman-Street, 23. Mai 1810. Tho. Copeland, Chirurg.
Untenbenannte Personen waren gleichfalls gegenwärtig: Sir
Sidney Smith; der Honourable AV. T. Littleton Douglas; der
Graf von Yarmouth; Stoskins, Procureur; J. M. Richardson;
King, Chirurg; Burton, desgl. ; Joseph Berger-Partney; Joseph
Bramble; Jakob Delannoy.
B: Erklärungen zur Unterstützung (aus dem französi-
schen Text):
1. Ich erkläre, das sogenannte Fräulein von Eon in
Frauenkleidern gekannt und ihren Körper nach dem Tode
gesehen zu haben. Infolge dessen attestiere ich, dass der
Körper alles enthält, was einen Mann charakterisiert, ohne
irgend eine Geschlechtsvermischung.
24. Mai 1810. Chevalier Degeres.
2. Ich erkläre, dass ich mit der allgemein unter dem Namen
des Fräulein von Eon bekannten Person in Verbindung gestan-
den, und heute, New-Wilman-Street Nr. 26, den Körper eines
männlichen Individuums gesehen habe, welcher mir der Körper
der nämlichen Person zu sein schien.
von Dostan\dlle.
3. Ich erkläre, das sogenannts Fräulein von Eon in Frank-
reich und England gekannt und im Regimente Harcourt als
Dragnnerkapitän gedient zu haben, als das genannte Fräulein
im Jahre 1757 als Leutnant im Regiment Caraman stand, und
dass ich, als man mich aufforderte, den Körper nach dem Tode
zu besichtigen, dieselbe Person des Chevalier von Eon er-
Hirschleld, Die Transvestiten. 29
450
kannte, sowie, als man mir den Körper nackt gezeigt hat,
alles an ihm sah, was die männlichen Zeugungsteile bildet.
London, 68 Deanstr., 24. Mai 1810
Graf von Behague, General-Leutnant.
4. Ich erkläre, dass der Chevalier von Eon bei mir etwa
drei .Jahre gewohnt hat, dass ich ihn stets für eine Frau hielt,
nach seinem Tode aber bei Untersuchung des Leichnams ge-
funden habe, dass er ein Mann war. Meine Frau erklärt das
Nämliche.
New-lVilman-Street, 26. William Bouning.
Ueberschauen wir dieses Lebensbild, das an Seltsamkeit
wohl schwerlich in der Weltgeschichte seines Gleichen haben
dürfte, so ist das Rätsel, welches der Ritter von Eon seinen
Zeitgenossen und vielen späteren Psychologen und Histo-
rikern aufgegeben hat, nach dem heutigen Stand der Wissen-
schaft nicht mehr schwer zu lösen. Sicherlich war
er, der dreieinhalb Jahrzehnte als WTib, nahezu lünf
Jahrzehnte als Mann lebte, eine in das Bereich der
Zwischenstufen fallende Persönlichkeit. Zu denen
ersten Grades, den Hermaphroditen, gehörte er nicht, das
beweisen die Obduktions-Protokolle, auch nicht zu denen
dritten Grades, den Homosexuellen, da nach allem, was
wir erfahren haben, sein Geschlechtstrieb zwar nicht stark,
aber doch auf das Weib gerichtet war. Zweifellos war er
aber eine Zwischenstufe zweiten Grades,
denn übereinstimmend wird hervorgehoben, dass seine Körper-
formen deutliche Annäherungen an weibliche Beschaffenheit
zeigten, — auch auf dem von Angelika. Kaufmann gemalten
Bilde ist weibliche Brustbildung (Gynäkomastie) unverkenn-
bar — sehr wahrscheinlich haben daneben Uebergangser-
scheinungen vierten Grades, namentlich t r a n s -
vestitische Neigungen bestanden, denn durch
die Bewilligung der Pension, die ihm noch dazu
fast nie bezahlt wurde, ist die Beibehaltung der Frauen-
tracht nicht genügend erklärt, obschon sein sonstiger Cha-
451
rakter überwiegend männliche Züge aiü'weist; war doch wie
einer seiner Biographen berichtet, seine in mehr als dreissig
Duellen erprobte Klinge, „nicht nur in Frankreich und Eng-
land, sondern in ganz Europa die gefürchtetste seinerzeit.“
Wer nur rein äusserlich die Lebensgeschichte d’Eons an
sich vorüberziehen lässt, wird leicht die Behauptung aui-
stellen, er habe zunächst die Frauenkleider nur aus dem
Grunde angelegt, um eine wichtige politische Mission besser
erledigen zu können. Damit wäre aber der wirk-
liche Tatbestand keinesfalls erschöpfend motiviert. So
ist es auch in vielen anderen Fällen, in denen jemand
scheinbar in Erfüllung einer bestimmten Aufgabe, meist
zum Zwecke der Täuschung, das andere Geschlecht an-
nimmt, während vielfach die Absicht schon, wenn auch meist
unbewusst, von der seelischen Eigenart abhängig ist, wo-
mit aber nicht gesagt sein soll, dass nicht auch Geschlechts-
Verkleidungen ganz ohne transvestitische Neigungen Vor-
kommen.
Geschlechtsverkleidung auf der Bühne.
Nicht selten hat man um das Publikum zu täuschen,
im Zirkus und auf Spezialitätenbühnen Kunstreiterinnen, Akrc
batinnen,' Athletinnen, Tierbändigerinnen auftreten und auf
Programmen mit klangvollen weiblichen Namen figu-
rieren lassen, die in AVirklichkeit Alänncr waren, beispielsweise
in der wohlbekannten Artistenfanülie F r a n t z , wo ein sich
als Frau produzierender Mann einen Mann auf der Schulter
und in jedem ausgestreckten Arm ein Mädchen trägt. Eine
der berühmtesten Kunstreiterinnen in den sechziger und sieb-
ziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Ella Zoyara, war
ebenfalls ein Mann. Es heisst von ihr: „Omar Kingsley
— so hiess sie eigentlich — war 1840 zu St. Louis ge-
boren. Erst acht Jahre alt, ward er von einer so heftigen
Neigung für das Zirkusleben erfasst, dass er seinen Eltern
davonlief, um in einem Zirkus ein Unterkommen zu finden.
Der Zirkusdirektor Spencer Stokes in Philadelphia liess ihn
im Kunstreiten unterrichten, doch musste Omar unter dem
29*
452
Namen Ella Zoyara als Mädchen auftreten. Sein hübsches
Gesicht, seine schlanke Gestalt nnd sein üppiges, schwarzes
Haar begünstigten diese Täuschung des Publikums. Kingsley
ging später mit Stokes nach Europa, wo er in grösseren
Städten, insbesondere auch in Berlin, als Kunstreiterin auf-
trat. Natürlich gab die Anwesenheit der tollkühnen und an-
mutigen Reiterin die Veranlassung zu mancher romantischen
Episode. In "Moskau verliebte sich ein russischer Graf in
„sie“ und bot dem Direktor eine grosse Summe, wenn er ihn
mit der „schönen Kunstreiterin“ bekannt machen würde.
Ihren grössten Triumph feierte jedoch Miss Ella in Italien.
Nachdem Viktor Emanuel sie im Zirkus gesehen, entbot er
sie zu sich. Zoyara erschien beim König, aber in Beglei-
tung einer Dienerin, die überhaupt stets um ihn war. Viktor
Emanuel wohnte den Vorstellungen im Zirkus öfter bei und
schenkte der Miss Ella, in der niemand einen Mann
zu ahnen vermochte, einen prachtvollen schwarzen
Hengst. Nach Amerika ziirückgekehrt. wo ihr eine Menge
Heiratsanträge gemacht wimden, verheiratete sie
sich in aller Stille mit einer Kollegin, der
Kunstreiterin Sallie Stickney. In Manila verliebte sich ein
spanischer Offizier in Zoyara, wurde aber abgewiesen. Mehrere
andere Offiziere sagten „ihr“ darauf, sie sei kein Frauen-
zimmer, die Offiziere begaben sich ins Ankleidezimmer, als
Zoyara von der Reitbahn zurückkam, und wollten ihr die
Kleider vom Leibe reissen. Der Zirkusdirektor Wilson,
zu dessen Gesellschaft sie damals gehörte, kam aber noch
rechtzeitig hinzu und schlug zwei Offiziere zu Boden.
Zoyara und Wilson wurden dann auf mehrere Wochen in das
Gefängnis geworfen, wo man ermittelte, dass Zoyara ein
Mann war. Erst als er Miteigentümer des Wilsonschen
Zirkus geworden, gab er seine Weiberrolle auf, um nur noch
bei Benefizvorstellungen Frauenkleider anzulegen. Dann
gab es immer volle Häuser. Nachdem IMiss Ella die ganze
Welt durchreist hatte, fiel die schöne Scheinfrau 1879 in
Bombay den Blattern zum Opfer.“
Ein Seitenstück zu ihr war der 1892 verstorbene Emil
Mario Vacano, der, bevor er Schriftsteller wurde, lange
453
Jahre unter dem Namen Signora Sangumeta eine sehr gesuchte
Schulreiterin war, dessen wahres Geschlecht nur wenige
kannten. In England machte es vor einigen Jahren nicht
geringes Aufsehen, als anlässlich eines Ehescheidungsprozesses
verlautete, dass der Alarquis von A n g 1 e s e y es liebte, sich
unerkannt als Serpentinentänzerin auf dem Variete zu
produzieren. lieber seine Persönlichkeit berichteten damals eng-
lische Zeitungen: „Die Tochter von Sir George Chetwynd
und der Marquise von Hastings, zählte erst achtzehn Lenze,
als sie vor zwei Jahren dem damaligen Earl of Urbridge
die Hand zum Lebensbunde reichte. Das fein geschnittene,
von goldroten Haarmassen umrahmte Gesicht der Aristo-
kratin gilt mit seinen grossen veilchenblauen Augen für
eines der schönsten in ganz England. Auf die von zahl-
reichen Bewerbern umschwärmte Miss Chetwynd machte das
sehr sanft zu nennende Wesen des Earl einen so günstigen
Eindruck, dass sie ihm vor allen anderen Freiern den Vor-
zug gab. Sie ahnte aber nicht, in welchem Alaasse ihr
Erwählter einem verzärtelten, exzentrischen Weibe glich und
dass er alle Launen und Schwächen eines solchen besass. In
der Tat hat der .jetzt 25jährige Nobleman, der bald nach
seiner Eheschliessung durch den Tod des Vaters fünfter
Marquis of Anglesey wurde, das Aussehen einer
schönen Frau in Männerkleidung. Seidenweiche
dunkle Locken umgeben ein rosiges Gesicht mit w'eichen,
sympathischen Zügen. Um blasser und interessanter zu er-
scheinen, verschmäht er weder die Puderschachtel noch
bleichmachende Toiletten-AVasser. Er ist immer stark par-
fümiert, und seine zarten, schlanken Finger sind mit Ringen
überladen. Alan sieht ihn bei seinen Promenaden durch
Piccadilly oder auf den Pariser Boulevards meist mit
einem schneeweissen, schleifengeschmückten Pudel unter dem
Arm, der ebenso wie sein Herr nach Patchouli und Eau
d’Espagne duftet. Als Bräutigam schenkte er seiner Ver-
lobten Schmucksachen im AVerte von anderthalb AliUionen
Mark; ihm selbst stehen 4 Alillionen Mark im Jahr zu Ge-
bote, seiner bisherigen Gemahlin hat er eine ABertel Alillion
Jahreseinkommen ausgesetzt. Die Lieblingsbeschäf-
454
tigung des jungen ^larquis ist es, sich auf
wirklichen Spezialitäten bühnen als Ser-
pentine ntänzerin zu zeigen, eine Kunst,
in der er der graziösen Loie Füller wenig
n a c h s t e h t. “
Ein recht origineller Fall von doppelter Mystifika-
tion wurde im August 1907 in Artistenkreisen viel be-
sprochen: „Eine Berliner Sängergesellschaft, welche in der Um-
gebung Berlins Vorstellungen gab, kündigte an, dass sie
einen beliebten Damenkomiker, „einen Künstler von Ruf", en-
gagiert habe. Der neue Damenkomiker bewährte sich als
Zugkraft. Wie vielfach üblich, pflegte der Damenkomiker
nach seiner letzten Nummer seine Damenperücke abzunehmen,
um den Zuschauern zu erkennen zu geben, dass alles nur
„Imitation“ gewesen. Ein dröhnender Bass dient in solchen
Fällen dazu, das ^lannestum des Damenkomikers zu be-
kräftigen. Aber eines Abends in voriger Woche, als das En-
semble in Neuendorf gastierte, kam es zu einer Katastrophe.
Der Damenkomiker hatte sein Pensum absöhdert und wmllte
die Damenperücke entfernen, als er mit dieser auch eine
darunter befindliche Männerperücke vom Kopfe riss und
als Dame entlarvt war. Eine ältere Chansonette stand
vor dem johlenden Publikum. Sie war im Verein mit den
Kollegen vom Ensemble auf den Schwindel verfallen. Das
Ensemble hat sich nach diesem Missgeschick aufgelöst.“ (Z.
f. S. p. 59.)
Von den richtigen Damenimitatoren war oben*) bereits
ausführlich die Rede; hier sei nur noch kurz ihrer Pendants, der
Männer-Imitat orinnen gedacht, die verhältnismässig viel
seltener sind. Am ehesten trifft man sie noch in Wien
unter der Rubrik der weiblichen Volkssänger; eine der
besten, die als Feuerwehrmann Furore machte, sah ich dort
vor einigen Jahren: Betti Kühn; am populärsten war in
der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts der V/iener Volks-
sänger Josefine Schmeer; von ihr heisst es im Jhb. f. sex.
Zw. Bd. V. (p. 242):
') pag. 181 R.
455
„In einem Vorstadtspital in Wien lebt noch heute ein
altes Mütterchen, die einst bessere Tage gesehen und auf
den Brettern des Varietes reichen Beifall geerntet hat. Sie
verdankt ihre Erfolge ihrem eigenartig männlichen Wesen,
das sie befähigte, als Volkssänger aufzutreten. Hinter dem
schnurrbärtigen Manne mit der sonoren Tenörstimme und
den vollkommen natürlichen energischen Bewegungen hatte
wohl niemand das Weib vermutet und mancher ihrer Be-
wunderer war lange Zeit hindurch der Meinung, dass „die"
Pepi wirklich „der“ Pepi wäre. Das fortschreitende Alter
hinderte Josephine Schmeer, so ist Pepis eigentlicher Name,
ihre natürliche Veranlagung im Dienste einer Kunst zu ver-
werten, die so recht bezeichnend war für das lustige Treiben
der alten Kaiserstadt. Im „Düsseldorfer Artisten“ schreibt
einer ihrer Verehrer: „Josephine oder Pepi Schmeer ist ins
Versorgungshaus gegangen und beim „Blauen Herrgott“, dem
freundlichen Greisenäsyl der l\Iutter Vindobona, wird sie
ruhig ihre Tage baschliessen. Sie hat schöne Tage ge-
sehen, die Pepi Schmeer, denn sie war eine ganz origi-
nelle Erscheinung auf dem Brettl. Die Schmeer hiess der
„weibliche Fürst“. Als sie vor 40 Jahren in kleinen Rollen
im Pratertheater spielte, imitierte sie den Direktor so
täuschend, dass man, wenn sie ungesehen blieb, den Fürst
zu hören glaubte. Und sie blieb der „weibliche Fürst“
auf allen Plakaten, in denen sie das Publikum zu ihren
Soireen einlud. Sie trat immer in Männerklei-
dern auf. Man sagte, sie hätte eine spezielle Bewilli-
gung der Polizei hierbei gehabt. So lange sie jung, ge-
schmeidig und fesch war, bildete das Mädchen in Männer-
kleidern eine Anziehungskraft. Sie soll auch zu Hause
lieber in Männerkleidern gegangen sein, als in weiblicher
Toilette. Mit einem Liede machte sie Furore in Wien, und
die ganze Wienerstadt sang es ihr nach, bis heute ist es
ein geflügeltes Wort im Wiener Dialekt geblieben; „Aussi
möcht’ i geh’n“. Das sang sie unnachahmlich. Das waren
ihre besten und schönsten Tage, als alle dieses Lied von
ihr hören wollten. Vor etwa zehn Jahren wurde sie vom
Schlage gerührt und die braven Kollegen und Kolleginnen
456
mussten der Veterauin des Brettls zu Hilfe eilen. Sie trat
dann einige Male wieder auf, aber ihre Kraft war ge-
brochen und so sah sie sich endlich genötigt, ins Ver-
sorgungshaus zu gehen. In der Geschichte des Wiener
Volkssängertums wird man Josephine Schmeer, den weib-
lichen .,Fürst“, nicht vergessen dürfen, und diejenigen, die
sie in ihrer Blütezeit gekannt, werden nicht ohne Teil-
nahme von ihrem Geschicke erfahren.“
Paris besass vor längerer Zeit im Theätre des Varietes
eine ganz hervorragende Künstlerin dieses Genres: die
V e r n e t ; sie „warf“ die Männer aus dem Volke mit verblüffen-
der Naturwahrheit hin; ihr Hausmeister Pipelet war einer der
drolligsten Figuren, die je von der Bühne zum Publikum
gesprochen und es begeistert haben. Auch Josephine Dora
und Hansi Niese, beide besonders als Schuster Knieriem in
NestroysLumpacivagabundus, verdienen hier genannt zu werden.
Die vollendetste Männer-Imitatorin der Gegenwart dürfte
aber wohl Vesta T i 1 1 e y in London sein. Ihre Dar-
.Stellung der so charakteristischen englischen Typen, deren
Eigenart sie in Mäunertracht mit unverstellter Singstimme
wiedergibt, wirkt geradezu verblüffend; und der stürmische
Applaus, den die beliebte Künstlerin als P o 1 i c e m a n,
Clergyman (Geistlicher), eleganter Sw eil (diese vul-
gäre Bezeichnung entspricht ungefähr dem. was man früher
Dandy, auch wohl Toff nannte), als C i t y - C 1 e r k an der
Seaside, als Tommy (Rekrut) und E t o n b o y (junger
Schüler) findet, ist, wie ich mich selbst überzeugte, ein
wohlverdienter. Wie mir mitgeteilt wurde, soll Vesta Tilley
eine sehr glückliche Gattin und )»Iutter sein. Es ist nicht
uninteressant, dass seit einigen Jahren in England ein junger
femininer Künstler Reginald de Vieulla als Vesta
Tilley -Imitator auftritt und ebenfalls viel Beifall erntet.
Aber nicht nur als Volkssänger und auf dem
Specialitätentheater, sondern auch als veritabie Opern-
sänger sind Frauen auf der Bühne erschienen. So
trat in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhun-
derts Frau Conti-Geissler im königlichen Theater zu
Stockholm als Tenor auf und hat wie ein Kritiker
457
schreibt: „durch ihre grosse und vorzüglich geschulte
Stimme ganz ausserordentlich gefallen.“ Wenige Jahr-
zehnte zuvor hatte eine deutsche Künstlerin Felicitas
V. Vestvali dasselbe Experiment mit Erfolg unternommen.
Der wirkliche Name dieser Frau war Anna Marie Stege-
niann. Sie war die jüngste Tochter eines höheren Beamten
in Stettin und dort am 25. Februar 1829 geboren. Die
Eigenartigkeit ihres Wesens trat schon früh hervor. So
wünschte sie als Kind Missionsprediger zu werden. Wenn
das Schulzimmer im elterlichen Hause leer war, schlich sie
sich hinein, stellte sich aufs Katheder und predigte mit einer
über ihr Alter hinausgehenden Begeisterung, wie sie die
]\Ienschen bessern wolle. Zu anderen Zeiten tollte sie wieder
mit ihren Brüdern um die Wette, wie der wildeste Junge.
Als sie das Theater kennen lernte, erwachte in ihr
der glühende Wunsch, Schauspielerin zu werden, doch wie
so oft, wollten ihre Eltern absolut nichts davon wissen;
kurz entschlossen entfloh sie daher eines Tages in Knaben-
kleidern. Nach mancherlei Irrfahrten finden wdr sie als Gesang-
schülerin bei Mercadante in Neapel. Unter seiner Leitung
entwickelte sich ihre Stimme zu einem tiefen Kontra-
A 1 1 , so dass ihre Impresarien ihr rieten, Tenorpartien zu
studieren. Sie sang den „Romeo“ in Bellini’s „Romeo und
Julia“, den „Tancred“ und vor allem den „Figaro“ im „Bar-
bier. von Sevilla“ mit grossem Erfolg. Schliesslich erhielt sie
ein Engagement an der grossen Oper in Paris. Napoleon III.
beschenkte sie für ihren Romeo mit einer silbernen Rüstung.
Nach Amerika kam sie 1864; man trieb dort mit ihr einen
förmlichen Kultus, nannte sie „Vestvali, the Magnificent! “
und zahlte ihr eine Monatsgage von 10000 Frcs. Als sie nach
Mexiko kam, war dort gerade Henriette Sonntag als
Direktorin des dortigen Nationaltheaters gestorben,
und man wählte sie zu ihrer Nachfolgerin. Sie
willigte ein. Durch einen Misserfolg, den sie in Gluck’s
„Orpheus“ hatte, entmutigt, entschloss sie sich, zum Schau-
spiel überzugehen, trat zunächst in Romeo und Hamlet auf
und hatte auch hier denselben grossen Erfolg.
Männer, die in weiblichen Gesangspartieen auftreten,
458
waren in früheren Zeiten, namentlich in Italien, weit verbreitet,
anderswo findet man sie auf d e r 0 p e r n b ü h n e kaum,
so sehr manche Rollen — man denke an die ihre Wirkung
nie verfehlende Zerlinen-Parodie aus Fra Diavolo — dies
förmlich nahelegen und so häufig man auf dem Varietäten-
theater Männer mit keineswegs immer nur verstellten Frauen-
stimmen, sondern mit natürlicher Alt- und Mezzosopran-
stimme findet. Eine um so grössere „Rolle“ haben Frauen
darstellende Männer auf der Schaubühne gespielt.
Das Thema; Der Mann als Schauspielerin, von
der Zeit des altgriechischen Theaters, in dem, wie noch
jetzt u. a. in China, Anam sämtliche Frauen von
Männern gegeben wuirden, bis in die moderne Zeit, wo es
lals etwas „Unerhörtes“ galt, als ein Mann, wie der Peters-
burger Schauspieler Glagolin die Jungfrau von Orleans
verkörperte, ist ein so umfangreiches, dass man, um es zu
erschöpfen, ein eigenes Buch schreiben müsste.
Vor der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts betrat
keine Frau die Bühne. Shakespeare hat die herrlichsten und
zartesten seiner weiblichen Gestalten, wieder Desdemona noch
Julia, noch Perdita, jemals von Frauen dargestellt gesehen; von
den Heldinnen bis zu den Kammermädchen wurden alle von
Männern gegeben. Als im Jahre 1629 eine französische Ge-
sellschaft zwei Schauspielerinnen nach London brachte, erhob sich
ein Sturm sittlicher Entrüstung. Gence* **)) berichtet: „Als in
London 1629 eine französische Truppe erschienen war
und dabei das englische Publikum zuerst mit Schau-
spielerinnen bekannt machen wollte, wurden dieselben mit
faulen Eiern und Obst von der Bühne vertrieben.“
Erst ungefähr im Jahre 1670 unter Karl II betraten Damen
das englische Theater.* ) Ein Epigramm aus jener Zeit lautet:
„Da jetzt die Tugend farblos geht.
Das weibliche Geschlecht selbst ohne Scham dasteht.
So hat es sich den Männern zugeseilt.
Und tritt nun im Theater auf für Geld.“
*) Genee; Lehr- und Wanderjahre des deutschen Schauspiels, S. 289.
**) Ygl. Isaac Disraeli: „The history of the theatre during the Sup-
pression“, Essay in „Curiosities of Lileralure“, Bd. II.
459
Einer der letzten Schauspieler „welcher sich in weib-
lichen Rollen berühmt gemacht hatte, so dass er der
Liebling aller Damen war. lebte noch weit ins 18. Jahr-
hundert hinein und hiess William Kynaston. Häufig fuhren
die vornehmsten Ladies, wenn er die Rolle der Julia oder
Cordelia gespielt hatte, mit ihm im Hydepark umher und
weideten sich an seiner Grazie, Zurückhaltung und dem
schönen Anstande, sowie an der Täuschung, von welcher das
grosse Publikum befangen war, wenn es den Jüngling für
eine junge, reizende Miss hielt.“ („He was so great a favo-
rite with the fair sex, that the court ladies used to take
him in their coaches for an airing in Hyde Park“.) Fast
ebenso beliebt waren im Anfang des 17. Jahrhunderts Stephen
Hammers ton, „the most noted and beautiful women actor“
und Alexander Goffe „the woman-actor at Blackfriars.“ Es
ist nicht ohne Interesse zu hören, wie einige deutsche Lite-
raturhistoriker diese dem heutigen Zeitgeschmack so fremde
Sitte erklären und beurteilen. Kreysig*) schreibt: „Es
wurde bekanntlich zu Shakespeare’s Zeit kein Frauenzimmer
auf der englischen Bühne geduldet. — — Sämtliche Frauen-
rollen wurden also durch Knaben und Jünglinge gespielt,
die sich natürlich von früher Jugend an dazu vorbildeten und
so zu einer Sicherheit und Vollendung für ihre spätem Jahre
den Grund legen mussten, von dem man sich jetzt schwer
eine Vorstellung macht. Es sind dieses .die „Fräulein“,
zu denen Hamlet sagt; „Ihr seid dem Himmel um die Länge
eines Absatzes näher gekommen, seit ich Euch zuletzt sah.
Gebe Gott, dass Eure Stimme nicht wie ein abgenutztes
Goldstück den hellen Klang verloren habe.“ Es ist gar keine
Frage, dass die derbe Sprache mancher Shakespeare’ sehen
Szene mit dieser Besetzung der Weiberrollen zusammenhängt,
sowie mit dem Umstande, dass anständige Damen nur mas-
kiert das Theater besuchten. Aber wie viel Intriguen, Zer-
streuungen, Nebenrücksichten waren auch damit b e -
s e i t i g t , und welche Kunstschule musste dazu gehören,
•) Kroysig; Vorlesungen über Shakespeare. 3. Aufl. Berlin 1877.
Bd. I. S. 93.
460
um Knaben und Jünglinge in die Feinheiten Shakespeare’scher
Frauenrollen einzuweihen, so dass sie dem Meister genügten!“
Und Gervinus:*) „Man bedenke, wie viele Ablenkung
durch falschen Sinnenkitzel den Spielern und Zuschauern er-
spart, wie sehr die Sammlung auf das Wesen der Sache er-
leichtert war, nur durch den einen Umstand, dass keine
Frauen spielten. Die Sitte der Zeit hielt streng
auf diesen Punkt; — — . Wie viele Ränke hinter den
Kulissen, wie vieles, was den sittlichen Charakter des Schau-
spielers gefährdet, fiel mit dieser einen Gewohnheit hinweg!
Sie hatte aber auch noch eine tiefgreifendere Folge, die
der Schauspielkunst und ihrer feinsten Ausbildung zu Gute
kam. Es mussten die Frauen von Knaben gespielt
werden; dies machte die Knabentheater zu einer Notwendig-
keit; sie aber wurden eine Schule derSchau-
Spieler, wie wir sie in neuerer Zeit garnicht besitzen.
Und welcher Schauspieler! Aus diesen Schulen gingen die
Field und Underwood hervor, die schon als Knaben berühmt
waren; und wie mussten doch auch die Knaben schon ge-
bildet sein, die eine Cordelia, eine Imogen auch selbst nur
für rohere Gemüter erträglich spielen sollten!“**)
Auch in dem älteren deutschen Theater — so in den
Stücken von Thomas Schmidt in Heidelberg im 16. Jahr-
hundert — wurden alle weiblichen Charaktere von jungen
Männern dargestellt. Genee sagt über das deutsche Schau-
spiel im 17. Jahrhundert: „Von der ^Mitwirkung des
weiblichen Geschlechts war auch jetzt keine Rede.“
Am längsten hatte sich die alte Tradition in Italien
erhalten, wo noch im 19. Jahrhundert Frauenrollen von
Männern gegeben wurden. Goethe widmete bei seinem
Aufenthalt in Italien im Jahre 1790 dieser seltsamen Er-
*) Gervin.uä; Shakespeare. 2. Aufl. Leipzig 1850. BJ. I. S. 158f.
**■) Man vgl. noch zu diesem Punkte: „Die Schauspiele
der englischen Komödianten in Deutschland“, heraus-
geg. von .Julius Tittmann. Leipzig, 1880. S. VII.“ — Wülker, Ge-
schichte der englischen Literatur. Leipzig u. Wien 1896, S. 289. — John
Richard Green, a short Historj' of the English People. London 1878,
S. 419.
461
scheinung eine längere Betrachtung. „Es ist kein Ort in
der Welt,“ so meint er. „wo die vergangene Zeit so un-
mittelbar und mit so mancherlei Stimmen zu dem Beobachter
spräche, als Rom. So hat sich auch dort unter mehreren
Sitten zufälliger Weise eine erhalten, die sich an allen
andern Orten nach und nach fast gänzlich verloren hat.
Die Alten Hessen, wenigstens in den besten Zeiten, keine
Frau das Theater betreten. Ihre Stücke waren entweder
so eingerichtet, dass Frauen mehr oder weniger entbehrlich
warän, oder die Weiberrollen wurden durch einen Akteur
vorgestellt, welcher sich besonders darauf geübt hatte. Der-
selbe Fall ist noch in dem neueren Rom und dem übrigen
Kirchenstaat, ausser Bologna, welches unter anderen Privi-
legien auch die Freiheit geniesst, Frauenzimmer auf seinen
Theatern bewundern zu dürfen.“ Goethe findet die Ur-
sache der Erscheinung, dass sich in Rom die Sitte am
längsten erhalten habe, darin, dass „die neueren Römer
überhaupt eine besondere Neigung haben, bei Maskeraden
die Kleidung beider Geschlechter zu ver-
wechseln“. „Im Karneval“, so erzählt er, „ziehen viele
junge Burschen im Putz der Frauen aus der geringsten Klasse
umher, und scheinen sich gar sehr darin zu gefallen.
Kutscher und Bediente sind als Frauen oft sehr anständig
und, wenn es junge, wohlgebildete Leute sind, zierlich
und reizend gekleidet. Dagegen finden sich Frauenzimmer
des mittleren Standes als Pulcinelle, die vornehmeren in
Offizierstracht gar schön und glücklich. Jedermann scheint
sich dieses Scherzes, an dem wir uns alle einmal in der
Kindheit vergnügt haben, in fortgesetzter jugendlicher
Torheit erfreuen zu wollen. Es ist sehr auffallend wie
beide Geschlechter sich in dem Scheine dieser Umschaffung
vergnügen, und das Privilegium des Tiresias so viel als
möglich zu usurpieren suchen.“ „Ebenso haben“, so sagt
Goethe dann weiter, „die jungen Männer, die sich den
Weiberrollen widmen, eine besondere Leidenschaft, sich in
ihrer Kunst vollkommen zu zeigen. Sie beobachten die
Mienen, die Bewegungen, das Betragen der Frauenzimmer
auf das Genaueste; sie suchen solche nachzuahmen, und
462
ihrer Stimme, wenn sie auch den tiefen Ton nicht ver-
ändern können, Gescdimeidigkeit und Lieblichkeit zu geben;
genug, sie suchen sich ihres eigenen Geschlechts so viel
als möglich zu entäussern. Sie sind auf neue
Moden so erpicht, wie Frauen selbst; sie
lassen sich von geschickten Putzmacherinnen heraus-
staffieren, und die erste Aktrice eines Theaters ist meist
glücklich genug, ihren Zweck zu erreichen. Was die Neben-
rollen betrifft, so sind sie meist nicht zum besten be-
setzt; und es ist nicht zu leugnen, dass Colombine manch-
mal ihren blauen Bart nicht völlig verbergen kann. Allein
es bleibt auf den meisten Theatern mit den Nebenrollen
überhaupt so eine Sache; und aus den Hauptstädten an-
derer Reiche, wo man weit mehr Sorgfalt auf- das Schau-
spiel wendet, muss man oft bittere Klagen über die Un-
geschicklichkeiten der dritten und vierten Schauspieler
und über die dadurch gänzlich gestörte Illusion vernehmen.
Ich besuchte die römischen Komödien nicht ohne Vorurteil;
allein ich fand mich bald, ohne daran zu denken, ver-
söhnt; ich fühlte ein mir noch unbekanntes Vergnügen, und
bemerkte, dass es viele andere mit mir teilten. Ich dachte
der Ursache nach, und glaube sie darin gefunden zu haben,
dass bei einer solchen Vorstellung der Begriff der Nach-
ahmung, der Gedanke au Kunst, immer lebhaft blieb, und
doch das geschickte Spiel nur durch eine Art von Illu-
sion hervorgebracht wurde. Wir Deutschen erinnern uns,
durch einen fähigen jungen iMann alte Rollen bis zur grössten
Täuschung vorgestellt gesehen zu haben, und erinnern
uns auch des doppelten Vergnügens, das uns jener Schau-
spieler gewährte. Ebenso ehtsteht ein doppelter Reiz da-
her, dass diese Personen kein Frauenzimmer sind, sondern
Frauenzimmer vorstellen. Der Jüngling hat die
Eigenheiten des weiblichen Geschlechts
in ihrem Wesen und Betragen studiert;
er bringt sie als Künstler \vieder hervor; er spielt
nicht sich selbst, sondern eine dritte und eigentlich
fremde Natur. Wir lernen diese dadurch nur desto besser
kennen, weil sie jemand beobachtet, jemand überdacht hat;
463
und uns nicht die Sache, sondern das Resultat der Sache
vorgestellt wird.“
Goethe schildert dann, wie er die Locandiera
von Goldoni von einem Jüngling dargestellt ge-
sehen habe, (die Rolle ist durch die Düse in Deutsch-
land bekannt geworden) und meint, dass in dieser
Rolle, in der die unmittelbare Wahrheit durch eine
Darstellerin vielfach empören müsse, ein männlicher
Darsteller mit seiner Nachahmung mehr befriedige, und
kommt zu dem Schluss, dass, „wenn nicht jeder sich daran
ergötzen sollte, so findet der Denkende doch Gelegenheit,
sich jene Zeiten gewissermassen zu vergegenwärtigen, und ist
geneigter, den Zeugnissen der alten Schriftsteller zu glauben,
welche uns an mehreren Stellen versichern; es sei männ-
lichen Schauspielern oft im höchsten Grade gelungen, in
weiblicher Tracht eine geschmackvolle Nation zu entzücken“.
Reste der alten Gewohnheit, weibliche Rollen durch
Jünglinge darstellen zu lassen, sind auch heute noch vor-
handen, so werden die klassischen Dramen auch gegen-
wärtig noch in den höheren Schulen Englands und zwar
nicht nur in Oxford und Cambridge, sondern auch in den Public
schools, wde Eton und Westminster, ohne Hinzuziehung w^ eid-
licher Kräfte, ausschliesslich von Studenten und Schülern
aufgeführt. Ebenso ist es in den Vereinigten Staaten und
neuerdings auch wieder in Deutschland, wo die Werke von
Euripides, Sophokles und Aeschylus, Menander, Plautus und
Terenz in der von Hochschülern veranstalteten Wiedergabe —
namentlich sind die Lauchstädter Aufführungen der Hallen-
ser zu nennen — viel Interesse und Beifall fanden.*)
*) Vgl. Prime-Stevenson: „The Intersexes“, Abschnitt „College The-
atricals“, pag. 177—180. Dieser Autor warnt davor, Jünglingen, die sich
als Mädchen zu verkleiden lieben, dies zu gestatten, eine Vorsichtsmassregel,
die ich nach allem, was wir von dem transvesti tischen Trieb wissen, für
recht gut gemeint, aber nicht für sehr wirksam erachten kann. Selbstver-
ständlich entrüsteten sich auch die englischen Puritaner häufig gegen die
„Sünde“ der Darstellung weiblicher Rollen durch Schüler und Studenten. Wir
entnehmen dem Werke von Isaac Disraeli : „Curiosities of Literature“,
Rd. II, Essay: „The History of the Theatre during the Suppression“ folgende
Stelle: „The same puritanic spirit soon reached our universities; for when a
464
Aehnliches — wenn auch in nichts weniger als klassischen
Stücken und mehr faute de niieux — findet man bis heute bei
den Soldatenaufführungen, wie sie bei militärischen Festen
gebräuchlich sind; namentlich auch auf deutschen Kriegs-
schiffen, wie denen aller anderen Nationen, wo sich jlatrosea
und Schiffsjungen in ihren weiblichen Verkleidungen beispiels-
weise auf der Yacht „Hohenzollern“ und der Yacht „Victoria
and Albert“ schon oft vor Kaisern und Königen produzierten.
Häufig sehen wir, dass bei dem Theaterspielen der
Kinder manche Knaben sich mit Vorliebe zu weiblichen,
manche Mädchen zu männlichen Rollen drängen. Auch hier
liegt oft „ein tiefer Sinn im kindischen Spiel“. In seiner
Selbstbiographie erzählt Grillparzer von seinem jüngsten
Bruder Camillo, „der wie ein Mädchen stickte
und strickte“; er erwähnt die Theaterstücke, welche
die Brüder miteinander aufführten, und bemerkt dabei;
„Meinem jüngsten Bruder fielen die W e i b e r r o 1 1 e n zu,
und er stickte sich Gürtel und Armbänder und Halese-
schmeide aufs prächtigste mit eigener Hand.“ Es sei hier
beiläufig erwähnt, dass sich unter den Familienmit-
gliedern, namentlich den Schwestern von Dichtern
und Künstlern verhältnismässig oft sexuell Abartige,
besonders solche vorfinden, die vom vollmännlichen oder voll-
weiblichen Typus abweichen. Man erinnere sich, was Goethe
in „Wahrheit und Dichtung“ von seiner Schwester C o r n e-
1 i a erzählt und Adolf Wilbrandt in „Heinrich
von Kleist“ über Kleists Schwester Ulricke (pag. 41 bis
42): „es steckte ein origineller, unruhiger, aus den Schranken
Dr. Gager had a play performed at Christchurch [Oxford], Dr. Reynolds,
of Quccn’s College, terrified at the Satanic novelty, published „The Overthrow
of Stage-plays“ ; a tedious investive. Re>-nolds takes great paiiis to provc
that a stage-play is infamous, that a theatre corrupts morals; but the
most reasonable poLnt of at. tack is „the sin of boys
wearing thedress and affecting the airs women.“ Auf
den deutschen Klosterschulen und Gymnasien des Mittelalters führte man
ausser antiken Dramen und geistlichen Stücken auch besondere „Schul-
k o m ö d i e n“ auf. verfasst von Schuldramendichtem, unter denen Rollen-
hagen, Bartholomäus Krüger, Martin Rückhard und zu Ende des 17. Jahr-
hunderts Christian Weise die berühmtesten waren.
465
ihres Geschlechts herausstrebender Geist in ihr. Sie liebte
nichts so sehr, als abenteuerliche Situationen aufzusuchen
und in männlicher Verkleidung zu er-
scheinen.“ Wenn Wilhelm Steckei („Dichtung und
Neurose" pag. 34) schreibt: „Ulricke, von der erzählt wird,
sie habe mit Vorliebe Männerkleider getragen und sei nie
dem Liebeswahn unterlegen, das heisst, sie war homo-
sexuell geartet,“ so geht aus den im casuistischen Teil mit-
geteilten Fällen hervor, dass, wenn auch ülricke von
Kleist zu den sexuellen Zwischenstufen gehört hat, doch
keineswegs aus ihren transvestitischen Neigungen und dem
Mangel heterosexueller Empfindungen der Schluss „sie war
homosexuell geartet“ mit Sicherheit zu ziehen ist.
Recht bemerkenswert ist es, dass die eigentümliche Sitte
Frauen von der Schauspielkunst auszuschliessen als ein früher
nahezu allgemeiner Brauch sich bei Völkern findet, deren Kul-
tur sich völlig unabhängig von einander entwickelt hat, in China
und Japan genau so, wie einst in England, Deutschland und
Italien. Reiseschriftsteller, die sich lange in China aufhielten,
können nicht genug erzählen, wie bewunderungswürdig die
vollkommene Art sei, mit der sich in den den Frauen nicht
zugänglichen Theatern Burschen weiblich kleiden und die ganze
Eigenart chinesischer Frauen: ihre Stimme, ihren durch die
verkrüppelten Füsse erzeugten Gang veranschaulichen.
Matignon*) berichtet, dass er den „zierlichsten Frauenkopf“,
den er in China gesehen hätte, bei einem Frauen spielen-
den Schauspieler angetroffen hätte. Karsch**) schreibt:
„Auch im Theater der Chinesenstadt in San Franzisco werden
wie in China die Frauenrollen von Männern gespielt, und
auch dort ist die weiss- und rotgeschminkte Heldin des
Dramas, dessen Hauptpersonen ein chinesischer Romeo und
seine Julia sind, nicht von einer wirklichen Frau zu unter-
scheiden, auch nicht in der Sprache, die geziert und zögernd
ist wie die eines verlegenen, gefallsüchtigen Backfischchens.“
•) Matignon. Superstition, Crime et Misere en Chine. Lyon, Stork
u. Co. 1902. p. 206.
**) loco cit. p. .‘15.
Hirschfeld, Die TraDsvestitcn. . 30
466
Wie in China, so werden auch in Japan die Schauspieler,
welche ausschliesslich Frauen spielen sollen, schon in ihrer
Kindheit ausgesucht und auf ihren Beruf vorbereitet. Der
japanische Gelehrte Suyewo Iwaya sagt von ihnen: „Ich
weiss nicht, ob die Schauspieler, welchen die weiblichen
Rollen zugeteilt werden, alle homosexuell sind. Nur kann
ich sagen, dass diejenigen Schauspieler, welche, weil
sie Neigung dazu haben, für weibliche
Rollen erzogen wurden, sich nicht nur sehr wei-
bisch benehmen, sondern auch von Natur ziemlich weiblich
gebaut sind. \Venn man es einmal anatomisch durchforschen
wollte, so würde man gewiss viel Interessantes finden.“
Von den gegenwärtig berühmtesten Schauspielern, deren
Rollenfach Frauen sind, haben, wie Iwaya, der uns ihre
Photographien übersandte, mitteilt, Eizabro und Metora ein
ganz frauenhaftes Aussehen, während Fuknoske und
Gennoske „männlicher aussehen, aber auch viel von Natur
weibliches an sich haben.“ Seit einigen Jahrzehnten haben
auch in Japan die Frauen die Bühne erobert, ja sie haben
sogar Konkurrenzunternehmungen gegründet, Schauspieler-
truppen, die lediglich aus Frauen bestehen, in denen
also auch die Männerrollen von männlich verkleideten
Frauen gegeben werden.*)
Auch anderswo haben die Frauen, nachdem sie erst
einmal den Zutritt zur Bühne erhalten hatten, versucht,
gelegentlich männliche Rollen zu verkörpern. Von e,iner
der berühmtesten Schauspielerinnen in diesem Fach war
bereits die Rede: F. v. V e s t v a 1 i. Als sie 1868 am
Kgl. Lyceumtheater in London den Hamlet gab, ver-
sicherte Lord Bulwer, nie eine geistvollere Wiedergabe dieser
Rolle gesehen zu haben. Die „Union of Art“ in London
ernannte sie zu ihrem Ehrenmitglied, wie es die „Santa
Caecilia“ in Rom schon früher getan hatte, und als sie bald
darauf auch im Berliner Nationaltheater gastierte, widmete
ihrer Hamletdarstellung der Kritiker des Berliner Tageblatts
folgende bemerkenswerte Ausführungen:
•) cfr. Emile Guimet. Promenades Japonaises. Paris 1878. p. 198-
n. Karsch. loc. cit. p. 120.
467
„Ein blonder Nordlandssohn, mit hellem Haar und
frischer, gesunder Farbe, behäbig, schon ein wenig „embon-
pointiert“ und darum von Haus aus hypochondrischer
Neigung — so der Hamlet Felicita von Vestvalis. Er ist
mit Recht eine der berühmtesten und ohne Zweifel eine der
originellsten und genialsten Leistungen der . gesamten Schau-
spielkunst, ja er steht einzig in seiner Art und Bedeutung
da. Zur äusseren Verlebendigung hat IMutter Natur wohl
keine so glänzend begabt und spezifisch männlich be-
mittelt, wie eben Felicita von Vestvali. Schon der ganze
Gliederbau dieser Gestalt gemahnt an den — sogenannten —
Herrn der Schöpfung. Dazu ein machtvolles Organ, das oft
tiefer gestimmt scheint als ein Tenor. Was die geistige
Auffassung der Rolle anlangt, so deuteten wir unsere
Meinung schon an: von den zirka zwei Dutzend Hamleten,
welche wir im Laufe der Jahre sahen, ist der unserer Gastin
jedenfalls der originellste gewesen, auch hier nicht vom
Aeusserlichen gesprochen, sondern lediglich vom Intellektu-
ellen, nicht von der Schale, sondern vom Kern der Leistung.“
Schon beinahe ein Jahrhundert vor der Vestvali im
Juli 1779 hat Madame Felicitas Abt am Hoftheater zu
Gotha den Hamlet gespielt, „und Publikum sowohl wie
Kritik hatten das Experiment, das damals ebenfalls viel
Sensation erregte, mit Beifall aufgenommen. Felicitas Abt
stammte aus einer guten Familie in Biber ach. Dort sah
sie einmal den begabten Theaterdirektor Karl Friedrich Abt,
der das schwärmerisch veranlagte junge Mädchen für die
Bühne begeisterte. Felicitas stellte sich dem Direktor vor,
dieser gab ihr heimlich, ohne Wissen der Eltern, Unterricht
in der Schauspielkunst; bald wurde aus dem Lehrer der
Liebhaber, aus der Schülerin die Liebende, die sich von dem
Manne ihrer Wahl, da ihre Eltern in diese Verbindung nicht
willigen wollten, gern entführen liess.“
Im Anfang und der Mitte des 19. Jahrhunderts war eine
sehr beliebte Darstellerin männlicher Rollen Charlotte C u s h -
man; namentlich ihr Romeo gefiel sehr. Die Schauspielerin
war eine Amerikanerin. Sie war in Boston geboren, wurde
zuerst zur Opernsängerin ausgebildet, wandte sich dann aber
30*
468
dem Schauspiel zu und hatte ihre ersten grossen drama-
tischen Erfolge in London. Ihre CTlanzroilen waren Lady
Macbeth, Kardinal Wolsey und Romeo. Ihre erste Romeo-
darstellung fand im Haymarket im Jahre 1846 statt. Die
Schwester der Charlotte Cushman war ihre Partnerin als
Julia. Ueber die Aufführung schrieb ein angesehener eng-
lischer Kritiker: „Es war ein ungewöhnlicher Triumph. Romeo
gab ihrer Leidenschaftlichkeit und der männlichen Kraft ihres
Stiles freie Hand. Als Liebhaber übertraf sie in
der Glut der Liebe alle männlichen Schau-
spieler, die ich in dieser Rolle gesehen habe. In
der Szene mit dem Monarchen übertraf sie Charles Kean. Alles
Uebertriebene und Unvernünftige in Romeos Verhalten war
vergessen in der Glut seiner Liebe, und das Publikum wurde
zu der stürmischsten Erregung hingerissen." Es war also
durchaus kein Novum, als vor einigen Jahren auch Sarah Bern-
hardt, die übrigens darin auch in Frankreich in Mme. Judith
und Mme. Derigny schon Vorgängerinnen gehabt hatte, als
Hamlet debütierte. Bemerkenswert war es immerhin, dass
sie es in so vorgerücktem Alter tat, sie hatte die 60 be-
reits weit überschritten und dass sie neben Hamlet auch
den Mephisto, übermütige Kavaliere, wie den Bonvivant in
„Les Bouffons“ und den jungen Herzog von Reichsstadt in
„l’Aiglon“ ziemlich naturwahr darzustellen verstand. Von
anderen berühmten Hamletdarstellerinnen seien noch genannt
Mrs. Brown Potter in England, die Sada Yako in Japan,
die Müdjewka und Sandrock, während in der Verkörperung'
der Romeorolle wohl die Schröder -Devri ent obenan steht,
die „vergessen machte, dass dieser Charakter eigentlich von
einem Mannsbild agiert werden soll."
Eine Schauspielerin, die vor mehreren Jahren in Paris
durch ihr Auftreten in einer Männerrolle einen Theater-
skandal entfesselte, war die exzentrische Gräfin Morny, eine
Nichte Napoleons III. Sie stellte in einem selbstverlassten
Stück „Reve d’Egypte“, in dem sie den „Archaeologen Morny"
gab, eine Liebesszene mit ihrer Freundin, der bekannten
Pariser Schriftstellerin Colette Willy so lebendig dar, dass
die Logenbesucher beide mit Kissen, Fussbänken, Streich-
469
holzschachteln und Orangenschalen bewarfen. Trotz dieser
„Exekution“, dieser „Erleichterung für das Gewissen an-
ständiger, Menschen“ — wie der Figaro den Vorgang am
anderen Tage nannte — spielten die Schauspielerinnen vom
Lärm umtost ihre Rolle zu Ende. Schon einmal, ein halbes
Jahrhundert zuvor, hatte in Paris eine andere Gräfin
Morny durch ihre männlichen Allüren Aufsehen erregt. Wie
wir dem Büchlein „Modenarrheiten“ von Dr. Rudolf Schnitze*)
entnehmen, hatte diese für eine neue, bis dahin unerhörte
Mode bahnbrechend gewirkt, als sie auf dem ersten Wett-
rennen in Chantilly sich kurzer Hand den Paletot ihres Ge-
mahls über ihr wohl etwas dünnes Gew'and zog. Man
fand das so „reizend“, dass acht Tage später auf dem
zweiten Rennen bereits eine Menge Damen im Herrenüber-
zieher erschienen, und bald ganz Paris die neue Mode
adoptiert hatte.
Wie sehr sich übrigens hinsichtlich der Frauen in
Männer- und der Männer in Frauenrollen**) der Geschmack und
Gebrauch der Zeiten innerhalb weniger Jahrhunderte ge-
wandelt hat, (hat man doch schon die Frage aufgeworfen,
ob nicht überhaupt „Komödie spielen“ etwas „Unmänn-
liches“ sei, das man am besten den Frauen ganz über-
liesse)***) geht auch daraus hervor, dass während früher junge
Schauspieler Frauen allgemein darzustellen hatten, jetzt
schon eine ganze Anzahl Stücke existieren, in denen Jüng-
linge fast stets von Frauen gespielt oder gesungen oder
auch getanzt werden, wie Spinoza in Uriel Acosta, der
junge Graf im Königsleutnant, Vittorino in Renaissance.
Auf manchen grossstädtischen Bühnen, namentlich in London
*) Ein Spiegelbild der Zeiten una Sitten für das deutsche Volk. Berlin.
Nicolaische Verlagsbuchhandlung. 1868.
**) Theodor Fon taue spricht sich in „Causerien über Theater'
(pag. I9j über die weibliche Besetzung von Männerrollen in einer Kritik wie
folgt aus: ,sie krankten an jenem eigentümlichen Etwas, etwa „hier bin ich“";
das weibliche Darstellerinnen derartiger Rollen immer auszuzeichnen pflegt.“
***) Vgi. den Aufsatz von Madame de Renier: „Brauchen wir Männer
auf der Bühne?“ in: „Ich begleite Dich.“ I. Jhg. Nr. 31.
und Xew-York, ist man bereits dahin gekommen, dass man
in Ballets und in den sogenannten Revuen fast alle Männer-
partien mit Damen besetzt.
Die Sitte der sogenannten „Hosenrollen" wurde
von der Opernbühno übernommen, in deren Heimatland
Italien ursprünglich auch alle weiblichen Gesangspartien
von jungen Männern (zum Teil sogar von Castraten)
gegeben wurden. Die Komponisten mussten deren Stimmen
natürlich auch für die Darstellung von Jünglingen ver-
wenden. Als endlich den Frauen dieses Gesangsfach frei-
gegeben wurde, übernahmen sie damit auch die männ-
lichen Sopran-, Mezzosopran- und Altpartieen und so er-
klärt es sich, dass noch bis heute fast alle Opernkompo-
nisten solche Rollen zu verzeichnen haben.
Wir nennen — ohne auf Vollständigkeit Anspruch zu
erheben — von solchen männlichen Frauenpartien: Beethovens
Fidelio, aus Mozarts Opern den Cherubin in Figaros Hoch-
zeit. die drei Knaben in der Zauberflöte, Tdamantes in
Idomeneus, von Richard Wagner den Feenkönig in den Feen,
Adriano in Rienzi, den jungen Hirten im Tannhäuscr, die
vier Pagen in Lohengrin; Urbain in Meyerbeers Hugenotten,
die Titelrolle in Webers Oberon, Orpheus und Eros in Glucks
Orpheus und Eurydike, Björn in Holsteins Haideschlacht,
Sandmännchen und Taumännchen in Humperdincks „Hänsel und
Gretel"; ferner Siebei in Gounods Margarethe, Benjamin in ^^le-
huls Joseph von Aegypten, Ascanio in Berlioz’ Benevenuto Cel-
lini, Lazuli in Chabriers gleichnamiger Oper, Carlo Bracchi m
des Teufels Anteil von Auber und den Pagen in Joncieres’ Johann
von Lothringen; aus italienischen Opern seien genannt Romeo in
Bellinis Montecchi e Capuletti, Orsino in Lucrezia Borgia von
Donizetti und Pierotto in seiner Linda von Chamounix, Rossinis
Tancred und Oscar im Maskenball, Junker Spärlich im Fal-
staff Verdis; aus Operetten endlich u. a. von Jacques Offen-
bach der Xiclas in Hoffmanns Erzählungen, Orest und
Pylades in der schönen Helena, Cupido in Orpheus in der
Unterwelt, Fritzchen aus Fmdonios Lied; von Strauss Prinz
Orlofsky in der Fledermaus, die Titelrolle in Prinz Methu-
salem, Suppes Bocaccio im gleichnamigen Stück, Ganymed in
der schönen Galathe, die Titelrolle in Lecoqus der kleine
Herzog und andere mehr.
Eine Oper, die direkt die Geschlechtsverkleidung zum
Gegenstände hat, ist „Achille in Sciro“.*)
Der höchst originelle Text, der sich an die oben bereits
erwähnte Geschichte des Achilles unter den Töchtern des
Lykomedes anlehnt, sei kurz skizziert;**) „Achill lebt, als
Weib unter dem Namen Artamene verkleidet, in Sciro am
Hofe des Königs Licomede. Niemand in Sciro ahnt den
Trug. Deidamia, des Königs Tochter verliebt sich in ihre
Ziehschwester Artamene- Achille und gesteht Achill diese
Liebe. Achill verweist sie mit den Worten „mä questo e
Bol frä cavagliere e damä“ (dass Liebe doch nur zwischen
Mann und Weib üblich sei), doch das beeinträchtigt das
Gefühl der Deidamia nicht und Achill erwidert schliesslich
auch ihre Liebe. Ulisses kommt mit seinem Vertrauten Ar-
sindo an den Hof, er hat erfahren, dass Achill sich dort
in W e i b e r k 1 e i d e r n verborgen aufhält und will ihn
zum Waffenhandw'erk holen. Arsindo soll sich als Juwelen-
Händler verkleiden, um bei den Mädchen des Hofes nach
Achill Umschau zu halten. Nachdem er Artamene- Achill ge-
sehen, ohne ihn Zu erkennen, hat sein Herz sofort Feuer
gefangen. Aber auch der Vertraute des Königs Meraspe
liebt Artamene und bittet den König um die Hand der
Pflegetochter. Der König vertröstet ihn mit der Zusage, die
er ihm jedoch nicht gewähren kann, denn er liebt selbst
Artamene-Achill. Er bittet seine Tochter Deidamia, für
ihn bei Artamene zu werben. Deidamia. bestürzt, in ihrem
eigenen Vater einen Nebenbuhler zu finden, singt eine Arie
„Infelice, che sento“, die in ihrer herben und echten Schönheit
uns das peinliche der Situation kaum empfinden lässt. Aber
Licomede hat nicht abgewartet, bis seine Tochter Deidamia
•) „Achille in Sciro", dramma per musica von Antonio Draghi.
Dichtung von Cav. Ximenez. Aufgeführt in Wien 18. Nov. 1663 zum Ge-
burtstage der Kaiserin-Witwe Eleonora. Partitur No. 17 287 in der Wiener
Hofbibliothek. Ital. Te,vtbuch 4® in Mailand (Brera).
•*) Nach einem bisher noch nicht veröffentlichten Werke von Dr. M.
N e u h a u s über den Komponisten Antonio Draghi.
472
für ihn um Artamene geworbön hat. Er trifft seine Pflege-
tochter und hält selbst um ihre Hand an. Artamene-
Achille gibt ihm ohne Zögern das Ja-Wort. Deidam.ia hat
sehr bald erfahren, dass Artamene den König erhört hat
und macht dem verkleideten Helden erregt den Vorwurf des
Treubruchs, ln sehr merkwürdigen Worten beruhigt Arta-
mene-Achill die Eifersüchtige:
„Credi bella ti prego Glaube mir, Schöne, ich bitte dich,
,,Che se mi giungo ä lui wenn ich mich ihm verbinde
„A te rai lego.‘‘ verbind’ ich mich dir.
Meraspe, verblendet durch das Gefühl, in seinem Herrn
und König einen Nebenbuhler zu haben, beschwört diesen,
von Artamene zu lassen, denn sie sei im Bunde mit Ulisses,
um dem Leben des Königs nachzustellen. Der König kämpit
lange mit sich und beschliesst endlich den Tod der beiden.
Achill tritt auf. Er hat von dem Ausbruch des trojanischen
Krieges vernommen und klagt pathetisch (wie es in der
venezianischen Oper üblich ist): „Asien zittert unter der
Kriegslast und vom Xantosflusse winkt Lorbeer. Ich bleibe
unkriegerisch hier! Was soll ich anfangen, wenn man zu den
Waffen eilt? Die Liebe raubt die Freiheit und Mars bricht die
Ketten der Liebe.“ Von diesem leidenschaftlichen Gesang er-
schöpft, begibt sich Achill-Artamene zum Hintergründe der
Bühne, um dort in einer Grotte sich zum Schlafe nieder zulegen.
Rullo, ein Diener des Königs, tritt auf. Er ‘hat merkwür-
dige Dinge von einer Verschwörung des Ulisses und (h'r
Artamene gehört, und bescnliesst, sich als Weib zu ver-
kleiden, um so besser „weibliche Schlauheit ergründen zu
können.“ Als er abgeht, wird er von dem sich nahenden Ar-
sindo bemerkt, welcher eifersüchtig klagt: „Weh mir, ihr Götter,
was sehe ich! Dort ruht Artamene! Alle Männer verschmäht
sie und mit diesem tölpelhaften Diener lässt sie sich ein!“
Ihm naht Deidamia und fragt ihn, ob er nicht Artamene ge-
sehen habe. Arsindo: „Ja, sie war gerade mit einem jungen
Manne beisammen.“ Er weist zur Grotte hin, wo Doida-
mia nun Artamene erblickt. Deidamia erweckt sie und über-
schüttet sie mit heftigen Vorwürfen: „Treulose, du bist auf
473
frischer Tat ertappt. Du kannst nicht leugnen, in dieser
Grotte mit einem jungen Manne beisammen gewesen zu sein.“
Artamene erwidert mit Bedeutung: „Mit dem bin ich
immer beisammen.“
Deidamia; „So lass ihn seiner Wege gehen."
Artamene: „Das erlaubt das Schicksal nicht.“
Es folgt eine burleske Liebesszene zwischen dem Diener
Rullo und der alten Dienerin Pittora. Beide haben ihr Vor-
haben sich zu verkleiden ausgetührt, Rullo erscheint als
Artamene, die alte Pittora als Ulisses. Der dazutretende
König wird durch die Verkleidung getäuscht und lässt die
beiden festnehmen, um die Wahrheit über ihre angebliche Ver-
schwörung ermitteln zu lassen. Arsindo naht als Juw'elen-
Händler kostümiert, die beiden Gefangenen kommen wieder
zurück, nachdem sie als Rullo und Pittora erkannt sind,
und der König lässt nach Deidamia und Artamene schicken.
Diese beiden treten zusammen mit Ulisse auf, um unter den
Kostbarkeiten Arsindos zu wählen. Deidamia nimmt ein Ge-
schmeide, Artemene ein Schwert. Daran erkennt
Ulisse sie als Achill. Der König, der sphweren
Herzens von der geliebten Artamene lassen muss, ruft aus:
„Artamene gradita, Achille mio tesero, t’amai donzella. e
semideo t’onoro.“ (Artamene, meine Wonne, Achill, mein
Schatz; dich liebte ich als Mädchen und huldige dir dem Halb-
gott!) Er resigniert und macht Achill zu seinem Schwieger-
sohn, ehe er ihn in den Krieg entlässt.*)
Der Umschwung der Anschauungen ist auf diesem Ge-
biet ein so vollkommener, dass, während Frauen in Männer-
•).Eine andere Oper, der ebenfalls das Verkleidungsmotiv zugninde
liegt, ist Charles Lamb: „Comic Opera“ (ohne weiteren Titel); Love-
I a c e, dessen Werbung V i o 1 e 1 1 a zurückgewiesen hat, lässt sich als
Soldat anwerben und geht nach Spanien. Violetta als Offizier verkleidet,
folgt ihm nach Gibraltar; Jesse, ihre Jungfer, begleitet sie als Diener ver-
kleidet. .Tm dritten Akt drillt Violetta mit affektierter Brutalität die Re-
kruten und versetzt dabei Lovelace einen Schlag, worauf dieser sie mit dem
Bajonett erstechen will. Bei der kriegsgerichtlichen Verhandlung wird Vio-
letta ohnmächtig und von Lovelace erkannt.
474
partieen heute kaum noch aesthetische und ethische Be-
denken erwecken — früher erschien es als Gipfel des Un-
schicklichen — die Darstellung von Frauen durch Männer
jetzt fast nur im komischen Fach gestattet ist. Verschwin-
dend seltene Ausnahmen, wie die Schauspielerin Edwards,
deren männliches Geschlecht bezeichnenderweise erst nach
ihrem Tode festgestellt wurde, und den Jeanne d’ Arc-Darsteller
Glagolin berührte ich bereits. Im allgemeinen werden Frauen
von Männern auf der eigentlichen Schaubühne nur noch in
grotesken Schwänken und burlesken Possen gegeben, wie in dem
vielaufgeführten englischen Stück „Charleys Tante“, dessen
Verfasser Penley auch der erste und beste Interpret der vicl-
belächten Titelrolle war oder in der deutschen Posse „Ame-
rikanisch“. In diesen und ähnlichen Rollen kommt es nicht
darauf an, Frauen, sondern vielmehr Männer, die als Frauen
verkleidet sind, zu verkörpern oder auch Frauen zu
parodieren, wie es einige unserer berühmtesten Komiker, so
Robert Johannes als Tante Malchen, Arnold als Thislu*.
Engels in den lustigen Weibern, Kainz, Pategg und Basil
gemeinsam in der Vorlesung bei der Hausmeisterin, in Eng-
land neben" Huntley und Bobey vor allem der ausgczeichmde
jüngst verstorbene Komiker Dan Leno taten, nie ohne Sl üniu'
von Heiterkeit und Applaus zu entfesseln. Viel Amiisnm'nt
erregte es auch, als in der Mitte des vorigen JalirhunderlH
einmal ein Stück — das Fest der IlandwerkcT — auf faul
allen deutschen Bühnen „m i t verkehrter Bese t z n n g
aller Männerrollen durch Frauen, aller FramMinillm diinit
Männer“ auf geführt wurde.“
Fassen wir kurz die Gründe zusammen, welehi! Selian
Spieler voranlassten, in der Rolle des anderen ( lesclileeldn die
Bühne zu betreten, so müssen wir diejenigen, welche dit's mehr
oder weniger ausschliesslich tun, von denen \intersch('iden,
welche es nur neb('td)ei gidegentlieh versueli('n. UntiT
den b e r u f 5 m ä s s i g e n i'^rauendarstellcrn und Mäiuu'r-
darstellcrinnen gibt cs sicherlich eiiu! ganze Anzahl von
Zwischenstufen sowohl zweiten und dritlon, als ganz beson-
ders vierten Grades. Die gelegentlichen dürfte in der Mehrzahl
die schwierige schauspielerische Aufgabe reizen, neben Lii'b-
liabern und Bösewichten, neben Fürsten und Helden auch ein-
mal Personen des anderen Geschlechts darzustellen oder auch
die Erzielung des komischen Effekts. Jen Männer
und Frauen, die sich in geschickter Weise als Angehörige
des anderen Geschlechts geben, fast mit Bestimmtheit er-
reichen.
Zur Komik der Geschlechts Verkleidung.
Gehen wir davon aus, dass, wie allseitig anerkannt, das
Wesen des Komischen im Kontraste liegt, in dem zum Lachen
reizenden Verhältnis zwischen der Anforderung, mit der eine
Person oder Sache uns entgegentritt und ihrer wirklichen, dem
nicht entsprechenden Bedeutung, oder wie Kant es kurz defi-
niert: in „der plötzlichen Auflösung einer Erwartung in ein
nichts“, so liegt klar auf der Hand, dass diese Vorbedingungen
des komischen Effekts bei der Geschlechtsverkleidung als der
Zusammenfassung zweier Elemente —
Geschlecht und Tracht — zu einer sich wider-
sprechenden Einheit in hohem blasse gegeben
sind. Je offenkundiger dieser Gegensatz, um so d e r b -
komischer, burlesker, je verborgener, um so fein komischer, hu-
morvoller ist die Wirkung. Daher wirkt die Verkleidung bei
jemandem, der sich dem andern Geschlecht zugehörig fühlt und
sich in dessen Kleidung natürlich zu bewegen und zu benehmen
weiss, weniger drastisch und grotesk, als bei einem Menschen,
der sein wahres Geschlecht nicht verbergen kann, indem er es
durch die seinem Anzug nicht entsprechenden Gebärden und
Bewegungen verrät.
Es gibt wohl kaum einen Humoristen, der sich dieses
dankbaren Stoffs nicht gelegentlich bedient hat. Welcher
Deutsche erinnert sich nicht aus seiner Jugendzeit an
Theodor Körners „Vetter aus Bremen“, in dem sich nicirt
nm der Vater und Liebhaber Gretchens, sondern diese ebenfalls
als Vetter aus Bremen verkleidet, sodass dieser im XII. Auf-
tritt in drei Gestalten zugleich auf der Bühne ist,, oder „der
Gouvernante“ desselben Dichters, wo Franziska in der Ver-
476
kleidüng eines jungen Mannes von der Gouvernante die Briefe
zu erlangen sucht, welche sie den Schülerinnen vorenthält. In
der Unterlialtung mit ihr sagt sie leise für sich;
„Des Bruders Kleiderschrank hat mich ganz gut versehn.
Und sie erkennt mich nicht, da ihr die Brillen fehlen.“
Schon einer der ältesten deutschen Humoristen, Hans
Jacob Christoffels von Grimmelshausen, hat das
Verkleidungsmotiv geschickt benutzt. Wie drollig wirkt
immer wieder das 24. Kapitel im Simplicissimus,
dessen Ueberschrift lautet: Simplicius wird aus einem
Jüngling in eine Jungfrau verwandelt und bekommt unter-
schiedliche Buhlschaften.“ Er selbst erzählt: „Als wir nun
in ein grosses Dorf kamen, darinnen etliche den Reutern
zuständige Bagage logierte und jeder hin und wieiler
in die Häuser ging, zu suchen, was etwa mitzunehmen wäre,
stahl ich mich auch hinweg und suchte, ob ich nicht ein alte:s
Bauernkleid finden möchte, gegen welches ich meine Narren-
kappe vertauschen könnte; aber ich fand nicht, was ich wollte,
sondern musste mit einemWeiberkleid vorliebnehmen; ich zog
selbiges an, 'weil ich mich allein sah, und warf das ineinige in
ein Versteck, mir nicht anders einbildeud, als dass icli minniHir
aus allen meinen Nöten errettet ’w'ordon. ln die.sem Aufzug
ging ich über die Gass etlichen Offiziersweiliern tml gegen und
machte so enge Schrittlein, als etwa Achilles getan, da dm
seine Mutter als Mädchen verkleidet zu des LyeomedeH 'I'ocli
tern gesellte; ich war aber kaum aus dmu Ibuise lieraiiH, aln
mich etliche Furagierer sahen un;l bessi'r springim Irnden,
denn als sie schrien: „Halt, halt!“ lief ich nur desto stärker
und kam ehender als sie zu obgeineldten Offi/ieriunen. Vor
denselben fiel ich auf die Knie iiiialer und liat um alln* Wt'iber
Ehr und Tugend willen, sie wolUni niicii vor diesen Huben be-
schützen; allwo meine Bitte nicht, allein gutni (''rt fand, son
dem ich wurde aucii von einer Rittmeisterm .ils Magd inge-
noinmcn, bei welcher ich mich beiiolfeu, bis MagUeburg, tim
Werberschanz, auch Havelberg und Perieberg von tlen Unsein
eingenommen worden.“
„Diese Rittmeisterin war kein Kind mehr, wicw'ohl eie noch
477
jung war. und vernarrete sich dermassen in mein glattes Ge-
sicht und geraden Leib, dass sie mir endlich nach lang gehabter
Mühe und vergeblicher umschweil'ender ''vVeitläufigkoit nur allzu
teutsch zu verstehen gab, wo sie der Schuh am meisten drücke,
ich aber war damals noch viel zu gewissenhait.tat, als wenn ich’s
nicht merkte, und liess keine andere Anzeigungen scheinen als
solche, daraus man nichts anders als eine fromme Jungfrau
urteilen mochte. Der Rittmeister und sein Knecht lagen in
gleichem Spital krank; deswegen befahl er seinem Weib, sic
sollte mich besser kleiden lassen, damit sie sich meines gar-
stigen Baurenkittels nicht zu schämen brauchte. Sie tat mehr
als ihr befohlen war und putzte mich heraus wie eine franzö-
sische Popp, welches das Feuer bei allen dreien noch mehr
schürte; ja es wurde endlich bei ihnen so gross, dass Herr und
Knecht eifrigst von mir begehrten, was ich ihnen nicht leisten
konnte und den Frauen selbst mit einer schönen Manier ver-
weigerte. Zuletzt setzte sich der Rittmeister vor, eine Ge-
legenheit zu ergreifen, bei der er mit Gewalt von mir haben
könnte, was ihm doch zu bekommen unmöglich war; solches
merkete sein Weib, und weil sie mich noch endlich zu über-
winden verhoffte, verlegte sie ihm alle Pass und lief ihm alle
Ränke ab, also dass er vermeinte, er müsse toll and töricht
darüber werden. Einstmals als Herr und Frau schlafen war,
stund der Knecht vor dem Wagen, in welchem ich alle Nacht
schlafen musste, klagte mir seine Lieb mit heissen Tränen und
bat ebenso andächtig um Gnad und Barmherzigkeit. Ich aber
erzeigte mich härter als ein Stein und gab ihm zu verstehen,
dass ich meine Keuschheit bis in den Ehestand bewahren
wollte. ‘‘
In Grimmelshausens: „Trutz-Simplex oder wunderselt-
same Lebensbeschreibung der Erzbetrügerin und Landstürzerin
Courage“ (Fortsetzung des „Abenteuerlichen Simplizissimus“)
ereignet sich das Umgekehrte. 1620, nach der Einnahme von
Prag durch die Bayern, hat Courage sich als Knabe verkleidet
und als solcher bei einem Rittmeister Dienst genommen. Bei
einer Rauferei entdeckt jemand ihr Geschlecht. Sie sagt: „Er
hat mir nach der Courage gegriffen“; daher ihr Name. Sie
wird später des Rittmeisters Geliebte.
In Wielands Aristipp (Bd. IL Brief 23ff.) erscheint
Lasthenia, Dienerin der Lais, als Jüngling verkleidet in der
Akademie. Diese schreibt über die Verkleidung: „Glücklicher-
weise hatte uns die Natur treulich vorgearbeitet. Denn Last-
henia besitzt wirklich mehr die Gesichtsbildung eines schönen
Knaben, als eines Mädchens; der Ton ihrer Stimme ist tief, wie-
wohl sanft und wohlklingend; dabei ist sie verhältnismässig ziem-
lich stark von Muskeln und Knochen, etwas breit von Schultern
und schmal von Hüften, und hat nicht "vdel mehr Busen, als
ein frischer, wohlgenährter Jüngling ihres Alters zu haben
pflegt; so dass sie im Notfall (mit Vorbehalt einer ganz kleinen
Bedeckung) auf der Palästra selbst für einen Jüngling gelten
könnte.“ Lasthenia schliesst in ihrer Verkleidung Freundschaft
mit dem schönen Cleophron, der sie schwängert.
In Wilhelm Meisters Lehrjahren findet sich nicht nur die
in Musik und Dichtung viel nachgeahmte Mignon*) als Jüng-
*) Von solchen Verarbeituneen des Mignonsujets seien u. a. genannt;
Karl Lebrecht Immer mann; Die Epigonen. (Roman.) Fia-
metta folgt Hermann in der Kleidung eines Knaben. — Joseph Frhr.
V. Eicbendorff; Ahnung und Gegenwart. Roman. 1815. Ein
Mädchen, das der Graf Friedrich in einer Räuberschenke getroffen, folgt
ihm unerkannt als der Knabe Erwin; erst nach ihrem Tode wird sie
als Mädchen erkannt. — Joseph Frhr. v. Eichendorff; Dan
Marmorbild. Novelle. Florio findet das von ihm geliebte Mädchen in
Knabentracht -»-ieder und geht mit ihr die Verlobung ein. — A u g u s t
G r f. V. P 1 a t e n. Treue um Treue. Im fünften Akt tritt NicolcUn
als Troubadour verkleidet auf, singt und spricht mit Aucassin. obno
von ihm erkannt zu werden. — Ernst Moritz Arndt; Rudolph von
Burgund. Romanze. Ein Mädchen, das den Helden liebt, dient ihm abs Pago
verkleidet. Er -»ird schwer verwundet, sie reisst sich das Hemd ah. um
ihn zu verbinden. Nachdem er dabei ihr Geschlecht erkannt hat. hei-
ratet er sie. — Hermann Kurz: Schillers Heimatjahre. Roman. Kap.
23 u. f. Die junge Laura, eine heimliche Tochter des Herzogs Carl Eugen,
erscheint als Zigeunerknabe auf der herzoglichen Redoute und entflieht un-
nattelbar von dort mit einer Zigeunerbande in 'ien Schwarzw.ald. 1- u d -
wig Achim von Arnim; „Die Gleichen". Der Graf von Gleichen
kommt mit der schönen Amra aus der Gefangenschaft zuruck. Seine oattin,
als Mann verkleidet, zieht ihm bis Venedig entgegen; Amra verliebt sich in
den vermeintlichen Mann. — E. T. A. H o f f m a n n ; „Per Artushof’' (in
den „Serapionsbrüdem“). Traugott kopiert im Artushof in Danzig ein Bild,
auf dem ein Jüngling neben einer Alten dargestellt ist. Die Figur dce
479
ling verkleidet, sondern gleich im Beginn des ersten Buches
auch Marianne, die „als junger Offizier gekleidet“ im Schau-
spiel „das Publikum entzückt hatte" und nun „mit ungewöhn-
licher Hast und Bewegung in das Zimmer trat, Federhut und
Degen auf den Tisch warf, unruhig auf und nieder ging“, bis
endlich Wilhelm kommt, „der junge, zärtliche, unbehinderte
Kaufmannssohn“. „Mit welcher Lebhaftigkeit“ — erzählt
Goethe — „flog sie ihm entgegen! mit welchem Entzücken um-
schlang er die rote Uniform!“
Ausser Marianne und Mignon enthält dieser Roman noch
ein drittes Mädchen in Männertracht; Im VII. Buch,
Kap_ 6 tritt ein „junger artiger Jägerbursche“ herein. Es ist
Therese, die Wilhelm zum Spazierengehen abholen will.
Sie erzählt ihm, dass sie auf einem Gut, wo sie
früher gelebt, sich der Forstwirtschaft angenommen. „Ich
hatte mir, um leichter zu Pferde fortzukommen und auch zu
Fusse nirgends gehindert zu sein, Mannskleider machen
Jünglings zieht ihn mächtig an; plötzlich stehen beide Originale leibhaftig
neben ihm; er kommt in das Haus der Alten, wo er entdeckt, dass der
Jüngling ein Mädchen ist. — Kotzebue: „Der Rehbock“. Das Kammer-
mädchen der Baronin verkleidet sich als Jüngling; die Pächtersfrau verliebt
sich in sie. — A. F. E. Langbein; „Thomas Kellerwurm“ (Roman
1806). Ein feiger Major verkriecht sich bei einem nächtlichen Angriff ins
Heu; seine Geliebte, die Marketenderin Gertrud Schnick, zieht seine Kleider
au und besiegt statt seiner den Feind. Als sic cs ein zweites Mal ver-
sucht, fällt sie und die Feigheit des Majors wird entdeckt. — Graf von
Benzei - Sternau: „Das goldene Kalb“ (Roman 1802): Die Eng-
länderin Bella William reist mit Klarenfeld in männlicher Tracht unter der
Bedingung, dass er sie nie an ihr Geschlecht erinnern darf. Als er um ihre
Liebe wirbt, verlässt sie ihn. — C. F. Meyer: „Gustav Adolfs Page“.
Der Page Leubelfing ist ein verkleidetes Nürnberger Patriziermädchen. —
Wiederholt hat auch Wilhelm Heinse das Verkleidungsmotiv behan-
delt, so in „ Ardinghello“ und in den Begebenheiten des Enkolp. — Endlich
sei noch erwähnt, dass auch in Schillers „Turandot“ (4. Aufz., 8. Auftr.)
die Frau des Barak als Mann verkleidet zu Kalal durch die Wache schleicht.
— Auch in dein gegenwärtig erscheinenden geschichtRchen Roman von Wil-
helm J e n B e n „Deutsche Männer“ (ein Ehrenblatt znun 100jährigen Ge-
dächtnis), begleitet Ebergard Falke, die Tochter des Wirtes am Gibichen-
stein bei Halle, in männlicher Verkleidung unter dem Namen Eberhard deü
Herzog von Braunschweig-Oels auf seinem Zuge.
480
lassen. ■■ Lothario erkennt sie in diesem erst, nachdem man
ihn durch Scherze aufmerksam gemacht hat.
M 0 1 i e r e hat das Motiv u. a. benutzt in „L’Etourdi “
wo (Acte III, Scene XI.) M a s c a r i 1 1 e, valet de Lelie,
deguise en femme auftritt. Sein Herr sagt von ihm; „Bon
Dien, qu’elle est jolie, et qu’elle a l’air mignon!“ Ferner in
„Don Garcie de Navarre“, (Acte V, Scene III, IV,
V, VI. Done Ignes, deguisee en homme) sowie in „Mon-
sieur de Pourceaugnac“ (Acte III, Scene II — VII.
..Mr. de Pourceaugnac, en femme.“) Da man ihm vorgeredet
hat, dass er verhaftet und gehängt werden soll, will er in
Weiberkleidern fliehen. In Scene II übt er sich im weib-
lichen Benehmen.
In Boccaccios Decamerone (zweiter Tag, dritte Er-
zählung) macht Alessandro mit einem Abte Bekanntschaft,
in dem er hernach eine Tochter des Königs von England er-
kennt, welche sich mit ihm vermählt. Bocaccio variiert auch
die alte Sage vom !\Iinnesänger Reinmann von
Brennenberg, die auch in andere romantische Dich-
tungen übergegangen ist. Dieser Sänger soll sich als heim-
licher Geliebter der Herzogin von Oesterreich als Krämerin
verkleidet an den Hof zu Paris begeben haben, „wo er bei
allen Hoffräulein schlief.“
Keiner aber hat den Stoff meisterlicher gehandhabt, wie
Shakespeare. Wer hat nicht schon herzlich lachen müssen,
wenn in den lustigen Weibern von Windsor (Akt IV, Szene 2)
Falstaff in Weiberkleidern erscheint, Ford ihn für die dicke
Frau aus Brentford hält, die er nicht leiden kann, ihn durch-
prügelt und hinauswirft oder wenn im Sommernachts-
träum (I. Aufz., 2. Szene) die Rollen verteilt werden.
Flaut soll die Thisbe spielen: „Ne, meiner Seel’, sagt er, „lasst
mich keine Weiberrolle machen, ich kriege schon einen Bart.“
Da drängt sich Zettel, der Weber, zu der Weiberrolle;
„Wenn ich das Gesicht verstecken darf, so gebt mir
Thisbe. Ich will mit ’ner terribel feinen Stimme reden;
„Thisne, Thisne! — Ach Pyrainus, mein Liebster schön!
Deine Thisne schön, und Fräulein schön!“ —
481
Ausser F aistaff ist Bartholomew in ,,the Taming of the
Shrew" die einzige Männergestalt Shakespeares, die in Frauen-
kleidern erscheint, dagegen finden sich als Frauen verkleidete
Männer in „Henry VI.“, in „the two gentlemen of Verona“,
„the Merchant of Venice“,*) in „as you like it“ in „what
you will“ und „Cymbeline“. Ich verweise auf die 1904
erschienene Cissertation von Erich Schulz: „Das Verkleidungs-
motiv bei Shakespeare“, in welcher der Verfasser die dem
grossen Briten für die Verkleidungsszenen zur Verfügung
stehenden Quellen mit viel Fleiss und Verständnis unter-
sucht hat. Carriere**) erinnert in dieser Hinsicht „an
'das bei den Spaniern zunächst bei Lope (1562 — 1635)
so beliebte Motiv, dass Frauen in Männertracht den
Männern nachreisen. sei es, dass die Gattin auch
in Not und Unglück den Gatten nicht verlassen, sei es,
dass die Geliebte neue Herzensabenteuer ihres Verlobten durch-
kreuzen und hintertreiben oder ihn durch hingebende Treue
überwinden will. Auch Calderon (1600 — 1681) hat
derartige Verkleidungen, am kecksten und belustigendsten
verwertet sie T i r s o de Molina (1585 — 1648) im „Gil mit
den grünen Hosen“.
Von alten englischen Dramen, die das Verkleidungs-
motiv behandeln, sei das Lustspiel: „The Plain Dealer“
(1677) von William Wycherley genannt; ein Schiffskapitän,
der ein Menschenfeind geworden ist, hasst seine frühere Ge-
liebte, die ihm als Page verkleidet in den Krieg folgt. In
diesen Pagen verliebt sich die gegenwärtige Geliebte des
Kapitäns und verabredet mit ihm ein Stelldichein. ‘ Der Page
verrät es dem Kapitän, der dann seine Stelle einnimmt und
später den als Mädchen erkannten Pagen heiratet. V o 1 -
*1 P o r t i a, die im Kaulmaim vou Venedig als Doktor der Rechte
verkleidet den Prozess zwischen Shylok und Antonio entscheidet, besitzt ein
deutsches Seitenstück in der mittelalterlichen Ritterdichtung; „Kaiser
Lucius Tochter“ (Hägens Germania IX, 187Ff.), in der ebenfalls die
Heldin als Sachwalter ihres Geliebten verkleidet auftritt. Die gemeinsame
QueUe beider Dichtungen sind die „Gesta Romanorum“.
**) Jahrbuch der Shakespeare-Gesellschaft VI, 3G7 ff.
Hirachfeld, Die Transvestiten.
31
482
t a i r e hat in der Komödie „La Prüde den Plain-Dealer
Wycherleys frei bearbeitet. Auch Beaumont und
Fletcher; „Philaster or Love lies a Bleeding" (1606) ver-
dient genannt zu werden, ein Drama, in dem Euphrasia als
Page verkleidet unter dem Namen Bellario in die Dienste des
Prinzen tritt, den sie liebt, so^\de Ben Jonson’s: „Epi-
coene or the silent woman“ ein Lustspiel, in dem Morose, der
keinen Lärm vertragen kann, ein stilles Weib sucht. Sein
Barbier führt ihm ein solches zu, die er auch heiratet.
Aber gleich nach der Trauung beginnt sie mit den Hoch-
zeitsgästen einen fürchterlichen Spektakel und entpuppt sich
schliesslich als verkleideter junger Mann. In der neueren
englischen Literatur hat sich namentlich Lord Byron
für das Verkleidungssujet interessiert, so wird in „Lara“
der Page Kaled als Mädchen erkannt, als er ohnmächtig
neben seinen im Kampf gefallenen Herrn niedersinkt und von
Don Juan, der in Mädchenkleidern auf dem Sklavenmarkt
gekauft und in das Harem gebracht wird, wo er ihm sehr
angenehme Abenteuer erlebt, sagt Byron i^Canto V. Str. 105.;;
„His youth and features favor’d the disguise“.
Um auch noch ein Werk eines zeitgenössischen Humo-
risten zu nennen, seien M a r k T w a i n’s „The Adventures
of Huckleberry Pinn“ (Bd. I, Kap. X — XI) erwähnt. Hier
beredet der Neger Jim den Huckleberry, eich als Mädchen zu
kleiden. Huckleberry tut es, übt sich in mädchenhaftem Be-
nehmen und fährt abends im Cauoe zu einer kleinen Stadt
am Illinois-üfer des Mississippi. Er sieht in einem Hause
durch das Fenster eine Frau und tritt ein. Das Weib er-
kennt ihn bald als Jungen, nicht an seinem Gesicht, aber an
seinen Bew'egungen, und erklärt ihm, wie Mann und Weib
sich in verschiedenen Verrichtungen unterscheiden, beim E i n -
fädeln eines Fadens, beim Werfen, und haupt-
sächlich: „And mmd you, when a girl tries to catch anything
in her lap, she throws her knees apart; ehe
don’tclapthe together, the way yon did when
yon catched the lump of lead.“ Der Unterschied zwischen
den männlichen und weiblichen Bewegungen ist von Mark
483
Twain gut beobachtet und in sehr drolliger Weise
geschildert.
Die komische Wirkung ist es auch, die es heute noch
zu Goethes Zeiten im Mummenschanz und Maskenscherz,
bei Kostümfesten und karnevalistischen Vergnügungen so
verlockend erscheinen lässt „die Kleidung beider Geschlechter
zu verwechseln.“ Was unser grosser Gewährsmann in seiner
italienischen Reise so anschaulich über den Karneval in Rom
berichtet, findet sich bei ähnlichen Veranlassungen mehr oder
weniger fast überall, nicht selten sogar mit dem Charakter
eines traditionellen Gebrauchs. So weiss Freimark*) zu er-
zählen, dass in Saarlouis ein Volksfest stattfindet, bei dem
es Sitte ist, dass ein als Weib verkleideter Arbeiter einen
Tannenbaum herumträgt. Als ich letzten Winter den Karneval
in Nizza mitmachte, bei dem wohl das alte bunte muntere
Faschingstreiben gegenwärtig noch am lebhaftesten pulsiert,
fiel es mir, wie schon vor Jahren, wieder auf, wie mele
Männer und Jünglinge, namentlich auch aus den niederen
Volksklassen, sich darin gefielen, als Frauen zu erscheinen;
nicht ganz so gross, aber immerhin noch recht ansehnlich
war die Zahl weiblicher Personen, die männliche Typen dar-
stellten. In der Tat führt ja die Verkleidung des Geschlechts
oft auch zu den drolligsten Verwechslungen; ich will eine
Geschichte zitieren, die die „Tribuna“ in Rom vor einigen
Jahren brachte. Die Episode ereignete sich auf einem der
grossen Karnevalsbälle im Eldorado zu Rom: „Ein Student,
der dort in einer Parodie auf Mascagnis „Iris“ die Rolle
einer japanischen Tänzerin verkörpert hatte, war über seinen
Erfolg im Mädcheugewande so erfreut, dass er die Frauen-
kleider auch während des Tanzes anbehielt. Als er während
einer Tanzpause durch die besetzten Säle schleuderte, raunte
ihm plötzlich jemand in’s Ohr: „Ein herrliches Geschöpf!“ Er
dreht sich um und gewahrte einen Jüngling, in dessen Antlitz
sich eine so naive Bewunderung ausdrückte, dass dem Stu-
denten sofort der Gedanke durch den Kopf fuhr: „Aha,
ein verliebter Herr, der mich für ein echtes Weib hält!“
*) loc. cit. p. 402.
31
484
Der Student beschloss, den abenteuerlustigen Jüngling gründ-
lich hineinzulegen; er ergriff seinen Arm, warf ihm einen
seiner feurigsten Blicke zu und flüsterte mit verstellter
Stimme; „Gefalle ich Dir, Kleiner?“ — „Sehr“, erwiderte er-
rötend der junge Mann. Der Student führte seinen ent-
zückten Verehrer kreuz und quer durch die Tanzsäle und
Hess dann leichthin die suggestiven Worte fallen: „Ich habe
riesigen Appetit.“ — „Wirklich? Dann wmllen wir essen,“
antwortete schlicht und einfach der Jüngling. Gesagt ge-
tan. Bald darauf nahm ein verschwiegenes Kabinett das
Liebespärchen auf. Man ass und trank vorzüglich, als man
jedoch gerade ein bischen zärtlich werden wollte, kam die
Rechnung. Der junge Monn sah sie nur oberflächlich an und
sagte dann mit verbindlichem Lächeln zum Kellner: „Der
Herr zahlt!“ Der Kellner verbeugte sich diskret. Der Stu-
dent aber betrachtete mit weit aufgerissenen Augen seinen
..Verehrer“ und fragte mit kaum hörbarer Stimme: „Was sagtest
Du soeben!^ Wer zahlt?“ — ,-,Lu!“ — „Ich?“ — _Na, ja,
der Herr zahlt doch immer.“ — „Ja, bist Du denn
nicht dprHerr?“ — „Ich? Keine Ahnung!
Ich bin nur als !Mann verkleidet, im ge-
wöhnlichen Leben bin ich Modistin.“*)
In einem alten Schauspiel „Galathea“ hat John L y l y
ein- verwandtes Motiv benutzt; Da Neptun jedes Jahr die
schönste Jungfrau zum Opfer verlangt, lassen zwei Bauern
in Lincoln ihre Töchter Galathea und Phillida als Ktmlum
anziehn. Jedes Mädchen hält die andere für einen Knaben
und beide verlieben sich ineinander. Der KnoBm wird gci-
löst, indem Phillida durch eine Gottheit in einem wirk-
lichen Knaben verwandelt wird.
Nicht immer nehmen Maskenscherze dieser Art ein gutes
Ende. So ereignete sich ein recht tragischer Vorfall im März
1905 auf einem Maskenball iii Ofen bei Pest. Dort bildete
eine Dame von auffallender Erscheinung den Mittelpunkt der
•) Die Geschichte erinnert auch ,an die Erzählung von Julius von
V 0 8 e : „Don Vigo und Donna Cajetania“, in der Braut und Bräutigam
entdecken, dass e r ein Mädchen und eie ein Jüngling ist.
485
Unterhaltung und wurde viel umworben. Als die lustige
Stimmung ihren Höhepunkt erreicht hatte, demaskierte sich
die Dame, und ihre Tänzer erkannten in ihr den Tischler-
gehilfen Johann Antal, der sich diesen Faschingsscherz er-
laubt hatte. Alehrere Tänzer gerieten über diese Ent-
täuschung laut „N. fr. Pr.“ derart in Wut, dass sie mit
Messern auf Antal losstachen, der bald darauf seinen
Verwundungen erlag.
Nicht ganz so schlimm erging es in Petersburg*) dem
Zögling der Junkerschule Potapow, welcher strafweise nach
Pskow verschickt wurde, weil er in Frauenkleidern auf einem
Maskenball bei Hofe den Kaiser Alexander II. so geschickt
getäuscht hatte, dass dieser dem Junker die Hand küsste.
In seinem Verbannungsort richtete er sich eine ganz weib-
liche Wohnung ein, trug meist Frauenldeider oder doch über
seinem männlichen Anzug kostbare türkische Shawls. Als
besonderes Kuriosum hebt Stern hervor, dass er sich sogar
,, zierlicher Frauennachttöpfe mit seinem Wappen“ bediente.
Solchen Enttäuschungen bald lustiger, nicht selten aber
auch trauriger Art, wie ich sie zuletzt erwähnte, waren
die Teilnehmer auf den Bällen nicht ausgesetzt, die bis
vor zwei Jahren noch fast eine Sehenswürdigkeit von Berlin
bildeten; an diesen nahmen, von verschwindenden Ausnahmen
abgesehen, entweder nur Männer oder nur Frauen in der
Tracht beider Geschlechter teil. Aeusserlich wai’en diese
Kostümbälle, die für viele, denen das Leben trübes genug
bietet, eine Quelle harmloser Freudigkeit waren, oft schwer
von gewöhnlichen Maskeraden, auf denen beide Geschlechter
vertreten sind, zu unterscheiden. Leider hat man neuer-
dings einer lebensverbitternden Richtung Rechnung tragend,
seitens der Behörde der Abhaltung dieser Veranstaltungen
grosse Schwierigkeiten bereitet, die für männliche Personen
sogar gänzlich inhibiert. Ob man gesetzlich dazu berechtigt
ist, scheint mir fraglich, da die Unternehmer und Wirte
der Bälle, welche durch das Verbot der oft von mehr als
*) B. Stern: Geschichte der öffentlichen Sittlichkeit in Russland. Bars-
dorf 1908. Bd. II. p. 567.
486
tausend Menschen besuchten Vergnügungen schweren pekuni-
ären Schaden erlitten haben, selbst sehr Acht gaben, dass
dort nichts passierte, was mit den bestehenden Gesetzen im
Widerspruch stand; nachw'eislich ist das auch in keinem
Falle geschehen. Für Männer der Wissenschaft, Aerzte,
Juristen, mit denen ich diese Bälle wiederholt besuchte,
namentlich auch für Psychologen boten sie eine Fülle des
Interessanten. Um die Eindrücke zu skizzieren, welche man
dort empfing, will ich einige Sätze aus Schilderungen
wiedergeben, die Berichterstatter über diese Bälle in der
Berliner Presse veröffentlichten; zunächst einiges aus den
Impressionen, welche ein dem weiblichen Geschlecht unge-
höriger Korrespondent über ein „Kostümfest der Ber-
liner Künstlerinnen“ publizierte (Jhb. II. 472): „Zu diesem
Abend rüsten sich die Damen mit einem Eifer, einer
Leidenschaft, als gälte es die Ehre ihres ganzen
Geschlechtes. Da wird gesonnen, ’ gezeichnet, geschneidert
und das alles — zum Besten der Pensions- und Unter-
stützungskasse des Vereins Berliner Künstlerinnen, für das
Kostümfest der Berliner Künstlerinnen. Da der Andrang zu
diesen ebenso originellen wie lustigen Festen stets ein ganz
ungeheurer ist — man spricht diesmal von 2500 Teil-
nehmerinnen — so hat die Festleitung alle Räume der
Philharmonie gemietet, selbst den Bcethovensaal und
den grossen, weissen Oberlichtsaal. Um 8 Uhr ])egaun d:i.s Fest,
aber schon lange vorher stehen Hunderte ungeduldiger Füss-
chen frierend vor dem verschlossenen Portale, es ist i'in
Lachen, Kichern, Zurufen; man kann es nicht erwarten, bis
„unser“ Fest, das Fest der Damen, anfängt. Sonst ist c-s
den besorgten und neugierigen Vätern, Brüdern, Gatten usw.
gestattet gewesen, ihre Angehörigen bis in die Ganb'robo
zu begleiten, dort ein wenig von den lliTrlicld<('iton und
Schönheiten zu erlügen, zu dcTien sie als bereehtigte Zu-
schauer nicht zugelasscn werden, indessen gf'stern ist. auch
dies unschuldige „Zaunvergnügen“ den Herren verboten
worden, und so waren sie ganz auf das besctiränkt, was
sie auf der Strasse zu erhaschen vermögen. Dort sieht
man, wenn die Damen ihren Wagen verlassen, eine Menge
487
phantastischer Gestalten. Männlein und Weiblein, denn die
Hälfte, die starke Hälfte der Damen erscheint
in Herrentracht. Es reizt sie gerade, sich
als Mann zu zeigen und zu fühlen, den Hof zu
machen, den Schwerenöter zu spielen, und die hübschen
Fräulein lassen sich das gerade so gern gefallen, als wenn
der Courmacher ein „wirklicher“ Mann wäre. Stolz schreiten
wir an dem gedrängten, eifrig spähenden Aussenpublikum
vorbei — wir gehören ja „dazu“ — und treten ein. Welch’
ein Gesumm, welch’ ein Lachen und Scherzen! Ich behaupte
keck, alle zwei .Jahre wird einmal die Lustigkeit der Ber-
linerin lebendig, dann aber auch gründlich. Harmlos
kameradschaftlich verkehrt Arm und Reich, die hohe Aristo-
kratin mit der einfachen, beim Kunsthandw'erk beschäftigten
Arbeiterin. Und darin, in dem Beweise, dass ein solcher
vertraulich lustiger Verkehr möglich ist, besteht, neben dem.
klingenden Ertrage, der Wert dieser Feste. Es ist noch
sehr früh, doch ist der grosse Saal der Philharmonie schon
ganz mit sich begrüssenden Gästen angefüllt. „Gestalten
aus Bildern!“ lautete gestern die Parole. Nun, da gibt es
ein weites Feld, jede konnte genau das Kostüm wählen, das
ihr steht und zu dem sie sich hingezogen fühlt. Da viele
Damen, wie erwähnt, in Männertracht erschienen,
bietet der Saal kaum ein anderes Bild als
sonst, nur sind die Hände und Füsse der „Herren“ so
klein und zierlich, die Schnurrbärte (wenn sie da sind) so
schön und regelmässig, weil künstlich, und die Stimmen —
ja (pardon meine Damen) man kann von Anfang an nicht
sein eigenes Wort verstehen, in Stimmen also sind die Fest-
genossinnen sehr gross. Um 9 Uhr ordnet sich das Gewirr,
der grosse historische Festzug beginnt. Voran
schreiten Herolde in Renaissancetracht, dann folgen Egj'pter,
Apoll und die Musen stellen die griechische Kunst dar,
Mittelalter und Gothik bilden die Vorläufer der Florentiner
und der Renaissance. Die Zeit Rembrandts zieht vorbei,
repräsentiert durch die Hauptgestalten aus Rembrandts
Bildern, man sieht Saskia mit dem nickenden Federhute, den
Meister selbst und alle die uns vertrauten energischen
488
Chfirakterköpfe aus der grossen Kunstepoche der Nieder-
lande, tanzende Bauern aus holländischen Kirmes-
bildern sorgen für den Humor im Festzuge. Nun erscheinen in
feierlich graziösem Schreiten Rococofigürchen, denen das
Empire folgt. Nicht zu vergessen ist eine Gruppe au'^
Deutschlands klassischer Zeit der Literatur, Schiller, Goethe
mit Frau Rat, Lessing und die anderen alle. Sehr anmutig
ist der Festzug der Japaner, bei dem reizende Geisha-Mäd-
chen Apfelblütenzweige schwingen. Das neue Jahrhundert
schliesst den interessanten, wechselvollen Zug, er bringt
der Kunstrichtungen viele: Mystizismus, Symbolismus und
noch mehr der „Ismen“. Als der Zug die Bühne passiert hat,
folgen historische Tänze. Apoll lässt sich von seinen Musen
umgaukeln, die Florentiner schreiten einen Reigen, die
holländischen Bauern tollen und hopsen ganz naturalistisch
umher, das Rococo wiegt sich im Menuett, Japanerinnen
neigen sich im Takte, ihre Blütenzweige grüssend schwingend.
Alle diese Aufführungen werden mit einer Hingebung und
einem Eifer aufgeführt, der etwas Elektrisierendes hat und
die Zuschauerinnen wieder und wieder zu lautem Beifall hin-
reisst. Bald mischen sich die „historischen“ Herrschaften von
der Bühne unter das Publikum, allgemeine V e r b r ü d e -
rung tritt ein, es wird umarmt, geküsst, gelacht, ln d<Mi
Nebensälen steht das Souper bereit, und als wir uns zum
Schreiben zurückziehen, sitzt schon manches Pärchou brim
perlenden Sekt. Im Beethovensaale finden die Vorstelluni-O'n
eines Spezialitäten-Theaters statt. Da wird ein Traum, fivi
nach Ibsen, aufgeführt, ein impressionistischer Clown produ
ziert sich, und endlich, um 1 Uhr, wird eim* Balletszene
„Schäfer und Schäferin“ von Königlichen Ballettänzeriimen
dargestellt. Ueberall Lustigkeit, Grazie, Sclüüiheit — wer
hätte so viel Zauber unserem nüchternen Berlin zugeiraut?“
Ebenfalls einiges aus einem analogen Bericht über
ein „mänrJiches“ Kostümfest: ..Vor uns liegt ein kleines,
weisses ßillet, das die Worte trägt: „Einlasskarte zu dem
am Freitag, den 13. Oktober 180!) stattfindenden Kostüm-
fest“. Mit dieser Karte versehen, betreten wir Freitag
Nacht um 11 Uhr den grossen Festsaal des Hotels (folgt der
489
Xame) um unserer Pflicht als Ball-Berichterstatter Genüge
zu leisten. Die Lokalitäten sind fast überfüllt. Mehrere
hundert Herren im eleganten Frackanzug oder im Leibrock
stehen oder sitzen in Gruppen umher, vertraulich mitein-
ander plaudernd. Die ^lusik spielt einen lustigen Walzer.
Im Nu wirbeln fünfzehn bis zwanzig Paare, aber nur Herren,
durch den Saal. Die Herren, die die Damen mar-
kieren, sind meistenteils junge Männer im Alter von 20 bis
25 Jahren. Sie wiegen sich graziös in den Hüften, spenden
nach rechts und links kokette Blicke und fächern sich, vom
Tanze ermüdet, mit dem Spitzentaschentuch Luft zu. Eine
Stunde später hat die Gesellschaft eine andere Physiognomie
angenommen, denn die „Damen“ sind erschienen. Wenn wir
„Damen“ schreiben, meinen wir Herren, die im Damen-
kostüm, begleitet von Freunden, im Frack und Chapeau-
Claque, den Saal betreten haben. Die betreffenden
„Damen“ benehmen sich genau so, wie
ihre Kolleginnen weiblichen Geschlechts,
artig, dezent und gefallsüchtig. Trippelnd, die Augen
niederschlagend, ganz wie ein junges Mädchen, das
zum ersten Mal einen Ball besucht, schreitet eine
„Schöne“ durch den Saal, umringt von einer Anzahl
Kavaliere, die ihr ob ihres Aussehens die schmeichel-
haftesten Komplimente sagen. Viel selbstbewusster ist jene
elegante, fast königliche Erscheinung, die in schwarzseidenem
Kleide, auf der blonden Lockenperücke den Rembrandhut
mit wallenden Federn, im Saal erscheint. „Das ist die
Baronin“, flüstert mir ein an demselben Tisch sitzender
Herr zu. Unter diesem Spitznamen verbirgt sich ein Schau-
spieler, der in einem Vorstadttheater als jugendlicher Lieb-
haber die Herzen der Theaterbesucherinnen entzückt. Einfach
„chic“ gekleidet sind zwei „Damen“, die in Pariser Ball-
toilette erscheinen. Sie verstehen es, sich ihre Bewunderer
eine Meile weit vom Halse zu halten. Die Konversation mit
ihren Anbetern erinnert lebhaft an eine solche, wie man sie
auf dem Subskriptionsball oder ähnlichen vornehmen Ver-
gnügungen zu führen pflegt. Eine Pariser Kokotte, von der
Grösse eines Garde-Kürassiers, betritt den Saal unter all-
490
gemeinem Hailoh der Ballbesucher. Die „schöne Emilie'' —
im bürgerlichen Leben der Friseur Emil F: — wirft sich
lachend einem schneidigen, jungen Kavalier in die Arme und
rast, während die Musik einen Galopp spielt, mit ihrem
Partner mänadenhaft durch den Saal. Gegen ^Mitternacht hat
das „schönere männliche Geschlecht" fast die Majorität er-
reicht. “
Wenn auch bei einer sehr grossen Anzahl derjenigen,
die sich in der Gestalt des anderen Geschlechts an der-
artigen Kostümfesten und Maskeraden beteiligen, von
einem eigentlichen Verkleidungstrieb keine Rede sein kann, so
benutzen doch auch zweifellos eine nicht geringe
Menge psychischerHermaphroditen mit ganz
besonderer Vorliebe diese sich ihnen bietenden Gelegenheiten,
um einmal recht unauffällig und ungehemmt ihren Drang
in die Tat umsetzen zu können.
Transvestiten auf Thronen.
Es verdienen in diesem Zusammenhänge auch noch
die eigenartigen Hofbälle erwähnt zu werden, die eine
Spezialität der Kaiserin Elisabeth von Russ-
land waren. Diese Zarin hatte befohlen, dass auf den
Maskeraden, die sie während der Ballsaison zweimal
wöchentlich gab, alle Damen in französischer Horreut rächt,
die Herren in Frauenkleidcrn erscheinen sollten.*) Sie selbst,
die in ihrer Garderobe eine grosse Menge Männerkleider bo-
sass, erschien bald als französischer Musketier, bald als
Kosakenhetman, bald als holländischer Matrose. Es ist
kaum ein Zweifel, dass diese Herrscherin zu jenen transves-
titischen Menschen gehörte, die ihre Ergänzung in femininen
Männern fand, die sie am liebsten ui weiblicher Verklei-
dung sah. Ihre Vorliebe für den von ihr als Vorleserin en-
gagierten Ritter d’Eon, über die ich oben berichtete, wird
uns weniger befremden, wenn wir lesen, dass sie sich den
*) cfr. Mfemoires de Catherine. II. 148.
491
hübschen Kadetten Sswistunow kommen liess, um ihn eigen-
händig als Frau anzuziehen und dass sie den Kadetten
Beketow von der Garderobe, in der sie ihm ebenfalls beim
Anlegen einer Damentoilette behilflich war, persönlich in
ihr Schlafgemach geleitete.*) Auch Napoleon III. veranlasste
seine Geliebte Marguerite Bellanger sich in die Tracht des
anderen Geschlechts zu werfen, aber es spricht nichts dafür,
dass er es aus psychosexueilen “Motiven tat, es leuchtet
vielmehr durchaus ein, dass er die Verkleidung befahl,
um seine eifersüchtige Gemahlin zu täuschen oder sagen wir
zu schonen. Wieder ganz anders lag es bei Kaiser Nero,
von dem uns Suetonius (Nero cap. 28) überliefert hat, dass
er seinen Liebling Sporns in der Tracht römischer Kaiserinnen
gehen liess, nachdem er ihn zuvor hatte entmannen lassen
und mit rotem Schleier in sein Haus geführt hatte. Hier
scheint es sich um einen komplizierten Fall bisexueller Trieb-
richtung gehandelt zu haben.
Die Kaiserin Elisabeth war nicht die einzige trans-
vestitische Fürstin ihrer Zeit. In der „Geschirrkammeret“
zu Kopenhagen vird noch jetzt der Herrensattel aus grünem
Samt mit schwerer Silberstickerei und Pistolenhalfter auf
beiden Seiten gezeigt, auf dem die Königin Mathilde
K a r 0 1 i n e , die Gemahlin Christian VII.. Schwester König
Georg III. von England, Freundin Struensees, alltäglich zu
sehen war im roten goldgestickten Frack und Weste, gelben
Lederhosen und hohen Sporenstiefeln, den Herrenhut
auf ungepudertem aufgelöstem Haar. In dieser Tracht erschien
sie zu allgemeinem Entsetzen mit Struensee an ihrer Seite
1770 sogar an der Bahre der angeblich vor Verdruss über
eine Etikettenverletzung gestorbenen alten Königin Sophie
Magdalene, Gemahlin Christian VI. (Mb. 06. 72.). Die be-
rühmteste skandina^■ische Fürstin und die bedeutendste Trans-
vestitin. die je auf einem Thron gesessen, war aber zweifel-
los die viel genannte Königin Christin e**) von
•) Stern: loc. cit. p. 414.
**) Vgl. den Essay über Christine von Sophie Hoechstetter im IX. Jhb.
I. sex. Zw. p. 170 ff.
492
Schweden, die man, bis sie der Regierung entsagte, stets
nach Märmerart gekleidet sah, dieselbe, von der Leopold v.
Ranke sagt, dass „sie nie eine weibliche Arbeit begriffen
hat, auf der Jagd das Wild mit dem ersten Schuss zu er-
legen weiss und daheim Tacitus und Plato liest und besser
fast als Philologen von Profession.“ Bemerkenswert ist,
dass sie, als sie später katholisch wurde, um in Rom ihr
Leben zu beschliessen, als Hauptgrund angab, sie wolle
den Trost haben, einer Kirche anzugehören, „die so viele
Jungfrauen hervorgebracht hat, welche die Schwach-
heiten ihres Geschlechts überwunden und sich Gott ge-
opfert haben“, doppelt bemerkenswert, wenn wir es mit
dem vergleichen, was wir später noch von der Jungfrau
V. Orleans, Catalina de Erauso und anderen Kriegerinnen
hören werden, die ihr Leben teils auf demSchlacht-
feld, teils im Kloster verbrachten.
Ist an der historischen Existenz der genannten Frauen
auch nicht der mindeste Zweifel vorhanden, so bin ich mit
Döllinger,*) Wensing und anderen der Meinung, dass die
durch viele Jahrhunderte für absolut wahr gehaltene, viel-
fach geschilderte und bearbeitete**) Geschichte der Päpstin
Johanna in das Reich der Sage verwiesen werden muss.
Die verbreitetste Version ging dahin, dass sie als Johannes III.
Nachfolgerin des Papstes Leo IV. gewesen sein und das
Pontifikat von 855 an 2)4 Jahre innegehabt haben soll. Das
in Mainz geborene Mädchen — so wird berichtet — wunh;
wegen der grossen Klugheit, die sie schon als Kind
zeigte, von ihren Eltern männlichen Lehrern zum Unter-
richt in den Wissenschaften übergeben. In einen derselben,
*) Vgl. Ignaz V. Dolliiigcr; „l’ap.sttahi'lii des MittclaltoiH.*’ Stuttgart,
Cotta, 18'JO. p. 1 — 53.
•*■) Boccaccio: Biicli von den t)eriitinitpn Brauen. Itütl. — Spanhi'iniua;
De papa foeinina. — . Bayle: Papesoo Joanne. Dictionnaire crit. et liiat.
4. Aufl. Bd. IV. S. 580—592. — Kunz: Kirchengeschiclite. T. Aufl.
Bd.I. S. 82 — 8.3. — Dichterisch wurde der Stoff u. a. bearheitet von:
1. Theoderich Scharnberg; Spiel von Frau Jütten. 1840. — 2. Haus Sachs.
— 3. In einem französischen Drama von Flins, 1794. — 4. Achim von
Arnim. Schauspiel: „Die Päpstin Johanna“.
493
einen Mönch, verliebte sie sich. Tn Männerkleidern geht sie
mit ihm zu Studienzwecken nach Athen, dann nach Rom,
wo sie als Johannes Anglicus vom Papst Leo, zum Kardinal
erhoben wurde, „weil sie alle an Gelehrsamkeit überragte“.
Später zum Papbt gewählt, wird sie von einem Vertrauten
geschwängert und gibt bei einer feierlichen Prozession einem
Kinde das Leben, worauf sie abgesetzt wird. Die römische
Lokalsage führt es auf diesen Vorgang zurück, dass die
Päpste bei den Prozessionen zwischen Lateran und Vatikan
niemals eine auf dem Wege befindliche kleine Strasse be-
traten, sondern um sie einen Umweg machten; auch soll die
Geschichte von der deutschen Päpstin die Ursache sein, dass
kein Deutscher mehr zum Papst gewählt werde. Alle diese
nicht etwa von Feinden des Papsttums, sondern von Geist-
lichen, Mönchen, besonders Dominikanern und Minoriten arg-
los überlieferten Behauptungen sind leicht zu widerlegen.
Ob wohl die alten Schriftsteller nicht doch Recht
haben sollten, die meinen, die Legende sei auf
einen Spitznamen zurückzuführen, den man Papst
Johann VIII. wegen seines weiblichen
Wesens: „ob nimiam ejus animi facilitatem et molli-
tudinem“ beigelegt habe. Das Sprachgefühl, das einen
femininen Papst Päpstin Johanna nennt, stimmt sehr mit
dem noch heute in manchen Kreisen sehr beliebten Gebrauch
überein, die Namen weiblich gearteter ^Männer zu verweib-
lichen, aus einem Prinzen Georg eine Prinzessin Georgine,
aus einem König Ludwig eine Königin Ludowica, einem Wirt
namens Müller „die schöne Müllerin“ zu machen.
Es ist nicht möglich, hier alle historischen Persönlich-
keiten zu behandeln, die mehr oder weniger transvestitische
Neigungen zeigten, von der babylonischen bis zur nordischen
Semiramis, von den oft in kostbaren Frauengewändern ein-
herstolzierenden Herrschern Sardanapal und Heliogabal bis
zu Heinrich IIP, dem König von FrankreicL und Polen, der wie
Chevalier d’Eon vielfach als ein Hermaphrodit angesehen
wurde (vgl. die auf ihn gemünzte Satyre: „description de
l’isle des Hermaphrodites“ vom Jahre 1605), offenbar nur
weil man ihn vielfach sah: „en habit de Damoiselle avec
494
tous les affiquets d’une coquette“*) — von Philipp von Orle-
ans, dem bekannten Bruder Ludwig XIV., den Michelet in
seiner Histoire de France**) „ein geschminktes, kokettes
Weib“, nennt „das bemalt und in Weiberkleidern am Arm
seines geliebten Freundes, des Chevalier de Lorraine auf den
Ball ging“ bis zu Emil August dem „Glücklichen“, wie
er selbst genannt zu werden wünschte, dein Herzog von Sachsen,
Gotha und Altenburg (1772 — 1822), einem der seltsamsten
„buntschillerndsten“ Fürsten aller Zeiten. 1804 trat er die
Regierung seines Landes an und führte sie 18 Jahre glück-
lich in einer für Deutschland besonders schweren Zeit.
Napoleon I. nannte ihn einen der geistvolleren deutschen
Fürsten; Jean Paul den witzigsten Fürsten seiner
Zeit, und der mit ihm gut befreundete Komponist
Karl Maria von Weber schreibt: „Seine Erscheinung
hat etwas ungemein Edles und trotz seiner hohen Statur
Weiches, fast Weibliches, woher auch seine Liebhaberei für
weibliche Putzstücke rührte.“ Er war zweimal glücklich
verheiratet (trotzdem er nach Reichard und Karsch***)
auch „Umgang mit schönen Mannspersonen sehr liebte“).
Durch seine einzige Tochter Luise, die den Herzog Ernst von
Sachsen-Coburg heiratete, deren beider Sohn Albert Prinzgemahl
der Königin Victoria von England wurde, ist Emil August
Urgrossvater des gegenwärtigen Königs Eduard VII.
Alle die ihn persönlich kannten, waren durch das „Damen-
hafte“ seines Wesens frappiert. „Als ich mich einst mit
meiner Tante — erzählt die Memoirenschreiberin und Malerin
Louise Seidler — nach seinem Befinden erkundigte, nahm er
unseren Besuch im Bette liegend an. Während des Ge-
sprächs streifte er den Aermel seines weissen weiten Nacht-
gewandes kokett bis an die Schulter zurück und zeigte
uns den mit einer ganzeri Reihe der prachtvollsten Arm-
*) Mezeray: Abrege chronologique de l’Histoire de France. Tome V.
p. 229.
**) Tome XV. p. 57 u. 137.
***) F. Karech hat ihm im V. Jhb. f. sex. Zw. p. 615 — 693 eine sehr
vortreffliche Psycho-Biographie gewidmet, in der sich auch die Literatur über
Emil August zusammengestellt angegeben findet.
495
bäncier geschmückten Arm. Den Kopf bedeckte eine Art
Haube, mit kostbaren Spitzen garniert“ und der etwas bos-
hafte Friedrich Förster entwirft nach seiner Begegnung mit
ihm folgende Schilderung:
„Eine komischere Erscheinung wie diese Durchlaucht ist
mir in meinem ganzen Leben nie wieder zu Gesicht ge-
kommen. Er war damals wohl schon ein Mann von reifen
Jahren, verwandte aber die Toilettenkünste des
Boudoirs einer Pariser Modistin darauf,
für eine weibliche Schönheit zu gelten. Es
war von ihm bekannt, dass er einst, als Fanchon ver-
kleidet, mit dem Leierspiel der Savoyardin die Leip-
ziger Messe besucht und auf Classig’s Kaffeehause, in
Auerbach’s Keller, in der „blauen Mütze“ und anderen
Kneipen gute Geschäfte gemacht hatte.“
In der Gartenlaube von 1857 (Nr. VII. p. 93) findet
sich ein Bild, das den Herzog als Griechin mit einem
Schosshündchen- auf einem Diwan in völlig weiblicher Pose
darstellt. Wie fein und deutlich er selbst das Weib in sich
spürte, zeigen folgende Worte in einem seiner Briefe an die
ihm nahe befreundete Sidonie von Dieskau (unter d. 10. 11.
1815): „hell flackerten Selbstliebe und Selbstachtung in mir
auf und mich stärker und besser fühlend als vorhin fielen
bald von meinem Ich die mühsam mir angeklebteu
erbärmlichen Schlacken der mir angezwängten
Männere y.“ Ergänzend sei noch hinzugefügt, dass der
Herzog sich auch als Schriftsteller, Dichter und . Komponist
von Liedern und Sonaten betätigt hat.
Eiüige seltene Gründe der Geschlechts-
verkieidung.
Wir wollen vor allem noch ein Motiv untersuchen, das von
Personen, die der andersgeschlechtlichen Tracht den Vor-
zug geben, am häufigsten genannt wird, es sei ihnen näm-
lich die gewählte Kleidung aus rein praktischen Grün-
496
ilen genehmer, sic erleichtere ihnen ihr Fortkommen, ihre
materielle Existenz. Bevor ich mich jedoch diesem Punkte zu-
wende, möchte ich der Vollständigkeit halber noch kurz einige
andere Erklärungen erwähnen, die — wenn auch selten —
in Einzeltallen für Geschlechtsverkleidungen angeführt worden
sind. Fr. S. K r a u s*) berichtet, dass sich bei manchen
Völkern der abergläubische Brauch finde, in Krankheits-
fällen die Kleider des anderen Geschlechts anzuziehen, „um
die Krankheitsdämonen zu täuschen.“ Schindler**)
erwähnt in seiner Arbeit „Aberglauben des Mittel-
alters“ den seltsamen Gebrauch, dass man in einigen
Gegenden Deutschlands den Frauen während der Geburt Klei-
dungsstücke des Mannes, namentlich sein Hemd und seine
Hose anziehe, weil man glaube, dass die Entbindung dann
rascher fortschreite. Es ist wohl möglich, dass der diesem
Aberglauben zugrunde liegende occulte Gedanke ursprünglich
in Vorstellungen wurzelt, die mit der „androgynen Idee des
Lebens“ Zusammenhängen. Ein höchst eigenartiges Motiv hat
Ludwig Tieck in der Erzählung; „Die männliche
Mutter“ verarbeitet: eine Mutter rettet die Ehre ihrer ge-
schwängerten Tochter, indem sie sich als Mann verkleidet
mit ihr trauen lässt.
Ein vollkommen anders gearteter Grund ist wiederholt
von Personen geltend gemacht worden, die in Geschlochts-
verkleidung attrapiert worden sind: sie hätten diese in Ver-
folg einer Wette angelegt. Hier kann es sich entweder
um einen Scherz — im Sinne der durch die Verkleidung zu er-
zielenden komischen Effekte — handeln oder aber darum, dass
Personen mit transvestitischen Neigungen den Beweis ftir die
Durchführbarkeit ihrer Wünsche bringen möchten. Wir
geben zwei Beispiele aus dem Loben. „Tn der ostpreussischen
Stadt Allenstcin war in einem Material- und Kolonialwaren-
Versandtgeschäft eine Buchhaiterin beschäftigt, deren ausser-
gewöhnlich hübsches Mädchen- Antlitz Aufsehen erregte, deren
*) Kraus. Ürqueil 1897. p. 132 cfr. auch Zeitschrift d. Vereins für
Völkerkunde 1893. p. 372 n. 1895 p. 129.
p. 186 bei Freimark, loc. dt. p. 413 citiert.
497
übriges Wesen und Auftreten jedoch wie ihre Haarfrisur einen
Mann vermuten liessen. Zweifel an ihrer Weiblichkeit hegte
auch ein xVrzt, der bei Gelegenheit einer Erkrankung der
Buchhalterin an das Krankenbett gerufen wurde und sie in
dem mit Zigarettenrauch gefüllten Zimmer im Bett liegend
rauchend fand. Eine körperliche Untersuchung fand jedoch
nicht statt. Nach ungefähr sechswöchentlicher Tätigkeit ver-
liess das „Fräulein Luise Schwarz“, unter welchem Namen sie
in Alleiistein geführt wurde, die Stadt, um anderweit
in Stellung zu treten. Herr Kaufmann L. in Osterode en-
gagierte sie für ein Manufakturgeschäft. Als eines Tages
das Fräulein nicht zur rechten Zeit im Geschäft erschien,
begab sich Herr L. nach deren Zimmer, doch was er hier
sah, machte ihn starr, denn vor ihm stand seine „Buch-
halterin“ fertig im Gehrock und Zylinder, den Chef mit den
Worten begrüssend: „Von heute ab bin ich wieder
j u n g e r H e r r“. AVie später bekannt wurde, war der junge
Herr eine AA^etto eingegangen, nach welcher er durch eine be-
stimmte Zeit unbehelligt als ..Fräulein“ sein Brot verdienen
sollte. Am Tage, wo Herr L. ihn überraschte, war die Zeit
um und die AA^ette gewonnen.“ (.Jhb. II. 448.)
Aus AVien wurde berichtet; „Einem Sicherheitswachmann
in AATen fiel am 22. Sept. 1896 abends um 9 Uhr an der
Kreuzung des Opernringes und der Kärntnerstrasse eine hoch-
gewachsene Dame auf, die in eleganter, lichter Herbst-
toilette tief verschleiert, langsamen Schrittes promenierte. Da
der Mangel an Grazie in ihren Bewegungen durchaus nicht
den Eindruck machte, als ob die Promenierende dem
schönen Geschlecht angehöre, wurde der Sicherheitswachmann
aufmerksam, näherte sich der Dame, und ein Blick über-
zeugte ihn, dass er sich in der Annahme nicht getäuscht
hatte; denn trotz des dichten Schleiers sah er, dass die Ober-
lippe der Dame ein stattlicher blonder Schnurrbart beschattete.
Der Wachmann ersuchte nun die Passantin, ihm auf das
„Polizeikommissariat innere Stadt“ zu folgen, und dort stellte
man fest, dass die Unbekannte mit dem 21jährigen Privat-
beamten Ludwig K. identisch war. Der junge Mann
hatte mit seinem Chef gewettet, dass er als
32
Hirschfold, Die Transvestiten.
498
Dame verkleidet von seiner Wohnung über die Elisabeth-
brücke, den Kärntnerring bis zur Schwarzenbergbrücke einen
Spaziergang unternehmen würde, ohne auigehalten zu
werden. Die Höhe der Wette betrug 10 Gulden. Nach Auf-
nahme des Sachverhalts auf dem Kommissariat fuhr K.
nach Hause. Er wird sich aber vor dem Polizeistrafrichter
zu verantworten haben." Ebenfalls einen recht eigenartigen
Grund gab eine andere in Wien sistierte Person — dieses
Mal ein als Mann verkleidetes Mädchen — an. Der Vorgang
(vom 20. VIII. 99) wird wie folgt geschildert; „Vor dem
Gebäude der Polizeidirektion in Wien promenierte ein
junger, bartloser Mann, der sich durch sein scheues Be-
nehmen auffällig machte. Er schien unschlüssig zu
sein, ob er das Gebäude betreten solle oder nicht. Ein
Polizeiagent, der den Betreffenden eine Weile beobachtet
hatte, trat auf ihn zu und fragte ihn, ob er vielleicht
etwas suche, worauf der junge Mann erwiderte, er wünsche
ein Arbeitsbuch von der Polizei zu erhalten, man
habe ihn vom Magistrat hierher gewiesen. Idan führte
den jungen Mann zum Stadtkommissariat, dort konnte aber
seinem Wunsche nicht entsprochen werden, da er keinerlei
Dokumente vorzulegen imstande war. Bei dem Protokoll,
das mit ihm nun aufgenommen wurde, war sein ganzes Ge-
haben so eigentümlich, dass der Polizeibeamte auf die Idee
kam, der junge Mann sei vielleicht ein Frauenzimmer. Als
der Beamte diesem Verdachte Ausdruck gab, gestand als-
bald der „junge Mann" unter Tränen, ein Mädchen zu sein.
Aus den weiteren Geständnissen ging hervor, dass dieses
Mädchen seit dritthalb .Tahren nur Männer-
kleider getragen hatte. Als Grund der Verklei-
dung gab das Mädchen an, dass es als Magd
bei den Bauern, bei denen es diente, sehr
viel Nachstellungen ausgesetzt sei. Die
letzte Zeit habe er als Feldarbeiter das Leben gefristet:
auf dem Lande habe niemand sein wahres Geschlecht ge-
ahnt. Da die Angaben des Mädchens, das weder schreiben
noch lesen konnte, doch Argwohn erweckten, leitete die
Polizei Erhebungen ein. Dieselben ergaben, dass das
Mädchen, dessen geistige Entwicklung zurückgeblieben ist,
sich in allen Angaben an die Wahrheit gehalten und nichts
Böses angeatellt oder im Sinne hatte. Als arbeits- und sub-
sistenzlos wird nun das Mädchen in die Heimatsgemeinde ge-
bracht und ihm auch bedeutet werden, dass es nicht mehr
in Männerkleidern einhergehen dürfe.“
Um vor ihrerFamilie zu entfliehen, mit
der sie in Zwiespalt lebte und sich vor deren Nachforschungen zu
sichern, hatte sich eine russische Dame der besseren Ge-
sellschaft jahrelang als Eisenbahnarbeiter beschäftigt. Die
Zeitung Kiew Ganin berichtet aus Kischinew unter nach-
drücklicher Betonung der Wahrheit des Mitgeteilten darüber
folgendes: „Vor ungefähr vier Jahren trat in den Dienst der
Südwestbahnen als gewöhnlicher Arbeiter ein junger Bursche,
der sich Alexander R — ski nannte. Er arbeitete upd
lebte mit den Mitgliedern der Artel in den gemeinschaftlichen
Kasernen und teilte alle Beschwerden des Dienstes mit seinen
Kameraden. Durch seinen Fleiss und seine Anstelligkeit er-
warb sich R — ski in kurzer Zeit das Vertrauen und die
Achtung seiner Vorgesetzten, die ihm bald einen Aufseher-
posten einräumten. Auch in dieser Stellung kam R — ski in
vorbildlicher Weise seinen Verpflichtungen nach und avan-
cierte nach einem Jahre auf einen höheren Posten, durch
den er eine Vertrauensstellung einnahm. Zum Erstaunen
aller Bekannten des vermeintlichen jungen Mannes stellte sich
nun vor einigen Tagen heraus, dass sich unter der ein-
fachen Kleidung des Oberaufsehers eine Dame verbarg — die
Tochter eines Gouvernements-Sekretärs namens Alexandra
R— skaja; sie hatte den vollen Kursus eines ^lädchengym-
nasiums absolviert und dabei eine Prüfung in der lateinischen.
Sprache bestanden, durch die sie das Recht erhalten hatte,
in das Medizinische Institut für Frauen zu treten. Nach
Absolvierung des Gymnasiums bekleidete Frl. R. längere Zeit
den Posten einer Lehrerin an einer Landschaftsschule und
verschwand dort eines Tages völlig spurlos. Da alle Nach-
forschungen erfolglos verliefen, glaubte man allgemein, dass
sie verunglückt sei. Gegenwärtig hat sich der Eisenbahn-
arbeiter wieder in eine Dame verwandelt und wird sich wohl
32*
500
für die Metamorphosen vor Gericht zu verantworten
haben. "
Aus dem Altertum wird berichtet, dass Euklid aus
Megara in Frauenkleidern zu Socrates kam, um seinem Lehrer
zu lauschen, da die Athener während eines Krieges jeden
Megarer, der ihre Stadt betreten würde mit dem Tode be-
droht hatten. Wieland lässt in „Krates und Hipparchia“
H i p p a r c h i a als Jüngling verkleidet die Vorlesungen des
Philosophen Krates besuchen; sie verliebt sich in ihn und
wird schliesslich seine Frau. Clodius Pülcher soll sich
als Frau verkleidet bei einem Feste der Bona Dea einge-
schlichen haben, zu dem den Männern der Zutritt nicht
gestattet war. Verwandten Verkleidungsmotiven begegnet
man im Leben und der Dichtung nicht ganz selten.
Tennyson hat in „The Princess, a Medley‘‘ ein um-
fangreiches satirisches Gedicht verfasst, in dem eine Prin-
zessin eine Weiberrepublik gegründet hat, in die
bei Todesstrafe kein Mann ein drin gen darf. Der Prinz
(ihr offizieller Verlobter) und zwei Bergleute schlichen sich in
Weiberkleidung ein. Sie werden nach und nach erst von
anderen, dann auch von der Prinzessin selber erkannt. Da
der Prinz ihr das Leben gerettet hat, werden sie nicht ge-
tötet, aber durch handfeste Frauenzimmer hinausgeworfen.
Sie kehren in den Weiberkleidern zum König zurück, wo
ihr Anblick bei diesem und dem Hofe ungeheures Gelächter erregt.
Sehr häufig begegnen wir den Verkleidungen des Ge-
schlechts in altenglisch-schottischen Volksballaden. Züge*)
*) -Das Verkleidungsmotiv in den englisch-schottischen \ olksballaden.'*
Iiiaugural-Dissertation Halle-Wittenberg von Karl Züge aus Hamburg. 190S.
Wie mir der hervorragende Kenner der slavischen Folklore, Dr. Fr. Kraus,
mitteilt, berichten auch die bosnischen Guslarenlieder von heterosexuellen
Frauen, die sich wie Männer kleiden. Ein solches Lied veröffentlichte Kraus
im „Neuen Kosmos' (Berlin 1908) irn 3. Hefte; ein anderes unter dem Titel;
„Orlovic, der Burggraf von Raab“ ;Herder, Freiburg i. B. 188S), ein drittes
in seinen slavischen Volksforschungen, Leipzig, 1908. Heims Verlag. Häufig
feiern slaWsche Volkslieder Frauen in Männerkleidem als gefürchtete Häupt-
linge von HaHukenscharen. In Serbien nennt man, wie mir ebenfalls Kraus
schreibt, einen als Weib gekleideten Mann zenkara fplural ^enkare), während
zenkar einen Schürzenjäger bedeutet.
501
hat in einer Dissertation den Inhalt von 5 Balladen ange-
geben, in denen sich Männer in Frauenkleidung und 10, in
denen sich Frauen als Männer verkleidet finden. Das Motiv
der Verkleidung ist in fast allen Fällen die Liebe, der
Wunsch dem Geliebten in Krieg und Ge-
fahren zur Seite zu sein, unerkannt zu ihm ge-
langen, mit ihm sprechen, ihn prüfen zu können. In der
schönen Ballade; „Lord Livingston“ sagt das liebende Weib :
„ril dress myself in men ’s array
Gae to the fields for thee“
und in „Fair Rosamond“ sagt die schöne Rosamunde zu
ihrem König Heinrich II.:
„Nay rather, let me, like a page
Vöur sword and target beare.“
Umgekehrt folgt in „the Holy Nunnery“ Willie seiner
geliebten Annie, die ins Kloster gegangen war, nachdem
ihre Eltern für immer ihren Segen versagt. Nachdem er sieben
Jahre vor Sehnsucht dahingesiecht, verkleidet er sich als
Frau:
and nane coud ken by bis pale face
But he was a lady fine.
Er findet Einlass in das Nonnenkloster, wo Annie ihn mit
dem Blick der Liebe erkennt:
„Fair Annie kent her true love’s face
Says, come up, my sister dear.“
In Holland hörte ich ein transvestitisches Volkslied,
das dort seit alter Zeit jedermann in seiner Kindheit lernt;
auch Erwachsene singen seine melodiöse W'eise oft und gern.
Die Niederschrift und Uebersetzung verdanke ich Herrn
Collegen B. v. T r i c h t in Amsterdam. Es lautet:
Daar was eens een meisje loos,
Die wou gaan varen (bis)
Daar was eens een meisje loos,
Die wou gaan varen als zeematroos.
Es war einmal ein verschmitztes
Mädchen,
Das wollte zur See fahren gehen (bis)
Es war einmal ein verschmitztes
Mädchen,
Das wollte See fahren gehen als Matrose.
502
Zij moest klimmen in den mast.
Maken de zeilen (bis)
Zij moest klimmen in den mast,
Maken de zeilen met touwijes- vast.
-Maar door storm en tcgemveer.
Sloegen de zeilen (bis)
Maar dor storm en tegenweer,
Sloegen de zeilen van boven neer.
„Ocli, kapteintje, sla me iiiet!
„Ik ben uw lief je! (bis)
„Och, kapteintje, sla me niet!
„Ikbenuw lief je, gelyk gy ziet!'
I Sie musste klettern, auf den Mast,
Machen die Segel (bis)
I Sie musste klettern auf den ,Mast,
j Machen die Segel mit Tauen fest.
Jedoch in Sturm und Üngewitter
Schlugen die Segel (bis).
Jedoch in Sturm und Ungewitter
Schlugen die Segel von oben herab.
Ach, Kapitänchen, schlag' mich
nicht !
Ich bin ja Dein Liebchen! (bis)
„Ach. Kapitänchen, schlag’ mich
nicht!
Ich bin Dein Liebchen wie Du
siehst !
Dass verwandte Motive auch heute noch bei der Ver-
kleidung eine Rolle spielen, möge folgende Erzählung aus
dem Leben zeigen, die mir ein bekannter Schriftsteller aus
seinen Erinnerungen mitteilt,
„Im Sommer 1871 lebte ich, damals achtzehn-
jährig in Guben. Ich schrieb dort einen kleinen Roman,
den ich später verbrannt habe, unter dem Titel: „Plato-
nische Liebe“. Handlung: Ein junger Mann verliebt
sich in ein als Knabe verkleidetes Mädchen
Sie heiraten sich, aber nur platonisch, d. h. ohne geschlecht-
lich zu verkehren, um die Schopenhauersche Philosophie in
die Praxis zu übertragen.
Ein Jugendbekannter, wie ich aus Potsdam gebürtig,
namens R. H., war im G\Tunasium in Hamm i. Westfalen
gewesen und von dort nach Küstrin gegangen. Meine „Pla-
tonische Liebe“, die ihn sehr begeisterte, hatte er im Manu-
skript gelesen, und so machte er mir im Beginn der Sommer-
ferien in Guben einen Besuch.
Hier erzählte er mir. er habe in Hamm ein Mädchen zu
rückgelassen, das er heiraten wolle. Sie sei die Tochter
eines reichen Fabrikbesitzers. Aber der Vater wolle die Fa-
brik und das ganze Vermögen seinem Sohne geben und die
Tochter zur Diakonissin machen. Er müsse sie not-
503
wendig noch einmal sprechen. Aber wie, da
sie .vom Vater eifersüchtig bewacht sei?
Ich schlug vor: Verkleide die hals Mädchen!
Er war dazu bereit. Wir fuhren nach Berlin zu seiner ver-
heirateten Schwester. Diese steckte ihn in ihre Kleider und
schminkte ihm sein gelbes Gesicht mit Fettschminke. Er trug
ohnehin langes, hängendes Haar: daran brauchte nichts ge-
ändert zu werden. Nur musste er noch eine grosse dunkel-
blaue Brille aufsetzen und sich dicht verschleiern. In Hamm
kaufte ich ihm auch noch einen Sonnenschirm. Er sah
wie eine hässliche alte Gouvernante aus. Er fuhr als meine
Tante Adelaide Sturm, ich als ihr Neffe Walter Sturm.
Wir fuhren in einer Droschke zum Bahnhof und dann in
einer Tour II. Klasse von Berlin nach Hamm in Westfalen.
Im Coupe war es sehr heiss, und die Sonne schmolz die
Fettschminke auf seinem Gesicht, so dass es wie eine
Schmalzstulle glänzte. In Hamm kehrten wir in einem Gast-
hof ein, nahmen zwei getrennte Zimmer und assen in diesen.
Niemand schöpfte Verdacht. Als ich mit ihm
durch die Strassen ging, wurden wir sogar von Offizieren
ehrerbietig gegrüsst: ich sah nämlich damals sehr theolo-
gisch aus, und man hielt mich wohl für einen jungen
Kaplan. Die Villa, in der die Liebste von E,. H. wohnte,
lag ausserhalb der Stadt an einem Heckenweg. Als wir
vorübergingen, sass das Mädchen oben an einem offenen
Fenster. Er pfiff die Melodie:
0 Richard, o mon roi,
L’univers t’abandonne.
Daran erkannte sie ihn. Sie gab ein Zeichen, dass sie
kommen würde, und bald folgte sie uns."
Während ich Wache stand, sassen die beiden Weiber
stundenlang auf einer Bank in den Anlagen. Dort ver-
lobten sie sich definitiv.
Wir übernachteten in Hamm und fuhren am nächsten
Tage wieder zurück, diesmal aber nur bis P. Hier brachte
ich ihn in einer Droschke zu seiner Mutter, dann ging ich
zu der* meinigen. Der Streich war vollkommen gelungen.
504
nicht die geringste Belästigung widerfuhr uns und Richard H.
hat das Mädchen auch wirklich geheiratet.“
In einem alten Lustspiel von Elias Schlegel;
„Der Triumph der guten Frau“ verkleidet sich Hilaria, die
Gattin eines Don .Juan, als I^Iann, spielt noch ärger als er
den Liebhaber, um ihn so bei allen Damen auszustechen.
Geschlechtsverkleidung und Beruf.
Wir kommen nun zu dem so vielfach angeführten Motiv
der grösseren Bequemlichkeit und leichteren Berufswahl. Es
ist für seine Bewertung nicht ohne Bedeutung, dass sowohl
von Frauen für die Männerkleidung, als von Männern
für die Frauentracht derselbe Grund geltend gemacht
wurde. So gab die in Mitteldeutschland so häufig
aufgegriffene Person, die sich gewöhnlich W'’itw^e Hed-
wig Fischer geb. Adler aus Königsbrück nannte, in Wirk-
lichkeit aber Julius Fischer hiess, ein Weber, geboren 1845
in Grossenhain, an, dass er sich in das weibliche Geschlecht
„begeben“ hätte einmal, um seiner Frau zu entfliehen, mit
der er in Ehezwistigkeiten lebe, vor allem aber, um leichter
eine Stelle als Kinderfrau zu finden, als welche er in Posen
und anderen Städten auch lange tätig gewesen ist. Ein
Seitenstück zu diesem IMann ist ein Original, das im Schwarz-
wald lebt; der Wasser- oder Marketenderseppli.
„In der Gegend seiner Heimat Triberg im Tal der Elz und
im Glottertal ist er auf allen Höfen gut bekannt und gern
gelitten. Josef Weber — so ist sein wirklicher Name —
trägt sich bei der Arbeit vollständig als Frau; wer ihn
nicht kennt, w'ürde glauben, eine Bauernmagd aus der
Gegend seiner Heimat vor sich zu haben. Sein sonnver-
branntes runzliges Antlitz sucht er durch ein Paar grosse
Ohrringe zu verschönen.“ Ein Landsm.ann erzählt von ihm;
„Die Leute bewirten ihn zum Zeichen ihrer Zufriedenheit,
allerdings oft auch aus Mitleid, mit seinem liebsten Genuss-
mittel auf dieser Erden, dem Kaffee; Wein und Bier
verschmäht der Seppli. Und trotzdem er schon so \dele
505
Jahre wandert, hat man noch nicht gehört, dass er Kaffee,
noch sonst etwas gebettelt hätte; er nimmt mit Freuden
was man ihm gibt, aber zum „Heischen“ gibt er sich nicht
herab, wie man ihm auch nicht nachsagen kann, dass er
seiner Heimatsgemeinde auch nur einen Pfennig Kosten ge-
macht hätte. Stadtleute liebt er nicht, ist höchst miss-
trauisch gegen sie und nur mit Unbehagen spricht er mit
ihnen, während alle Kinder seine Freunde und Vertrauten
sind. Auf seinen Zügen durch die Dörfer begleiten ihn die
letzteren scharenweise, und da hat er Arbeit genug, jedem
Rede und Antwort zu geben.“
Ein französischer Bauer aus der Umgegend von Paris
hat die nachgesuchte polizeiliche Erlaubnis erhalten, Weiber-
kleider tragen zu dürfen und zwar „mit Rücksicht auf sein
Geschäft“ eine Art Marktgärtnerei, für die, wie er angibt,
ein Weiberrock als Bestandteil seiner Ausrüstung not-
wendig sei. Dasselbe wurde einem Pariser Kartoffel-
händler gestattet. In Spanien erregte im April 1907 fol-
gender Fall Aufsehen; „In Granada wohnte seit einigen
Jahren eine englische Dame, die sich durch Sprachunter-
richt ernährte und sich in den Familien ihrer Schüler und
Schülerinnen des besten Ansehens erfreute. Vor einigen
Tagen fand sie sich in der dortigen Nebenstelle der Bank
von Spanien ein, um einen Scheck einzulösen. Der Kassierer
weigerte sich, die Summe auszuzahlen, da das Papier auf
einen männlichen Vornamen ausgestellt war. Kurze Zeit
darauf kehrte ein Herr in eleganter Kleidung mit demselben
Scheck zur Kasse zurück. Der Beamte erkannte in dem
Herrn die Züge und Erscheinung der Dame von vorher
wieder; er schöpfte Verdacht, dass es sich um einen Be-
trug handele, und Hess die rätselhafte Persönlichkeit ver-
haften. Diese erklärte bei ihrer Vernehmung auf der Polizei,
sie sei tatsächlich ein Mann. Aus Not und ohne Stellung
habe er vor Jahren den Entschluss gefasst, als Frau weiter
durchs Leben zu gehen, da er auf diese Weise
leichter einen Erwerb finden zu können
hofft e. In dieser Ansicht sei er nicht getäuscht worden.“
Ein Berliner Wochenblatt, welches über dieses Vorkommnis be-
506
richtete, fügte nicht übel hinzu: „Wahrscheinlich gehört
dieser Fall auch in das Kapitel von den sexuellen Zwischen-
stufen. Der Mann hat die Xatur eines Weibes, und es ist
selbstverständlich, dass ihn die Maske seiner äusserlichen Ge-
schlechtsmerkmale ungewandt und ungeschickt machte. Er de-
maskierte sich nur, wenn er sich wie ein Mann kleidete.“
Wir wenden uns zu den Frauen, die aus Ge-
schäftsgründen, um eine leichtere und bessere Exi-
stenz zu finden, die Kleidung des anderen Geschlechts
acceptierten. Am 12. Februar 1901 wurde auf dem Ber-
liner Bahnhof in Hamburg ein junger Bursche verhaftet,
der sich dort zum Gepäckträger erboten hatte, und dessen
Gebühren einem Reisenden, der die Dienstleistimgen des
jungen Menschen in Anspruch genommen hatte, verdächtig
vorkam. Als nämlich der Reisende merkte, dass der Bursche
die bezeichnete Strasse nicht zu wissen schien, und nach einer
falschen Richtung ging, veranlasste er einen Schutzmann,
ihn zu verhaften. Auf der Wache nach Namen und Her-
kunft gefräst, erklärte er, Karl L u r e k zu heissen und
Legitimarionspapiere nicht zu besitzen. Der diensttuende
Wachtmeister wollte nun zur Leibesvisitation schreiten, als
der Bursche plötzlich angstvoll die Worte ausstiess; „Nein,
Sie dürfen mich nicht untersuchen, ich bin ja ein Mädchen!“
Ein Tränenstrom folgte diesem Ausrufe. Sie gestand dann
folgendes: „Durch den Tod ihres Onkels, unter dessen Ob-
hut sie aufgewachsen, sei sie zu einer Erwerbstätig-
k e i t genötigt gewesen. Auf die Annonce eines Berliner
Geschäftsmannes hin habe sie den Entschluss gefasst, in
Berlin ihr Glück zu versuchen, um so mehr, da es einer
Freundin und entfernten Verwandten daselbst gut ginge.
Als sie sich dann in Berlin dem betreffenden Geschäftsmanne
vorgestellt habe, seien ihr 15 Mark monatliches Gehalt ge-
boten worden. So sei sie denn gezwungen gewesen, „weil sie
anständig bleiben wollte“, sich nach anderem ehrlichen Er-
werb umzusehen. Auf dem Bahnhöfe seien ihr die jungen Ge-
päckträger aufgefallen, die sich täglich 3 bis 4 Mark ver-
dienen sollen. Kurz entschlossen habe sie sich das Haar
schneiden lassen und sei in Männerkleidung, die ihr eine
507
Freundin verschafft habe, nach Hamburg gereist. Am Ber-
liner Bahnhof habe sie sich dann als Gepäckträger angeboten
und für die erste Besorgung 80 Pfennige erhalten. Bei dem
zweiten Auftrag habe sie ihr Schicksal schon erreicht.“ So-
fort angestellte telegraphische Anfragen in Königsberg und
Berlin bestätigten ihre Angaben, weshalb sie nach einer in
Schutzhaft verbrachten Nacht in Freiheit gesetzt werden konnte.
Im Mai 1905 erhielt, wie aus Boston mitgeteilt wird,
Gouverneur Herrick einen Brief von einer im südlichen Teile
des Staates Massachussets lebenden Dame, die um die Er-
laubnis ansuchte, Hosen zu tragen. „Als Grund ihres An-
suchens gab sie an, ihre Hauptbeschäftigung als Leiterin
einer Farm sei ausser Hause, und es wäre daher für sie
praktischer, Männerkleider zu tragen, als Böcke. Der Brief
wurde an den General-Attorney weiterbefördert mit dem Be-
merken, dass eine Gesetzesänderung für derartige Fälle viel-
leicht vorzuschlagen wäre.“
Ein ähnlicher Fall wurde aus London (20. III. 06)
gemeldet: „Bei einem Prozess, der gestern in einem kleinen
Ort in der Grafschaft Kent begann, erschien eine junge
Dame in einem männlichen Anzug. Der Richter, der offen-
bar sehr verwundert war und um eine Erklärung ersuchte,
bekam zur Antwort, dass die junge Dame schon seit
mehreren Jahren auf einer dortigen Farm arbeite und immer
diese Kleidung trage, „weil sie diese für bequemer und ge-
sunder halte.“ Sie trug einen Ueberzieher, lange Hosen,
Gamaschen und einen harten Hut. Sie ist in dem ganzen
Distrikt wohlbekannt, die Leute haben sich an ihren Anzug
gewöhnt, so dass eigentlich niemand mehr Notiz davon nimmt.
Die Leute auf der Farm, welche sie bewirtschaftet, nennen
sie kurzweg „Jack“.“
Auch RüsaBonheur gab in ihrer Eingabe an die Re-
gierung an, man möge ihr die männliche Kleidung gestatten,
weil ihr die Röcke „beim Umherstreifen nach neuen künst-
lerischen Motiven in der Natur“ lästig seien. ln dem
Kohlengrubendistrikte Merthyr Tydvil in Wales in England
entlief vor einigen Jahren ein vierzehnjähriges Mädchen seinen
Eltern und legte, in der Erwartung, „so besser und
508
schneller Arbeit zu finden", Männerkleidung an.
Sie hatte sich darin auch nicht getäuscht, denn bald fand
sie Beschäftigung als Kohlenbursche in einer der Gruben und
bezog das für ein vierzehnjähriges Mädchen hohe Gehalt von
15 Shilling pro Woche. Sie erkrankte jedoch nach einiger
Zeit und musste in ein Hospital gebracht werden, wc sie
ihr Geheimnis preisgeben musste.
„Vor 20 Jahren kamen aus Irland zwei Mädchen, Katie
und Marga Mint nach Amerika. Da die beiden Mädchen
keine Beschäftigung finden konnten, entschloss sich
Marga, als sie in der Zeitung eine Annonce
lasen, nach welcher auf einer Farm ein Ehepaar verlangt
wurde, als Mann zu fungieren, während die- schwächere und
zierlichere Katie die Ehefrau vorstellen musste. Das Paar
erhielt die Stellung. Marga arbeitete auf dem Felde, Katie
in der Küche. Später Hessen sie sich naturalisieren und
Marga übte als Mann ihr Wahlrecht aus. („Record Her ald‘‘,
Chicago, 25. April 1906.)
Wie der „Wide World M.“ erzählt, leben in den Bergen-
von Mendocino County in Kalifornien zwei deutsche Mäd-
chen im Alter von 18 und 19 Jahren. Sie führen die Aufsicht
über Riesenherden, in Männertracht und nach Männerart
auf schnellen Pferden, den Revolver im Gürtel, reitend. „Vor
zwanzig Jahren ging ihr Vater, der Landwirt Jakob Lahm,
nach Santa Rosa, verheiratete sich dort und zog dann nach
Mendocino County, wo er 10 000 Acker LLwald für seine
Herden erwarb. Aber auf diesem dichtbewaldeten Lande gab
es. ausser gigantischem Sandelholz, Fichten und Tannen, auch
Panther, Bären, Prairiewölfe und zahlreiche andere wilde
Tiere, die erst ausgerottet werden mussten. Rasch wurde
Jakob Lahm als Jäger und Trapper im ganzen Lande be-
rühmt. Die „Ranch“ hatte bald mit dem Viehbestand einen
Wert von $ 50 000. Der Vater ist gestorben; seine frischen
tatkräftigen Töchter Gusxel und Luise haben seine Arbeiten
übernommen. Vom Leben der Hauptstadt wissen sie nichts,
ihre Bildung haben sie in dem weit entfernten Schulhause
erhalten. Da sie ausser 5000 Schafen auch noch Pferde und
Rinder zu beaufsichtigen haben, blieb ihnen nur wenig
509
Müsse, Frauenkleidung anzulegen. Sie zogen Hosen an
und ritten über die Berge, um die Schafe vor Nacht in die
Hürden zu bringen. Jeder Fussbreit auf dem 20 englische
Meilen grossen Areal ist den Mädchen bekannt. Sie schiessen,
stellen Fallen, gebrauchen den Lasso, scheren die Schafe,
spüren das Wild, pflügen, eggen, säen und ernten, zeichnen
die Tiere, verkaufen die Wolle und kochen für die Männer,
die sie während der Schafschur anstellen. Ihr Besitz ist
stellenweise gefährlich. Zwischen den Bergketten sind Hohl-
wege, auf denen das Vieh grast; da kommt es oft vor, dass
sich Tiere versteigen. Dann suchen die Mädchen bei Tag
und Nacht, bei Wind und Regen und bringen den verirrten
Vierfüssler wieder zurück. Bei diesen Streifzügen trennen
sich die beiden Schwestern und suchen systematisch ver-
schiedene Gebiete ab. Schäferhunde begleiten die jungen
Herrinnen. Es kommt auch vor, dass Raubtiere ein Lamm
stehlen. Spüren sie einen Bären, so jagen sie Tag und
Nacht, bis sie ihn erlegt haben, ln ihrem Heim findet man
Jagdtrophäen, die sie von ihrer ersten Kindheit an er-
beutet haben; Felle vom schwarzen Bar, vom Panther und
Luchs. Kürzlich brachte Gustcl einen Panther von 232
Pfund. Das erlegte Wild laden die Mädchen auf den Rücken
ihrer Pferde. Am meisten fürchten sie den Prairiewolf, dem
sie Fallen legen. — Ihre Kraft wird auf eine harte Probe ge-
stellt, wenn gefährliche Waldbrände ihr Gebiet bedrohen.
Dann greifen sie zu verzweifelten Mitteln, Tag und Nacht
arbeitend, bis die Gefahr abgewendet ist. Gustel und
Luise sind prächtige Erscheinungen und erfreuen sich über-
all wegen ihrer Rechtschaffenheit und ihres Fleisses einer
hohen Achtung.“
Es dürfte wohl nicht unbekannt sein, dass es in Europa
noch eine ganze Anzahl Gegenden gibt, in denen seit langen
Zeiten aus Zweckmässigkeitsgründen Frauen bei der
Arbeit männliche Kleidung, vor allem also Hosen tragen.
Es sind hier zu nennen; die holländischen Austeru-
fische rinnen in Seeland, deren Beinkleider bis an
den Leib reichende wasserdichte Stiefel decken; die bei der
Kaviarbereitung beschäftigten Russinnen an den Ufern der
510
Wolga; die Fischerinnen an den Küsten des Atlantischen
Ozeans, deren Kleidung sich in nichts von der ihrer männ-
lichen Beruisgenossen unterscheidet; die Sennerinnen und
Schnitterinnen auf den Ahnen in Tirol, der Schweiz und
Steiermark; die in den Minen arbeitenden F rauen des ß o r i -
nage in Belgien. Von allen diesen Frauen tragen aber nur
die Bäuerinnen von Champery die Hosentracht auch ausser-
halb ihrer Arbeit, alle übrigen legen in der Stube, in ihrer
Häuslichkeit, vor allem an Sonn- und Feiertagen ihre Röcke
wieder an. Es unterscheidet sie dieser Umstand wesentlich
von den vorher genannten Frauen, die erklärten, aus Berufs-
gründen männliche Tracht anlegen zu wollen, die sich zum
Teil sogar in ihren Eingaben an die französische Regierung
auf einige der hier angegebenen männlichen Berufstrachten
weiblicher Personen beriefen. Alle diese Frauen bedienen sich der
männlichen Kleider auch ausser ihrer Beschäftigung
in ihrer Häuslichkeit, auf Spaziergängen, in Gesellschaften;
viele besitzen überhaupt garnicht mehr die ihrem eigentlichen
Geschlecht zukommenden Kleider. Vor mehreren Jahren be-
richtete ein Pariser Korrespondent: „Die bekannte Unter-
nehmerin der Ausgrabungen in Susa, Frau Dieulafoy
empfing den Präsidenten und die Präsidentin der Republik,
welche zur Besichtigung der ausgegrabenen Schätze in den Louvre
kamen, in einem eleganten Gehrock, in dessen Knopfloch das
Schleifchen der Ehrenlegion glänzte. Sie reichte Frau Carnot
den Arm und führte sie als Kavalier herum. Bei einem
akademischen Diner, welches das Dieulafoy' sehe Ehepaar
gab, setzte die Dame, die ihr Geschlecht vollkommen ge-
wechselt zu haben scheint, sich zur Linken und zur Rechten
je eine Dame, während ihr Gatte ihr gegenüber desgleichen
tat.“ Selbst Madame Dieulafoy hat bereits eine Vorgängerin
gehabt in der „honourable Esther Stanhope, der ge-
schiedenen Gattin des englischen Earle Ellesinere. Ihr
Forschungsgebiet war Assyrien. Dorthin verlegte sie
schliesslich auch ihren Wohnsitz, nachdem sie einen ara-
bischen Scheikh geheiratet hatte. Sie ging stets in
orientalischer Männertracht.
Die angebliche „Bequemlichkeit des Herrenanzuges“
511
gab auch in New-York Veranlassung zur Gründung eines Klubs,
dessen Mitglieder sich durchweg aus Berufskünstlerinnen re-
krutieren. Es wird berichtet: „In den luxuriös ausgestatteten
Räumen des Klubs, der seinen Sitz in einer der vornehmsten
Avenuen aufgeschlagen hat, finden Männer unter keiner Be-
dingung Zutritt, und die Mitgliedsdamen dürfen nur in Männer-
kleidern erscheinen, die allerdings vom rein ästhetischen
Standpunkte nach dem Geschmacke der Trägerin modifiziert
werden können. So gefällt sich Miss Jessie Bartlett-Davies
im blauen Frack mit vergoldeten Knöpfen und gleichfarbigen
Kniehosen, während Miss Edno Wallace Hopper, ein glänzen-
der Star der Posse, für gewöhnlich einen Golfanzug bevor-
zugt. Miss Ethel Barrymore trägt lose sitzende Beinkleider
und eine lichtfarbene Bluse; den doppelreihig geknöpften
Gehrock haben die Mitglieder der Komischen Oper Miss
Josephine Holl und Miss Lilian Rüssel angenommen. Die dem
Klub ungehörigen Bildhauerinnen und Malerinnen bedienen sich
fast ausschliesslich des konventionellen, m.ännlichen Künstler-
kostüms aus Samt' oder Plüsch; die Malerin Miss Edith Sarah
Crowndale trägt mit Vorliebe ein Kostüm ä la Canon mit
hohen Schaftstiefeln sowohl im Klub als auch ausserhalb
dieses." (Mb. 06. p. 43.)
Klubs und Vereinigungen, in denen sich Personen, die
die andersgeschlechtliche Tracht vorziehen, zusammentun,
sind keineswegs vereinzelt. Auch in St. Louis gab es eine
Frauen Vereinigung, in deren Satzungen es heisst: „Jedes
Weib, welches der Vereinigung beitritt, muss sich ver-
pflichten, Männerkleidung zu tragen, zu rauchen, zu trinken,
und wöchentlich zweimal des Abends im Klubhause zu er-
scheinen. Weibliche Handarbeiten sind aus dem Kreise
der Frauen verbannt, während Reiten, Fechten und Turnen die
erste Stelle in dem Vereinsprogramm einnehmen. Jedes Mit-
glied, welches in die Ehe tritt, verlässt den Klub. Mit einem
religiösen Nimbus sucht sich dieser Verein dadurch zu um-
geben. dass er sich eine Patriarchin als Oberhaupt gewählt
hat, welche jeden Monat einmal nach einem Religionskodex,
der sich aus christlichen und muhamedanischen Glaubens-
sätzen aufbaut, predigt.“ (Jb. III. p. 529.)
512
Auch hier wieder begegnen wir dem männlichen Analogon.
Die Gesetzmässigkeit, mit der sich dieses in allen
beigebrachten Beispielen nachweisen lässt, spricht sehr dafür,
dass die Gründe zur Annahme der Kleidung des anderen Ge-
schlechte doch wesentlich tiefer liegen, wie die Betreffenden
selbst meinen. So wird in den „Originalzügen aus dem Cha-
rakter englischer Sonderlinge“*) mitgeteilt, dass 1794 auf
eine anonyme Denunziation in London die Polizeiwache des
Richters Bond in ein Klublokal eindrang, in welchem sie 18
nach der neuesten Frauenmode gekleidete Männer verhaftete,
die sich untereinander mit weiblichen Namen, wie Lady Gol-
ding. Miss Fanny usw. anredeten. Ein ganz ähnliches Vor-
kommnis spielte sich vor einigen Jahren in Budapest ab. „Dort
hob der Chef des Detektivkorps Dr. Krecsäni auf eine ihm
zugegangene Anzeige eine Gesellschaft aus, die sich in
dem Hofzimmer eines Kaffeehauses zu versammeln
pflegte. Die polizeiliche Beobachtung eruierte die eigentliche
Natur der „geschlossenen Gesellschaft“. Die Männer nennen
sich alle mit Mädchennamen. Der Kellner hiess „Niobe“,
während der Cafetier den klangvollen Namen „Koronäs
Aranka" trug. Die Fiebrigen hiessen; Trilby, Ibolyka,
Melanie. Biri, Beatrix, Premes, Zsuzsi, Ida, Czigäny Aranka,
'Margit usw. Es wurden häufig Teeabende veranstaltet. Wenn
ein Fremder das Zimmer l)etretcn wollte, so verstellte ihm
der Cai’etier mit den äVorten den Weg: „Pardon, drinnen
hält eine geschlossene Gesellschaft ihre Sitzung!“ Die
jungen Leute zogen Frauenkleider an,
schminkien und parfümierten sich, und es wurde bis in
den späten Morgen getanzt. Einem Detektiv ge-
lang es, sich in die Gesellschaft einzu-
schleichen, wo er den Namen „Ella“ er-
hielt. Samstags Nachts versammelte sich die Gesellschaft
wieder zu einer Soiree. Das Hofzimmer wurde mit Blumen-
guirlancen geschmückt und die jungen Leute legten ihre
schönsten Damenkleider an. Als die Gesellschaft beisammen
war, drangen die Detektivs durch die Hoftür in den Baum,
) Leipzig li96. p. 158 ff.
513
wo gerade ein Coupletvortrag der Niobe auf dem Programm
stand. Es wurden 13 Personen verhaftet, die aber sämtlich
freigesprochen wurden, da ihnen nichts Strafbares nachge-
wiesen werden konnte” (nach Zeitungsberichten).
Namens-Transvestiten.
Ueberblicken wir die lange Reihe der von uns ange-
führten Beispiele, so sehen wir, dass in einer recht grossen
Anzahl der Fälle, die Neigung in den Kleidern des anderen
Geschlechts zu leben, aufs engste verknüpft ist mit zwei
anderen Wünschen, denen nach einem der Tracht entsprechen-
den Namen und Beruf. Diese drei bilden eine zusammen-
gehörige Trias, trotzdem sie in Sehnsucht und Wahrheit
keineswegs in jedem Fall verbunden sind. Man
findet und fand namentlich früher, als ihrer noch nicht so
viele waren, viele schriftstellernde Frauen, die sich hinter einem
männlichen Pseudonym verbargen — gewiss auch
eine Art von Geschlechtsverkleidung, die aber durchaus nicht
immer nur von transvestitischen Frauen angelegt wurde,
ebenso wie es zweifellos auf der anderen Seite sehr männlich
geartete Frauen sogar mit mehr oder minder starkem Verklei-
dungstrieb gibt, die unter weiblichen Namen schreiben. Das
grosse Vorbild für die unter Märnernamen literarisch tätigen
Frauen war neben Daniel Stern (Gräfin d’Algout), der
Freundin Liszts, George Sand, diese markante Persönlich-
keit, die dem Lyriker Müsset und dem Komponisten Chopin
nahe stand. Sie trug, auch als sie schon längst
Mme. Dudevant hiess und Mutter zweier Kinder war, fast
stets Männerkleidung und wurde selten als Frau erkannt.
Es heisst übrigens, dass auch ihre Mutter schon auf Wunsch
ihres Gatten Dupin in Paris in männlicher Kleidung ging
und zwar angeblich aus — Sparsamkeitsrücksichten. Der
Antifeminist Weininger übertreibt in seinem steten Bemühen
geistreich sein zu wollen auch hier wieder, wenn er verall-
gemeinernd schreibt:*)
*) loc. cit. p. 84.
H i r s c h f 0 1 d , Die Transvesüton.
33
514
„Es hat oinen tieferen Grund, als man glaubt, warum die
schriftstell ernden Frauen so oft einen Männernamen annehmen;
sie fühlen sich eben beinah als Mann, und bei Per-
sonen, wie George Sand entspricht dies völlig ihrer Neigung
zu männlicher Kleidung und männlicher Beschäftigung. Das
Motiv zur Wahl eines männlichen Pseudonjuns muss in dem
Gefühl liegen, dass nur ein solches der eignen Natur korre-
spondiert ; es kann nicht in dem Wunsche nach grösserer Be-
achtung und Anerkennung von Seiten der Oeffentlichkeit
wurzeln. Denn, was Frauen produzieren, hat seit jeher,
infolge der damit verbundenen geschlechtlichen Pikanterie,
mehr Aufmerksamkeit erregt als, caeteris paribus, die
Schöpfungen von Männern, und ist, wegen der von Anfang
an immer tiefer gestimmten Ansprüche, stets nachsichtiger
behandelt, wenn es gut war, stets unvergleichlich höher ge-
priesen worden; als was Männer gleich Gutes geleistet hatten.
So ist das besonders heutzutage, und es gelangen noch fort-
während Frauen durch Produkte zu grossem Ansehen, von
denen man kaum Notiz nehmen würde, wenn sie männlichen
Ursprungs wären.“
Selbst hinsichtlich der Schriftsteller-Pseudonyme fehlt es
nicht an dem Pendant, an Männern die unter weiblichen Namen
schrieben; sie sind allerdings viel seltener. Als Beispiel
wären zu nennen der im Dez. 1905 verstorbene englische
Schriftsteller William Sharp, der unter dem Pseudonym
Fiona Macleod gedankenvolle Schöpfungen veröffentlicht
hat. Erst nach seinem Tode wurde seine Identität mit der be-
kannten „keltischen Natursängerin“ bekannt, bei Lebzeiten
hütete er sein Geheimnis sorgsamst und betonte in Ge-
sprächen häufig, dass die Werke der in ihrer Persönlichkeit
unbekannten Fiona Macleod sicherlich nur von
einer Frau geschrieben sein könnten.
Im Beginn des XIX. Jahrhimderts (letzte Ausgabe
Paris 1834) erschienen in zehn Bänden die Erinnerungen
der Marquise von Crequy, die eine Fülle von
rührenden, galanten und pikanten Anekdoten aus der
Zeit des alten Regime enthielten, so dass sie besonders
von älteren Leuten in wehmütiger Erinnerung an ihre
515
Jugend mit grösstem Enthusiasmus verschlungen wurden.
Die Marquise von Crequy, welche sich in diesen
Erinnerungen in die Rolle einer Schlossherrin versetzte, der
alles, was nach 1789 geschah, tiefste Antipathie einflösste,
M'ar niemand anders, als ein Herr von C o u r c h a m p s.
Er hatte sich in Wirklichkeit vollkommen mit der Person
der Marquise identifiziert. Als ihn einst sein Verleger be-
suchte, fand er ihn im Bett liegend, den Kopf von einem
feinen Spitzentueh umhüllt. „Entschuldigen Sie mich“, sagte
Herr von Courchamps mit leidender Stimme, „ich habe heute
meine Vapeurs!“ (= Periode) — Er schrieb seine Memoiren in
einer Art Boudoir mitten unter Spiegeln, Fächern, Schminkbüch-
sen, Nippes und angefangenen Stickereien. Nur eine kleine Probe
seiner Schreibweise sei angeführt. Die Marquise erzählt , —
(es handelt sich in allen ihren Mitteilungen um Phantasie-
gebilde) — wie sie vom Hochzeitsfeste des Dauphin, das
einen so tragischen Abschluss fand, heimkehrte; wie durch
ein Wunder gerettet, war sie gezwungen, allein nach Hause
zu gehen. „Es war das erste Mal, dass ich meine Hand auf
den Klopfer meiner Hintertür legte, und ich wusste garnicht,
wie ich das anfangen sollte. Ach, mein Gott, was sind
wir Damen, wenn wir ohne Lakaien gehn!“
Auch der oben erwähnte Herzog Emil August von
Gotha hat einen Roman veröffentlicht, der aus Briefen
zweier Freundinnen von hohem Rang bestand. Die eine war
die geistreiche Baronin von Werthern, die andere der Herzog
selbst unter dem Namen einerGrossherzogin
Anna in der Rolle einer jungen Witwe.
Es scheint mir überflüssig, zu untersuchen, was in den
Fällen, in denen der Trieb nach Kleidung, Name und
Beruf des anderen Geschlechts vergesellschaftet auftritt, das
primäre, was das sekundäre, was der ursprüngliche Ausgangs-
punkt, was Folgeerscheinung ist. Denn alle diese Dinge,
ob sie vereinzelt oder gemeinsam erscheinen, entspringen —
soweit sie überhaupt triebhaft innerlich bedingt und nicht äusser-
liche Zufälligkeiten sind — ein - und derselben Quelle
der weiblichen oder männlichen Seele; sie stehen also nicht
im Abhängigkeits- sondern im Coordinationsverhältnis zu-
33*
516
einander. Gesellt sich als \’iertes eine mehr der seelischen
als der körperlichen Eigenart entsprechende Richtung des Ge-
schlechtstriebes hinzu, so wird auch diese, welche wie wir
sahen, dann keineswegs immer homosexuell zu sein braucht,
als weitere beizuordnende Eigenschaft, her vor gegangen aus
derselben Mischung männlicher und weiblicher
Grundsubstanz angesehen werden müssen.
Frauen als vSoldaten.
Unter den dem einen oder anderen Geschlecht zuerteilten
Berufen hat wohl keiner seit jeher so sehr als ein männ-
liches Privilegium gegolten als der des Soldaten und
Kriegers. Selbst in den Ländern, wo weibliche Richter,
Prediger, Aerzte, Architekten etwas alltägliches sind, ist
der militärische Stand den Frauen verschlossen und auch
die weitgehendsten Yorkämpferinnen für gleiche Rechte und
Pflichten der Geschlechter haben den Eintritt weiblicher Per-
sonen in die Armee bisher nicht gefordert. Gleichwohl finden
sich aber auch in diesem excessiv männlichen Beruf, wenn
wir die Vergangenheit durchmustern, Frauen in beträchtlicher
Anzahl und eine völlig erschöpfende Behandlung des
Themas; „Die Frau als Soldat“, von den sagenhaften Zeiten
der Amazonen und Walküren bis in unsere Tage, würde schon
einen stattlichen Band für sich füllen. Es ist in hohem
Masse erstaunlich, wie diese Frauen oft, um ihrer Kriegs-
lust und Vaterlandsliebe willen die grössten Widerstände und
Hindernisse überwanden, vor allem auch, mit welcher Ge-
schicklichkeit sie sich in den meisten Fällen sehr lange der Ent-
deckung ihres Geschlechts zu entziehen wussten, sodass man
wohl annehmen kann, dass eine ganze Anzahl überhaupt un-
entdeckt geblieben sind.
Was allerdings die vielgenannten Amazonen betrifft,
so scheint mir ihr Vorkommen historisch nicht erwiesen,
trotzdem viele der alten und auch der neueren Autoren
ihre Existenz nicht in Zweifel ziehen. Was H e r o d o t ,
Diodor, Plutarch, Justin, Quintus C u r t i u s „
517
Homer und S t r a b o , was verschiedene arabische Schrift-
steller und später Abbe G u y o n in dem Werk „Histoire des
Amazones anciennes et modernes,“ (enrichie de Medailles,
Bruxelles 1741), Yierthaler in der „philosophischen
Geschichte der Menschen und Völker“, Spalart in dem
oben bereits erwähnten Werk über sie berichten, ist so
widerspruchsvoll und zum grossen Teil so phantastisch und
abenteuerlich, dass die Angaben dieser Gewährsmänner kaum
als zuverlässig angesehen werden können.*) Dass sich die
Bilder der Amazonen auf zahlreichen aptiken Aschenkrügen
und Münzen finden, beweist ihre körperliche Wirklichkeit
ebenso wenig, wie man solche aus den bildlichen Dar-
stellungen einer Germania oder Viktoria auf jetzigen Denk-
mälern folgern kann. Nicht einmal über ihren Wohnsitz
stimmen die Nachrichten überein. Einige geben an, sie
sollen an der nördlichen Seite von Kleinasien gewohnt
haben. Von dort aus hätten sie sich an die gegenüber-
liegende Seite des schwarzen Meeres bis in die Gegend des
Kaukasus gezogen. Die Sarmaten sollen von ihnen ab-
stammen. Sie sollen auch den Trojanern zu Hilfe gekommen
sein und hätten Eroberungen bis an den Don sowie in
Syrien gemacht. Auch Theseus und Herkules sollen mit den
*) Wiederholt sind natürlich auch die Amazonen in Heldendichtungen
besungen worden, so von Edmund Spenser in „The Faerie Queen"
(Epos 1590): Der Ritter Artegail gerät in die Gefangenschaft der Ama-
zonenkönigin Rudigunde. Diese wird von der Heldenjungfrau Britomarti.s
getötet und das Weiberreich zerstört. — In„Arcadia“ von Sir Philip
S i d n e y (1581) verkleidet sich Pyrokles als Amazone. Der König Ba-
silius, der ihn für ein Mädchen hält, und die Königin, die sein Geschlecht
erraten hat, verlieben sich beide in ihn. — In dem Heldengedicht von Helm-
hart von Hohenberg (1664) „Der Habsburgische Ottobert“, verliebt eich
Euphrasia in die schöne Amazone Ruremunde. Diese schiebt ihren früheren
Liebhaber Ariston heimlich an ihre Stelle. Bei dem Hochzeitsturnier besiegt
Ruremunde alle Gegner. — In der Heldengeschichte von Daniel Caspar
von Lohenstein „Der grossmütige Feldherr Arminius nebst seiner
durchlauchtigsten Thusnelda“ (1689), wird Zeno als Mädchen erzogen, weil
sein Vater ihn verstossen hat. Als er einen Mann heiraten soll, ergreift er
die Flucht. Er kommt in Weiberldeidem zu den Amazonen. Die Königin
Penthesilea und ihre Schwester sind in den Prinzen Orogestes verliebt. Dieser
aber liebt Zeno, den er für ein Mädchen hält. — Das Amazonenmotiv wird
auch in Kleist s „Penthesilea“ behandelt.
518
Amazonen Krieg geführt haben, die bei dieser Gelegen-
heit bis in die Gegend von Athen gelangt wären. Grab-
mäler und andere Denkmäler von ihnen wurden in Athen
noch in klassischer Zeit gezeigt. Manche Autoren versetzen
sie nebst einer anderen Weibernation, den Gorgoniden, nach
Afrika, besonders in seinen westlichen Teil. Auch an den
Ufern des baltischen Meeres sollen nach Adam von Bremen
noch um 1050 n. Chr. Amazonen gewohnt haben, die sich
mit fremden Kaufleuten, die ihnen in die Hände fielen, ge-
schlechtlich vereinigten. Ich will einige kurze Mitteilungen
alter und neuerer Autoren geben. Diodoros erzählt von der
Königin der afrikanischen Amazonen: ,,Von Tag zu Tag
wuchs ihre Tapferkeit so wie ihr Ruhm, und so wie sie eines
der Nachbarvölker überwunden hatte, überzog sie stets
das nächst angrenzende mit Krieg. Da das Glück sie be-
günstigte, so wuchs ihr Stolz; sie nannte sich eine Tochter
des Mars und wies den Männern die Wollarbeit und die
häuslichen weiblichen Verrichtungen an. Sie gab Gesetze,
durch welche sie die Weiber zur Verrichtung der Kriegs-
arbeiten erhob, den Männern dagegen Erniedrigung und
Knechtschaft auferlegte. Den neugeborenen Knaben wurden
Arme und Beine gelähmt, um sie zu kriegerischen Ver-
richtungen untüchtig zu machen; den 5Iädchen aber wurde
die rechte Brust verbrannt, damit sie, sich hebend, in den
Schlachten nicht hinderlich wäre. Hiervon soll die Nation
selbst den Namen Amazonen (a — mazon = ohne Brust) er-
halten haben.“ Mit dieser Namenserklärung verträgt es sich
allerdings schlecht, dass auf allen Abbildungen der Alten
die Amazonen stets mit zwei gut erhaltenen Brüsten er-
scheinen. Der jüdische Schriftsteller Ibrahim ibä Jabüb er-
zählt: .,1m Westen von der Rüs liegt die Stadt der Frauen.
Sie besitzen Aecker und Sklaven und werden von ihren
Dienern sch'wanger, und wenn das Weib einen Knaben ge-
biert, tötet sie ihn. Sie betreiben die Reitkunst und nehmen
den Krieg selbst in die Hand. Sie besitzen Mut und
Tapferkeit.“ Spalart schreibt; „Die Amazonen waren im
Altertum eine kriegerische Nation von Frauenzimmern,
welche in ihren Ländern die Regierungs- und Kriegsge-
519
schäfte besorgten und dagegen die weiblichen Verrichtungen
ihren Männern überliessen oder auch wohl gar keine
Männer unter sich duldeten, sondern sich nur zuweilen
Männer aus den benachbarten Staaten zulegten, damit ihre
Nation nicht ausstürbe. Üebrigens bemerkt man an allen
auf Denkmälern abgebildeten Amazonen eine ernsthafte und
mit Betrübnis oder Schmerz vermischte Miene, scharfe Augen-
brauen und grosseBrüste. Die Knaben schickten sie ent-
weder zu ihren auswärtigen Vätern zurück oder machten
sie gleich von ihrer Geburt an zu Krüppeln, um sie zu
allen Kriegsübungen untauglich zu machen. Ihr Haupt be-
deckte ein Helm, der den römischen Helmen sehr ähnlich
war, mit aufgestecktem Federbusch. An den Füssen trugen
sie Halbstiefel, die bis an die Waden reichten. Ausser einem
Schild, Pelta genannt, besassen sie Streitaxt, Köcher und
Bogen. Ihre Lanzen, welche man auf einigen thyreischen
Münzen abgebildet findet, glichen ganz jenen der Griechen.
C r e u z e r*) und nach ihm von Römer meinen dagegen,
dass die Amazonen als männlich geartete Mondpriesterinnen
aufzufassen seien. Creuzer sagt; „Die Amazone war eine
V i r a g 0 in einem kriegerischen Gestirndienste — so wie der
Eunuch (will sagen der verweiblichte Mann) in demselben
siderischen Orgiasmus das Weibliche« im Manne darstellen
sollte.“ —
Lassen wir die Frage offen, ob die A m a z o n e n wirk-
lich existierten oder wie die Walküren nur mythologische
Figuren waren, so beweist doch der feste Glaube an sie,
dass man aus den Erfahrungen des Lebens diese kriege-
rischen, männlichen Frauen für möglich, ja wahrscheinlich
hielt, wie es wohl auch denkbar ist, dass tatsächlich in
vorhistorischer Zeit irgendwo und irgendwann eine Vereini-
gung derartiger Kriegerinnen existiert hat, von der die
*) Creuzer, Friedr. : Symbolik u. Mythologie der alten Völker, beson-
ders der Griechen. 111. Ausgabe, Leipzig u. Darmstadt, Carl Wilh. Leske,
1836—42. I. Abt.
520
weit verbreitete Tradition ihren Ursprung ge-
nommen. Diese Vermutung gewinnt an Wahrscheinlichkeit,
wenn wir berücksichtigen, was wir aus historischen
Zeiten über Frauen als Soldaten wissen. Wir müssen uns
darauf beschränken, eine grossere Reihe von Proben zu
geben, die dazu dienen, Art und Wesen dieser Erscheinung
zu veranschaulichen, und zwar wählen wir auch hier wiederum
Beispiele aus den verschiedensten Völkern, um zu zeigen,
wie keine in das Gebiet der Zwischenstufen fallende Form
an Ort und Zeit gebunden erscheint.
Aus der deutschen Geschichte seien zunächst genannt;
Eleonore Prochaska, geboren am 11. j\Iärz 1785
in P 0 t s d a m , die unter dem Namen August Renz als
freiwilliger Jäger bei der Infanterie des Lützow’sclien Frei-
korps an den Freiheitskriegen teilnahm und am 16. Sept. 1813
in dem Gefecht bei Göhrde schwer verwundet wmrde. Das
tapfere Mädchen erlag ihren Verletzungen am 5. Oktober
1813. Tn einer damaligen Zeitung findet sich folgende Notiz;
„Dannenberg, den 16. September 1813. Vorgestern bei dem
Treffen von Göhrde ist unter den Jägern des Lützow’schen
Freikorps plötzlich ein Mädchen zum Vorschein gekommen,
die bis dahin unerkannt alle Gefahren und Mühsal des Feld-
zuges mitgemacht hatte. Ihr Geschlecht w'äre auch dies-
mal nicht verraten worden, wenn nicht eine traurige Not-
wendigkeit sie selbst gezw'ungen hätte, das Geheimnis zu
offenbaren. Sie war mit ihren Kameraden mutig in den
Wald gegen die feindlichen Plänkler vorgedrungen, und bei
dieser Gelegenheit durch einen Schuss verwundet worden,
ohne jedoch darum sich dem Gefechte zu entziehen. Bei dem
bald darauf erfolgenden Vorrücken gegen die feindliche Stellung
war sie unter den Vordersten, die entschlossen auf die Fran-
zosen eindrangen, als sie einen Schuss in den Schenkel be-
kam und dadurch ausser Stand gesetzt wuirde. länger an
dem Gefecht teilzunehmen. Wegen dieser Wunde befand sie
sich in grosser Verlegenheit, und entschloss sich endlich,
einem Offizier ihr Geschlecht zu entdecken, um durch dessen
Vermittlung allem Aufsehen zuvorzukommen und bei dem
Verbände alle den Umständen angemessene Schonung zu er-
halten. Dieses heldenmütige ^lädchen hiess Prochaska und
ist die Tochter eines Gastwirts aus Potsdam, wo sie still
und sittsam gelebt, bis der Ruf des bedrohten Vaterlandes
sie mächtig ergriff und zu der Verkleidung brachte. Sie hat
einstimmig das Zeugnis eines untadeligen Wandels bei allen
Kameraden, deren keiner ihr Geheimnis, das höchstens durch
ihre feinere Stimme bemerkbar werden konnte, erriet.“
Nicht minder kühn war Friederike Krüger aus
Friedland in Mecklenburg, sie wurde im Be-
freiungskriege Unteroffizier; in der Schlacht bei Denne-
w i t z wurde sie als Mädchen erkannt. R ü c k e r t sagt
von ihr:
Dieser Unteroffizier
Focht mit rechter Mannsbegier,
Hat erfochten W^unden viel
Und ein eisern Kreuz am Ziel.
Einen höchst merkwürdigen Vorfall berichtete die Ber-
linische Zeitung von „Staats- und gelehrten Sachen“ aus dem
Jahre 1746: „Ein Pfeifer von dem hier in Garnison liegen-
den Gräflich Haakschen Regimente, der beide schlesische
Feldzüge mitgemacht, ward unerwartet von einem Sohn
entbunden. Natürlich war der Pfeifer ein Weibsbild, und
der Vater des Kindes war ein Tambour von selbiger Kom-
pagnie, wobei jener diente. Der Vater ward Regiments-
tambour, und bei der Taufe seines Sohnes befanden sich die
vornehmsten Personen des Hofes und andere angesehene und
bemittelte Leute, welche die Sechswöchnerin so reichlich be-
schenkten, dass sie in den Besitz von mehreren Hundert Talern
kam.“ Der geschichtliche Schriftsteller König bestätigt u. a.
„das wundersame Faktum“ und fügt hinzu, „dass der Pfeifer
nicht bloss von einem Sohne, sondern auch vom Dienst
entbunden wurde, sowie dass Trommler und Pfeifer nachher
eine gute Ehe geführet.“
Wie die Krüger im Freiheitskriege, so brachte es
1870,71 Musketier Bertha Weise zum Unteroffizier.
„Avantageur" Bertha Weise, „klein und nicht schön von
Gestalt“, diente zurzeit des deutsch-französischen Krieges
beim 29. Regiment in Koblenz. Obgleich sie sehr wünschte,
mit gegen den Feind auszurücken, wurde es ihr von ihrem
Hauptmann nicht gestattet, da sie im Dienste eine wenig
stramme Haltung zeigte. Mehr der Drang einer Abenteuerin
als die Begeisterung kriegerischer Heldinnen hatte Bertha
Weiss veranlasst, Soldat zu werden. Wie es möglich war,
dass sie als Weib in Uniform gesteckt und als aktiver Sol-
dat eingereiht werden konnte, lässt sich nur durch eine
weniger peinliche Kontrolle infolge der Kriegswirren und
Truppenverschiebungen erklären. Es ist auch nicht ausge-
schlossen, dass Bertha Weiss unter Mitwissenschaft eines
anderen falsche oder gefälschte Papiere benutzte. Als ge-
fangene Franzosen in Koblenz festgehalten w'urden, avan-
cierte der sprachenkundige Musketier bald zum Unteroffizier,
bis ihr Geschlecht eines Tages entdeckt wurde. Sie kam in
Haft, stattete nach ihrer Entlassung in der ihr verbotenen
Uniform eines Feldwebels, als angeblicher Inhaber des eisernen
Kreuzes den östlichen Provinzen Deutschlands einen Be-
.'luch ab, vertauschte aber in Schlesien schliesslich die
Uniform mit der Mönchskutte und ging (allerdings auf
nicht lange Zeit) als Laienbruder in das Kloster der barm-
herzigen Brüder in Breslau. Ende 1871 finden wir sie in
der Schweiz, wo sie unter dem Namen „Lebeuf“ in einem
Verlagshause in Einsiedeln Stellung nimmt. Dann ver-
schaffte sie sich wieder als Bruder Eingang in ein Kloster.
Eine Erkrankung führte dort zu ihrer Entdeckung. Sie
tauchte dann noch in verschiedenen Orten der Schweiz als
Mann auf, bis nach wiederholter gerichtlicher Bestrafung
Ende 1878 die Zeitungen von ihrem Tode Notiz nahmen.
Wir fügen noch einige ihre Persönlichkeit gut charakte-
risierenden Mitteilungen aus einem Verhandlungsbericlit vom
Jahre 1874 bei: „Im Oktober stand vor dem Breslauer Kri-
minalgericht die durch ihren romantischen Lebenswandel schon
oft genannte und mit der Justiz in Berührung gekommeiu'
Bertha W. Sie machte durchweg den Eindruck eines als
Frauenzimmer verkleideten Mannes. Kräftige, männliche
Statur, breite Taille, ernste, männliche Gesichtszüge und
schlichtes, schwarzes Haar. Sie antwortete auf die ihr
523
vorgelegten Fragen mit gewählten AVorten und tiefer, so-
norer Stimme. Die Angeklagte ist 27 Jahre alt, in Schöne-
berg bei Goldap geboren, sehr früh verwaist und die Pflege-
tochter eines Rechtsanwalts, der ihr jedenfalls eine gute
Bildung geben liess, da sie sich ebensogut französisch wie
deutsch auszudrücken versteht. Sie gab an, dass sie früher
durch xMalerei und andere Arbeiten ihren Unterhalt gefunden
habe. Sie war früher bereits in den verschiedensten männ-
lichen Verkleidungen aufgetreten und hatte mit Hilfe ge-
fälschter Legitimationspapiere ihre Täuschungen ausgeführt.
Als Soldat hatte sie in einem süddeutschen Regimente mili-
tärische Ausbildung erhalten, will während des Feldzuges
als Fähnrich unter dem Namen Bernhard v. W. in ein
preussisches Regiment eingetreten, jedoch, weil sie mit
dem preussischen Zündnadelgewehr nicht umzugehen verstand,
aus dem Felde zum Ersatz zurückgeschickt worden sein.
Unter demselben Namen verlangte sie Anfang September im
Kloster der barmherzigen Brüder zu Breslau Einlass, indem
sie vorgab, im Felde verwundet worden und noch leidend zu
sein. Sie wollte sich nunmehr ganz dem klösterlichen
Leben widmen und wurde vorläufig als Novize angenommen,
jedoch mit der Bedingung, dass sie ihre Führungsatteste
beibringe. Als man diese Zeugnisse dringender verlangte,
verschwand Bernhard v. W. eines Tages, und es fand sich,
dass mit ihm aus dem Novizenschranke eine x\nzahl Klei-
dungsstücke im Gesamtwerte von etwa 25 Talern, sowie aus
dem gewaltsam eröffneten Reisekoffer des Bruders Amantius
ein Portemonnaie mit etwa 3 Talern verschwunden war.
Ueberdies hatte sie eine silberne und eine goldene Uhr,
sowie einen Taler zehn Silbergroschen von drei verschiedenen
Pfleglingen zur Aufbewahrung erhalten und mitgenommen.
Sie hatte während ihres sechswöchentlichen Aufenthaltes im
Kloster mit den Brüdern Amantius und Fortunatus in einer
Zelle zusammen gewohnt und geschlafen, ohne dass sie ihr
Geschlecht verraten hätte. Ueber die Brust pflegte sie eine
breite Binde zu tragen, indem sie vorgab, dass sie damit
ihre Verwundung schützen müsse. Tn schlauer Weise hatte
sie sich einer Untersuchung entzogen, indem sie in leichter
524
Weise dem Anstaltsarzt versicherte, dass sie kerngesund und
bereits untersucht sei. Auch nach ihrer Entfernung war
lange Zeit nicht entdeckt worden, dass die Klosterbrüder
ein Frauenzimmer in ihrer Mitte gehabt hatten."
Dass es heute noch in Deutschland Frauen gibt, denen
im Ernstfälle kriegerische Entschlossenheit zuzutrauen ist,
zeigen die Worte, mit denen bei der letzten Volkszählung
(1. XII. 1905) in einer kleinen Stadt Mitteldeutschlands eine
Frau ihre Zählkarte ausfüllte; sie schrieb in der Rubrik
„Geschlecht“: leider weiblich, doch wenn nach Aeonen die
Atome meines Körpers sich wieder zu einem denkenden
Wesen vereinigt haben, hoffe ich soviel Plus zu besitzen,
um berechtigt zu sein, dann die erste Rubrik — männlich
— auszufüllen; in der Kolumne „Militärische Ausbildung“
schrieb sie: „nicht militärisch ausgebildet, doch nötigenfalls
schneidig. Stellt sich freiwillig zum Landsturm, sobald der
Krieg der Heuchelei und Dummheit erklärt wird.“ Im
Oktober 05 wurde in Thorn die Arbeiterin F ranziska Kamps
aus Stewken, die bei den dortigen Artilleristen seit langem
den Beinamen: „der Herr Major“ führt in das Polizeigewahrsam
gebracht und von dem Schöffengericht wegen groben Unfugs zu
einer Woche Haft verurteilt, weil sie in Männerkleidung eine
Artilleriemütze auf dem Haupte, in der Nähe der Forts jen-
seits der Weser spazieren gegangen war.
Unter den soldatischen Frauen Oesterreichs war die mar-
kanteste Erscheinung Franziska Scanagatta. .,Selbst Sol-
dat, heiratete diese Dame nach absolvierter Militärdienst-
zeit einen Soldaten, verkehrte ihr ganzes Leben meistens
in Soldatenkreisen und hatte noch die Freude, einen ihrer
Enkel als Militärzögling der Militärakademie in Wiener-
Neustadt zu sehen; jener Akademie, aus der sie selbst her-
vorgegangen, und deren Kommandant zum hundertjährigen
Jubelfest der Gründung dieser Akademie es sich nicht nehmen
liess, den „weiblichen Kameraden“ einzuladen.
Franziska Scanagatta war am 1. August 1776 zu
Mailand als die Tochter angesehener und wohlhabender Ehe-
leute geboren und erhielt im elterlichen Hause die sorg-
fältigste Erziehung. Im Jahre 1794 sollte ihr Bruder Gia-
525
como die Militärakademie zu Wiener-Neustadt beziehen, Fran-
ziska selbst aber auch behufs weiterer Ausbildung in das
Kloster der Salesianer innen nach Wien gebracht werden. Die
Gefahren der weiten Reise (möglicherweise auch wohl der
Wunsch des Mädchens) bestimmten ihren Vater, seine Tochter
die Reise nach Wien in der Verkleidung eines Knaben machen
zu lassen. Unterwegs gestand Giacomo der Schwester seine
Abneigung gegen den ^lilitärstand, erkrankte in Venedig
und so wurde der die Kinder begleitende Vater an der
Weiterreise verhindert. Franziska, in Knabenkleidung, wurde
einer befreundeten, zufällig nach Wien reisenden Familie
Giuliani anvertraut, die sie dem damaligen Oberarzt der
Neustädter Akademie Dr. Haller, wo der Zögling Giacomo
Kost und Quartier finden sollte, bis zum Eintreffen dessen
Vaters in Obhut zu übergeben hatte. Franziskas Bestreben
ging nun dahin, den Giulianis, denen sie mit Geschick ihr
Geschlecht zu verheimlichen wusste, plausibel zu machen,
dass sie der für den "Militärstand auserkorene Giacomo sei,
was ihr auch gelang. In WTener-Neustadt wurde Franziska
dem Dr. Haller übergeben, und dieser, nicht ahnend, dass er
mit einem Mädchen zu tun habe, erwirkte bald darauf ihre
Aufnahme in die Militärakademie, die sie am 16. Februar
1794 bezog. Grosse Freude erfüllte Franziskas Herz bei der
Aussicht, die sich ihr jetzt durch den glücklich gelungenen
Eintritt in die Akademie eröffnete. Sie musste jedoch ihrem
in Venedig weilenden Vater von dem Vorgefallenen Mitteiluug
machen, und dieser, um seine Tochter besorgt, eilte nun
nach Wiener-Neustadt. Er suchte sie zu überreden, sich
nicht länger unabsehbaren Gefahren auszusetzen und dem Be-
rufe des Weibes zuwiderzuhandeln. Sie solle sofort die
IMännerkleider ablegen, nach Wien ins Kloster oder in die
Heimat abreisen, und so den begangenen Fehler, der seine
schärfste Missbilligung herausfordere, gutmachen. Doch Fran-
ziska legte sich anfs Bitten, sie bat so langes bis der
seine Tochter zärtlich liebende Vater endlich nachgab. Nun
steuerte Franzi.ska. alle Hindernisse überwältigend, dem vor-
gesteckten Ziele rastlos zu, oblag in der Anstalt mit vielem
Eifer und bestem Erfolg dem Studium, zeichnete sich beson-
526
ders durch kühnes Reiten, Turnen,. Fechten und Schwimmen
aus, und wurde nach zweijährigem Aufenthalte daselbst am
16. Januar 1796 als Fähnrich zum Warasdiner St. Georger
Grenzregiment Nr. 4 ausgemustert. Als ihr Bataillon in
eine andere Garnison verlegt wurde, drohte Franziska das
erste Mal Gefahr, demaskiert zu werden. Einige Damen der
Garnison — es w’ar in Sandomir — die die Kasinosoireen be-
suchten, bei denen die Offiziere des Bataillons erschienen,
schöpften bezüglich Scanagattas Geschlecht Verdacht und
teilten dies ihren Männern mit. Gelegentlich einer Soiree
trat ein Herr, dessen Gemahlin die gefeiertste Schönheit der
Saison war, an Fähnrich Scanagatta heran und eröffnete ihm,
dass es sich die Damen nicht nehmen lassen, ihn für ein
verkleidetes Mädchen zu halten. ,.Wenn dem so ist," er-
widerte Scanagatta lachend, „dann müssen wir natürlich die
Entscheidung dieser strittigen Frage den Damen — als von
ihnen aufgeworfen — überlassen, und ich erlaube mir, Ihre
Frau Gemahlin zur Schiedsrichterin zu erbitten, der ich
mich herzlich gern zur Verfügung stelle.“ Die auf solche
Weise eingeschüchterten Damen hüteten sich, diesen Klatsch
weiter zu spinnen. Auf einem Marsche erkältete sich Scana-
gatta einmal, erkrankte nicht unbedenklich und musste in
die Stabsstation Lublin gebracht werden. Hier war sic
acht Wochen lang ans Bett gefesselt, von grossen körper-
lichen Schmerzen gefoltert, zu denen sich noch die Angst
gesellte, von den behandelnden Aerzten erkannt zu werden;
doch auch diesmal verliess das Glück sie nicht; sie genas,
ohne entdeckt worden zu sein. Anfangs April 1799 finden
wir sie, mit dem Grenzregimente Nr. 12 im Felde stehend,
in Italien. Ihr Bataillon gehörte zu den Blockadetruppen
Genuas, und sie machte den Angriff von Barbagelata mit,
während welchem sie mit ihrer unterstehenden Abteilung als
erste in die Verschanzungen eindrang. Durch einen von den
Franzosen energisch geführten Gegenstoss kam ihr Bataillon
dann derart ins Ge<Iränge, dass dessen grösster Teil in Ge-
fangenschaft geriet. Nur einer Abteilung, zu der gehörte
auch Scanagatta, gelang es, der Katastrophe zu entgehen.
Die Abteilung schloss sich den Truppen des Generals
527
Grafen Klenau an, und hier erhielt Scanagatta den Auf-
trag, mit einem Detachement die Stellung von ßarbagelata
wieder zu besetzen und den Rückzug der österreichischen
Nachhut zu decken, welche Aufgabe sie — wie der Regi-
mentschronist berichtet — „mit vieler Umsicht und Ge-
schicklichkeit zur vollsten Zufriedenheit Klenaus löste." Auf
einer Durchreise in Cremona, wohin inzwischen ihre Eltern
übersiedelten, weilte sie einige Tage bei diesen. Vater und
Mutter wendeten die erdenklichsten Mittel an, um die
Tochter zur Rückkehr ins Elternhaus zu bewegen. Vergebene
Mühe. Stolz auf ihre Würde und erfüllt von dem Gedanken,
sich zum Feldherrn erheben zu können, erklärte sie bei aller
Liebe und Ehrfurcht für ihre Eltern, in den Reihen der
kaiserlichen Armee verbleiben zu müssen und reiste ab.
Nach sechs Jahren wurde es dem Vater aber doch zu
arg, und durch Vermittlung des damaligen Generalkom-
missärs der Lombardei, Grafen Castelli, den er in sein Ver-
trauen zog, erwirkte er beim Höchstkommandierenden der
österreichischen Armee in Italien, General der Kavallerie
Freiherrn von Melas, den Abschied für seine mittlerweile zum
Leutnant avancierte Tochter. Am 4. Juni ISOO,
am Tage, an dem Genua fiel, nahm Leutnant Scanagatta,
das Unvermeidliche mit Resignation über sich ergehen lassend,
den Abschied an. Korpskommandant FML. Freiherr v.
Gottesheim veranstaltete zu Ehren Scanagattas eine Ab-
schiedssoiree, bei der sie das letztemal als Offizier auf-
trat. Scanagatta erhielt zufolge Berichtes an Kaiser Franz I.
eine standesmässige Pension. Sie heiratete dann im Jahre
1804 den Gardeleutnant Spini, welcher überaus glücklichen
Ehe zwei Söhne und zwei Töchter entstammten, die die
Mutter mit der grössten Sorgfalt erzog. Nach achtund-
zwanzigjähriger Ehe wurde Franziska im Jahre 1832 Witwe,
und Kaiser Franz fügte ihrer Leutnantspension noch jene
einer Majorswitwe hinzu, „damit Oesterreichs Amazone die
letzten Tage ihres ereignisreichen Lebens in sorgenloser Ruhe
beschliessen könne“. Bis in ihr spätes Alter verkehrte die
in den besten Verhältnissen zu Mailand lebende, immer
geistesfrische Greisin mit österreichischen Offizieren, gedachte
V
528
oft in dankbarer Erinnerung ihrer ehemaKgen Komman-
danten und Kameraden, sprach oft ihre Sympathien für
die Franzosen des Ostens — wie sie die Polen nannte —
aus, und Hess sich gern herbei, interessante Episoden aus
ihrer „Amazonenzeit“ zu erzählen, die sie als die glück-
lichste ihres Lebens bezeichnete. Franziska Scanagatta starb
im Jahre 1865 zu Mailand und wnirde mit grossem Gepränge
zu Grabe getragen.“ (Nach einem Bericht in der Zeit, v.
20. Okt. 1907.)
In den Tyr ol er Freiheitskriegen von 1809 zeichnete sich
Anna Jäger so hervorragend aus, dass ihr der Schützenmajor
Aschbacher das Zeugnis gab „sie habe jederzeit mit unglaub-
licher Tapferkeit gekämpft.“ „Besonders wertvoll erwies sich
das weibliche Geschlecht im Jahre 1809 da, wo es galt,
den Feind durch List zu täuschen. Mit Vorliebe liess man
die Frauen gefährliche Spionendienste verrichten, das An-
zünden von Signalfeuern besorgen oder die Gegner durch
das T^nterhalten scheinbarer Wachtfeuer au! den Berghöhen
über Zahl und Stellung der eigenen Streitkräfte täuschen.
Und wie sie im Kampfe die Feuerstärke der Schützen ver-
mehrten, indem sie das umständliche Laden der Stutzen be-
sorgten, so nahmen sie ihnen auch die schwierigsten, er-
müdenden und zeitraubenden Erdarbeiten ab. Die Anlage
vernichtender Steinlawinen, die in den Engpässen auf den
durchmaschierenden Feind losgelassen wurden, war ebenso-
wohl das Werk von Frauen wie der ausgedehnte Schanzen-
kranz, mit dem Andreas Hofer nach seinem Rückzug aus
Innsbruck den Iselberg befestigen Hess.“
Wie die letzgenannten Frauen, so unterschied sich auch
die Jungfrau vonOrleans von den meisten uns be-
kannt gewordenen Kriegsheldinnen dadurch, dass sie aus ihrer
Geschlechtszugehörigkeit kein Hehl machte. Schiller lässt sie
sagen:
„Nicht mein Geschlecht beschwöre! Nenne mich nicht Weib!
Gleichwie die körperlosen Geister, die nicht frein
Aul ird’sche Weise, schliess ich mich an kein
[Geschlecht
Der Menschen an, und dieser Panzer deckt mein Herz.“
529
Historiöch scheint über die von Dichtung und Sage
vielbehandelte und vielerwähnte Persönlichkeit der „ J e a n u e
d’A r c" festzusteheii, dass sie um das Jahr 1410 an der
Grenze von Lothringen und der Champagne auf dem Lande
in einer Familie von Ackerbauern geboren ist. Von Kind-
heit an begleitete sie die Herden auf die Weide, lernte weder
lesen noch schreiben, um so eifriger aber die ihr von ihrer
frommen iMutter überlieferten Glaubenslehren. Sie wuchs in
den Erschütterungen und Wirren des Krieges auf, den , Eng-
land und Burgund gegen Frankreich führten und will zu
ihrer Beteiligung an dem Kriege durch eine Prophezeiung
inspiriert sein, die verkündete, dass das durch eine scham-
lose Frau ins Unglück gestürzte französische Reich durch
eine einfache lothringische Jungfrau gerettet werden würde.
Gross und kräftig von Gestalt, hatte sie schon im 13. Jahr
ihre Jungfrauschaft Gott geweiht. Sie kleidete sich nach
Männerart — was später vor dem kirchlichen Tribunal
einen wichtigen Anklagepunkt gegen sie bildete — verschaffte
sich schliesslich Rüstung und Pferd und zog gegen den Feind.
Voltaire lässt in „la Pucelle“ Jeann d’Arc einem schlafenden
englischen General die Hosen stehlen, nachdem sie sich schon
vorher eine Rüstung aus der Kirche verschafft hatte. Sie
bewies bei den Angriffen auf die feindlichen Stellungen so
viel Tapferkeit und Klugheit, dass sich die alten Offiziere
verwunderten und die Gegner erschraken. Aber schon am
24. Mai 1830 wurde sie vor Compieghe verwundet und ge-
fangen genommen. Die Engländer klagten sie der Ketzerei
und des Vergehens gegen die Sitten an; auch ihr Geschlecht
wurde angezweifelt. Hyrtl hat darüber (in seinem Hand-
buch der topographischen Anatomie) ohne Angaben der
Quellen mitgeteilt, dass die Aerzte Guill. Decanda u. Guill.
Dejardini auf Befehl des englischen Kardinals sie unter-
sucht und gefunden hätten, dass sie ein Weib war, ihre
Scheide aber so eng gebaut sei, dass ein Geschlechtsver-
kehr niemals hätte stattfinden können. Johanna wurde von
dem kirchlichen Tribunal wegen Ketzerei zum Tode verur-
teilt. 1431 Ijess sie dieselbe katholische Kirche auf dem
Scheiterhaufen verbrennen, die sie 1909 beatifizierte.
H i r s c h f e 1 d , Die Tranavesoten.
34
530
Die Reiterstandbilder der Jungfrau von F r e m i e t
aui der Place de Rivoli und von Dubois vor der Augustiner-
kirche in Paris stellen Johanna in vollkommen männ-
licher Rüstung, mit Beinschienen iisw., dar, auch in
männlichem Reitsitz, ebenso wie Tuaillon seine
schöne nackte Amazone im Berliner Tiergarten zu Pferde
dargestellt hat. Der Köpf beider ist weiblich.
Jeanne d’Arc w'ar nicht die einzige Frau, die sich
in Frankreich mit kriegerischem Ruhm bedeckt hat.
Da gab es, um nur von vielen einige zu nennen, schon
lange vor ihr die Marschallin (la marechale) Renee de Ba-
1 a g n y , die „gestiefelt und gespornt“ im Jahre 1595 die Ver-
teidigung von Cambrai leitete und Mine, de B a 1 m o n t , deren
Leben de Vernon unter dem Titel: „TAmazone chretienne“
(Paris 1679) beschrieben hat; da war Christine de M e y r a c
„l’heroine mousauetaire“, die sich unter dem Namen Saint-
Aubin in die Rekrutenlisten eintragen liess, allmählich bis
zum Hauptmann aufrückte, bei der Belagerung von Valen-
ciennes (1677) Adjutant wurde und sich bei der Einnahme
von Luxemburg durch den Marschal Crequy (1684) auszeichnete.
Da ist Mlle de la Charce zu nennen, eine berühmte Schönheit
ihrer Zeit*) die von der Liebe enttäuscht und von Rache
getrieben in den Krieg zog gegen die Truppen, w'elche unter
dem Oberkommando des Mannes, der ihr die Treue gebrochen,
ihr Heimatland, die Dauphine überschwemmten. Da ist die
Dichterin Louise L a b b e , die unter dem Namen eines Capi-
tains Loys bei der Belagerung von Perignan (1542) eine
Rolle spielte und die Wirtshausmagd Madeleine C a u 1 i e r ,
die sich zurzeit der Belagerung von Lille (1708 — 1712) als
Dragoner einstellen liess und der seltsame „Chevalier
R a 1 1 a z a r“,**) ein Mädchen, das eine unbezähmbare Sehn-
•) Vgl. Histoire de Mademoiselle de la Charce. Paris 1731. Ein
Porträt von ihr findet sich mit der Bezeichnung: „l’H^roine du Dauphine“ im
Museum von Versailles; Napoleon III. hat es malen las.sen. Ein Monument
wurde ihr 18.57 in Nyons gesetzt „pour avoir defendu son pays contre les
armoes- autrichiennes“.
*•■*') Vgl. .Histoire de la Dragone, contenant les actions militaires et les
aventures de Genevieve Premony sgus le nom.du Chevalier Baltazar. Bruxelles
1721.
- 531
sucht nach dem Leben eines Mannes hatte und wegen ihrer
Verkleidungssucht und burschikosen Manieren von Kindheit
an viel zu leiden hatte. Während der Belagerung von
Namur entflammte sie das Herz einer nichtsahnenden vor-
nehmen Dame, die durchaus mit dem schönen jungen
Mann tanzen wollte und „es ihr nie verzieh, dass
sie sie nicht zum Besten haben wollte. “ Laitu-
i 1 1 e r berichtet in seinem Buche „les femmes cele-
bres de 1783 — 1795“ von zwei elsässischen
Schwestern, die in der Armee des Generals Dumou-
riez dienten und von diesem wegen ihrer Tapferkeit zu
seinen Adjutanten ernannt wurden. Besonders in der
Schlacht bei Jemappes sollen sie sich hervorgetan haben.
Die Soldaten folgten den Mädchen mit feurigster Begeiste-
rung; die ganze Armee war von Ekstase erfüllt, wenn der
General sie vor die Front führte und als Muster soldatischer
Tugenden pries.
Bekannt ist die Rolle, welche Frauen in und ohne
Uniform in den Kämpfen der französischen Revolution und
der Kommune spielten, beispielsweise Alexandrine Bar re au,
die als Grenadier gekleidet, ihrem Gatten und Bruder zur
Armee der Westpyrenäen folgte*), und Marie L o 1 1 i e r e , die
1793 zum Tode verurteilt wurde, weil sie bei dei Ver-
teidigung von Lyon in den Reihen der Gegenrevolutionäre
zu den Waffen gegriffen hatte; ihre Hinrichtung war eine
um so grössere Barbarei, als sie schwanger war. Bei der-
selben Gelegenheit wurde auch die Schneiderin Marie Adrian,
die in Uniform eine Kanone gegen die Republikaner bediente,
füsiliert.**) Bis an ihr Lebensende (1852) trug Angelique
Duchemin Uniform; sie hatte mit 21 Jahren das Gewehr ge-
nommen, um ihren Mann zu rächen, der auf dem Schlacht-
feld gefallen war. Weniger durch ihre kriegerischen Leistungen,
als durch ihre Aehnlichkeit mit dem jungen General Bona-
parte war eine in der Revolutionsarmee dienende junge
*) Ein schönes Bild von ihr findet sich in „Les fastes de la Nation
frani;aise“.
**) cfr. Catalogues des Lyonnais digncs de memoire.
34'
532
Italienerin bekannt: Alessandria M a r i. Auf einem Bilde,
das sie als „Adjutant en Chef de la division du Valdarno
et de r avant garde aretine (vers 1797)“ im kühn geschnittenen
Profil zeigt, ist diese Aehnlichkeit mit den berühmten
Jugendbiidnissen Napoleons allerdings unverkennbar.*)
Wenn wir gelegentlichen Schilderungen begegnen, dass sich
die an der Revolution beteiligten Frauen wie „entmenschte, blut-
dürstige Hyänen“ benommen hätten, so steht der Beweis noch
aus, ob dieser angebliche Furor nicht weit mehr der Natur des
Krieges als der Natur des Weibes zuzuschreiben ist. Wo
die Möglichkeit bestand, diesen Behauptungen nachzugehen,
stellte es sich heraus, dass die weiblichen Soldaten nicht „ent-
menschter" waren, als ihre männlichen Kameraden. Das
gilt beispielsweise von der berühmtesten Barrikadenkämpferin
der französischen Kommune, der „vierge rouge“ und „Petro-
leuse“ Louise Michel. Für ihre transvestitischen Empfin-
dungen ist es bezeichnend, dass sie sich zur Zeit der
Kommune zwei vollständiger Uniformspiele bediente, während
sie sich in ihrer weiblichen Toilette stets sehr vernachlässigte
und wenn sie zwei Kleiderröcke besass, den besseren von
beiden, in Konsequenz ihrer Anschauungen bald fortzu-
schenken pflegte. Allerdings trug sie bei politischen Ver-
sammlungen und Vorträgen auch meist Männerkleidung. Karl
V. Levetzow hat in der biographischen Studie, die er ihr
nach ihrem Tode in den Jahrbüchern für sexuelle Zwischen-
stufen gewidmet hat, ein anschauliches Bild entworfen, wie
sie sich im feindlichen Feuer benahm. Er schreibt: „Louise
Michel auf der Barrikade hat nichts mehr von einem Weibe
an sich. Und sie ist nicht etwa nur da, um anzufeuern
und die Männer zum Mute anzuspornen; nein, sie kämpft
und schiesst mit, ganz wie ein andrer, und tut die
schwierigsten Patrouillen und Ordonnanzdienste. Hier fühlt
sie sich in ihrem Element. Sie liebt Pulvergeruch und
Kanonendonner und die Todesverachtung fliesst dergestalt
•) Vgl. das schöne Buch: „Les femmes militaires de la France“ von
Tranchant u. Ladimir sowie auch „La femme en culottc" von John Grand
Carteret. (Paris bei Flammarion.)
aus ihrer innersten Natur hervur, dass sie wirklich und
aufrichtig die Gefahr vollständig vergisst. Die weiblichen
„Schrecknerven" fehlen ihr einfach. Das Gesamtschauspiel
fesselt sie derart, dass sie an die Kleinigkeit, dass die
Bomben, die da durch die Luft fliegen und krachend rund
um sie zerplatzen, auch ihr gelten könnten, nicht mehr
denkt. Ganz suggestiv wirkt z. B. eine Szene, wo sie mit
einem russischen Studenten, der sich der Bewegung ange-
schlossen, an einer dem feindlichen Feuer ausgesetzten Stelle
der Strassenbarrikade ruhig und seelenvergnügt den Nach-
mittagskaffee schlürft und dabei über Baudelaire diskutiert,
dessen Gedichte der Student in der Tasche herumträgt; in
der Hitze der Diskussion garnicht bemerkend, dass rechts
und links die Sprenggeschosse einfallen. Die Kameraden, die
sich längst in gedeckte Positionen begeben haben, können
das endlich garnicht mehr mit ansehn und werden grob mit
den beiden. Da ziehen sie sich endlich auch zurück, und
kaum haben sie es getan, fällt eine Bombe mitten in die
stehengebliebenen Kaffeetassen.“ —
Ein sehr ähnlicher intellektueller Kämpfertypus wie Louise
Michel war Helena Petrowna B 1 a v a t z k y ,*) die
sich freilich auf einem anderen Geistesgebiet als der
Politik, nämlich auf dem der Theosophie, einen Namen
gemacht hat. Auch dieser „weibliche Ahasver“ konnte
der Versuchung nicht widerstehen, sich im Kriegs-
getümmel die Sporen zu verdienen. 1863 schliesst sie sich
von revolutionären Gedanken erfüllt, in Italien Garibaldis Frei-
scharen an und kämpft in der Schlacht von Mentana, in
der sie schwer verwundet wird. Noch nach Jahren zeigte
sie ihrem Freunde Olcott die Wundmale aus jener Zeit.
Die Blavatzky war als die Tochter des russischen Generals Peter
von Hahn und seiner Gemahlin Helena Fadeef 1831 zu Jekateri-
noslaw geboren. Bald nachdem sie sich mit 17 Jahren mit dem
Staatsrat Blavatzky verheiratet hatte, „der ihr Vater hätte
sein können“, entfloh sie diesem und gelangte in Ma t rosen -
*) Vgl. das von Hans Freimark im VIII. Jahrb. f. sexuelle Zwischenst.
von ihr entworfene Lebensbild.
534
kleidern nach Konstautiuopel. Es ist sehr bezeichnend, nicht
nur für ihre Art, sondern 'sie verschieden sich
diese Art nach den geistigen Interessen der Menschen
äussert, dass sie, als sie nach einem sehr bewegten und
tätigen Leben in den achtziger Jahren des vorigen Jahr-
hunderts starb, keinen innigeren Wunsch hatte, als den
nach einer ,,m ä n n 1 i c h e n E. e i n k a r n a t i o n“ ; „ihre
Erwartung, dass diese Hoffnung sich verwirklichen würde,
war sehr zuversichtlich“, berichtet ihr Biograph Sinett in den
„Incidents in the life of ^lad. Blavatzky“. Ob sie wohl
wusste, dass es in China — wie der Missionar Huc*) be-
richtet — eine Weibersekte gibt, die glauben, dass sie „das
Glück haben, einmal als Männer wiedergeboren zu werden
und sich dann an ihren Ehemännern rächen dürfen, die in
Gestalt von Frauen auf die Erde zurückkehren.“
In demselben Jahre 1863, in dem die Blavatzky im Süden
unter Garibaldis Führung für die Freiheit Italiens kämpfte,
finden wir eine der edelsten soldatischen Frauengestalten
Angela P ostowoitoff im Norden um die Unabhängigkeit
Polens ringen. Ein Biograph schreibt von ihr; „Von bester
Familie, stark, kühn und vaterlandsliebend, von tiefem, reli-
giösem Gefühl beseelt, nahm Angela Postowoitoff teil an
der Erhebung ihres Vaterlandes; im Kriegsrat wde auf dem
Schlachtfelde, erst als Gemeiner, dann als Offizier, voll
glühender Begeisterung, eine neuzeitliche Jeanne d’Arc. Von
grosser persönlicher Schönheit, die noch durch die schmucke
Uniform gehoben wurde, war sie eine der anziehendsten
und romantischsten Erscheinungen im polnischen Heere. Ob
sie rein weiblichen Geschlechts war, ist nicht klargestellt;
sie erscheint eher als ein geschlechtsloses Wesen, das ganz
in dem Wirken für ihr unglückliches Vaterland aufging. Sie
wurde von ihrem Waffengefährten, General Langiewicz, dessen
Adjutant sie wurde, angebetet, doch sie konnte ihm nicht
mehr als innige, dauernde Freundschaft geben. In den
Schlachten bei Chrobrze und Busk wurde sie verschiedent-
lich verwundet, während sie an der Spitze einer Schar von
•) In „ l’empire chinois. “ Paris 1854. II. 246/7.
535
jungen polnischen Patrioten kämpfte. Bald darauf musste
sie sich mit vielen anderen Flüchtlingen ins Exil begeben.
Sie starb einige .Jahre später in der Schweiz in den Armen
des Generals Langiewicz.“
Die letztgenannten Frauen gehörten Volksstämmen an,
in denen seit uralten Zeiten — vielleicht schon seit denen
der Amazonen, deren Heimat ja von vielen in das südliche
Russland verlegt wird — kriegerische Frauen sehr häufig
waren. In den altrussischen Heldensagen — wie der von
Fürst Wladimirs Tafelrunde — spielt die Poloniza, die
Heldin, eine grosse Rolle. Eine besonders berühmte Po-
loniza war Nastasia, „die immer zu Pferde sass“. Eines
Tages, sprach sie — so berichtet ein altes Volkslied —
„Junger Held Dobrynja Xikititsch, du gefällst mir, ich
will dich heiraten. Wenn du aber nicht willst, dann
töte ich dich; da dachte sich Held Dobrynja:
Wenn sie mich töten will, kann ich mich nicht
wehren, denn sie ist viel stärker als ich. Doch sie ist ein
stattliches, schönes Weib, ich will sie also heiraten. Ich
will Dich heiraten, starke Heldin Nastasia Mikulischna,
sagte Dobrynja. Sie küssten sich, ritten zusammen nach
Kiew und hielten dort Hochzeit.“
Als die Griechen im Jahre 626 Konstantinopel eroberten,
fanden sich unter den getöteten slavischen Kriegern viele
w' e i b 1 i c h e Leichname. In dem russischen Departement Wlatka
in der Stadt Jelabuga ward jüngst ein Denkmal enthüllt,
das dem Andenken der heldenhaften Nadjeschda Andrej ewna
D u r 0 w a errichtet wurde; sie war 1866 gestorben, nach-
dem sie mit grosser Auszeichnung in den Feldzügen gegen
Napoleon I., besonders 1812. unter dem Namen Alexandroff,
gedient hatte. In einem Litthauischen Regiment zum Haupt-
mannsrang emporgestiegen, wurde sie von ihrem Vorge-
setzten verschiedentlich wegen ihrer kühnen und umsich-
tigen Führung ausgezeichnet und mit vielen Orden dekoriert.
Als man ihrer Dienste nicht mehr bedurfte, wandte sie
sich literarischer Tätigkeit zu; ihre Skizzen, historischen
Studien, Beobachtungen und persönlichen Erinnerungen an
ihre Dienstzeit wurden weithin populär. Sie erreichte ein
Alter von 83 Jahren. Die Enthüllung des Denkmals für den
.,H a n p t m a n n D u r o w a” fand unter Entfaltung grossen
militärischen Prunkes statt, wobei das russische Heer durch
zahlreiche hohe Offiziere vertreten war.
Von Beispielen aus den letzten russischen Kriegen seien
folgende erwähnt: „Aus Odessa wurde mitgeteilt, dass dort die
Haidukin Zorka Iliewa, welche im letzten macedo-
nischen Aufstande eine Insurgentenbande kommandierte, ein-
getroffen ist und in einer Audienz beim dortigen General-
gouverneur General Kaulbars um die Erlaubnis gebeten hat,
als Freiwillige in die russische Armee einzutreten. Die
Haidukin ist ein stark gebautes muskulöses Frauenzimmer
von 23 Jahren und trägt Männerkleidung.“
„Xenia Kristaya hatte von glühender Vaterlandsliebe
beseelt, ihr kleines heimatliches Dorf in Männerkleidung ver-
lassen, um im fernen Osten gegen die Japaner zu kämpfen.
Xach vielerlei Beschwerden und Mühsalen gelang es ihr, der
regulären Reiterei zugeteilt zu werden. Niemand ahnte ihr
Geschlecht und 2]4 Monate lang verrichtete sie im Dienste
wähle Heldentaten. So trug sie in einem hitzigen Gefecht
einige Verwundete aus der Fenerlinie, verband sie und ver-
teidigte sie auch noch gegen die angreifenden Japaner, bis
sie selbst ernsthaft verwundet wurde. Der Kommandierende
der 1. Armee verlieh ihr in Anerkennung ihrer Tapferkeit
die militärische Verdienstmedaille 4. Klasse. Als dann ihr
wahres Geschlecht bekannt wurde und ihre romantische Ge-
schichte zu Ohren des Zaren kam, sah sich dieser veran-
lasst, dem Heldenmädchen in Anerkennung ihres ausser-
ordentlich patriotischen und mutigen Benehmens die Er-
laubnis zum ferneren Tragen der Medaille auf dem Gnaden-
wege zu erteilen, denn nach dem Gesetz dürfen in Russland
militärische Ehrenzeichen an Frauen nicht vergeben werden."
(Mb. 07. p. 153.)
Reuters Spezialkorrespoudent meldet unter dem 23. Febr.04
aus Tokio: „Ein japanischer Gensdarm entdeckte unter den
nach Nishima transportierten russischen Gefangenen eine
537
Frau von etvv'ä 20 Jahren, die als Mann gekleidet war Sie
wurde in einem besonderen Quartier untergebracht.“
Weit und breit bekannt auf dem Kriegsschauplatz der
Mandschurei war der schmucke rotbackige Kosak Jelena
Michaiiowna Smolka. „Während der letzten chinesischen
Wirren beschloss die damals siebzehnjährige Jelena, Tochter
eines jüdischen ausgedienten Soldaten in Wladiwostok, in der
Grenzwache Dienste zu nehmen. Da sie seit ihrer frühesten
Kindheit mit Chinesen und Koreanern in Berührung ge-
kommen war, beherrschte sie vollkommen die koreanische
und chinesische Sprache. Das unternehmende junge Mädchen
vertauschte ihren Namen gegen den männlichen Namen
Michail, besorgte sich eine Männerkleidung und bestand in
Wladiwostok das Examen eines Militärdolmetschers. Ende
1900 diente die Smolka als Dolmetscher und Mitglied der
Grenzwache auf der Station Ninguta, wobei sie zu Pferde
alle Streif Züge und Scharmützel der Grenzwache mitmachte.
Im Jahre 1901 wuirde die Smolka mit einer Ssotnja der Feld-
wmche zur Vornahme einer Rekognoszierung nach Kaiga ab-
kommandiert. Nach einem beschwerlichen Tagesmarsch schlug
die Ssotnja ihr Nachtlager in einer Fansa auf. Als sich die
Soldaten zur Ruhe gelegt hatten, w'urde plötzlich die Fansa
unter dem Schutz der Dunkelheit von Chunchusen ange-
griffen. Die Smolka, welche in dieser Nacht die Wache
hatte, bemerkte jedoch rechtzeitig die drohende Gefahr,
setzte ihre Kompagnie davon in Kenntnis und als die Chun-
chusen nahten, worden sie von einem mörderischen Feuer
empfangen und zur Flucht gezwongen. Bei diesem Schar-
mützel erhielt Jelena Smolka ihre erste Verwundung an der
linken Schulter. Für diese und andere hervorragende Taten
erhielt die Smolka eine Geldbelohnung, einen Säbel mit einem
silbernen Griff und der Inschrift „Für Tapferkeit“ und eine
silberne Medaille. Als Japan im Januar die Feindseligkeiten
gegen Russland eröffnete, richtete Jelena an den Komman-
dierenden der Armee das Gesuch, sie in die Reihen der
Freiwilligen aufzunehmen. Ohne die Antwort abzuwarten,
eilte sie nach Charbih und trug ihre Bitte dem General
Wolkow vor, der sie jedoch abschlägig beschied. Die Smolka
538
schaffte sich nun wieder Männerkleider an, steckte ihre
Tapferkeitsmedaille an die Brust und suchte nach einer Ge-
legenheit, sich der aktiven Armee auf eigenes Risiko anzu-
schliessen. Um diese Zeit wurden bereits in Charbin keine
Eisenbahnbillette nach dem Süden an Privatpersonen ver-
kauft. Doch die findige Smolka wusste sich zu helfen; sie
versteckte sich in einem Güterwagen und gelangte glücklich
auf diese Weise als „blinder“ Passagier nach Liaujang, wo
sich damals das Hauptquartier befand. Dort begegnete
Jelena zahlreichen ehemaligen Kameraden von der Grenz-
wache und durch die Verwendung des Jessauls Wischnjakow
vom 2. Nertschinsker Kosakenregiment gelang es ihr, die
Aufnahme in die aktive Armee durchzusetzen. Bald darauf
erhielt ihre Ssotnja den Befehl, eine Rekognoszierung der
Umgebung der Stadt Huanschensien vorzunehmen. Wie schon
früher einmal bei einer ähnlichen Gelegenheit konnte die
Smolka dank ihrer Sprachkenntnisse ihrer Ssotnja einen
grossen Dienst erweisen, indem sie auf das Nahen eines
grösseren feindlichen Detachements aufmerksam machte, so
dass sich die Ssotnja ohne Verluste rechtzeitig zurückziehen
konnte. In der Folge wurde Jelena von General Rennen-
kampff unter dem Namen Michail Smolka als Freiwilliger
und Dolmetscher dem 2. Nertschinsker Kosakenregiment zu-
kommandiert. Mit diesem Regiment hatte die Smolka zahl-
reiche Rekognoszierungen mitgemacht, wobei sie einmal leicht
am Fuss von einer feindlichen Kugel verwundet wurde.
Während ihres Soldatenlebens hatte die Smolka alle
Strapazen und Entbehrungen ihres Regimentes mitgemacht
und ohne Murren ertragen: sie schlief unausgekleidet in der
gemeinschaftlichen Fansa, war gleichzeitig mit den Kameraden
im Sattel, sang, scherzte und speiste mit ihnen und ver-
langte bloss das eine, sie als Mann zu behandeln. Doch
Jelena war ein Weib, und dazu ein junges und hübsches,
und so konnte es trotz aller Reserve ihrerseits nicht aus-
bleiben, dass sich in dem „weiberlosen schrecklichen
Kriege“ nicht nur zahlreiche ihrer Kameraden, sondern auch
mehrere Vorgesetzte Offiziere in sie verliebten. Im übrigen
legten die Offiziere und Soldaten in ihrem Benehmen Jelena
gegenüber die grösste Zurückhaltung an den Tag, und sie
hatte sich nie über eine ihrem Geschlecht nicht angemessene
Behandlung zu beklagen. “
Wie in Russland, so ist auch in Amerika die Reihe
weiblicher Soldaten eine recht ansehnliche. Ob wohl dort die
Tradition der Amazonen, hier die indianischer Heldenfrauen
unbewusst fortwirkt? oder sollten — sich hier wie dort und über-
all Geschlechtstypen finden, die seelisch zwischen den Ge-
schlechtern stehen? Als vor kurzem gemeldet wurde, dass in
dem Kampfe der Filipinos gegen die Amerikaner eine kühne
Tochter der Insel Luzon an der Spitze einer bewaffneten
Schar ins Feld gezogen sei und den Amerikanern mehrere
Gefechte geliefert habe, wurde in Amerika die Erinnerung
wachgerufen an Heldinnen, deren Namen und Taten sich in
den Annalen der Geschichte der Vereinigten Staaten finden;
„Eine Frau, die ihr Geschlecht Jahre hindurch verheim-
lichte und in der Unionsarmee viele Kämpfe und Feldzüge
mitmachte, war als Frank Thompson vom zweiten
Michigan-Infanterieregiment bekannt. Durch den dichtesten
Kugelregen brachte sie als Ordonnanz Botschaften für
General Poe nach Fredericksburg. Sie heiratete später einen
Mr. Seelye und war für das Wohl kranker und verwundeter
Soldaten eifrig tätig. Eine romantische Gestalt in den
Bürgerkriegen ist ein kubanisches Mädchen Loreta Ve-
1 a s q u e z gewesen, die ihr Heimatland verliess und sich
den Streitkräften der Südstaaten anschloss. Als Leutnant
Harry Buford kämpfte sie mit Mut und Kühnheit. Es
entspann sich dann zwischen dem weiblichen Leutnant und
einem Offizier der Nordstaaten ein Liebesabenteuer, bei dem
sie den Geliebten zum Uebertritt zu den Südstaaten über-
redete und dann heiratete. Ein Mädchen aus Brooklyn,
dessen wirklicher Name niemals bekannt geworden ist, ver-
kleidete sich als Knabe und trat in das Trommlerkorps eines
amerikanischen Infanterieregiments ein. Schliesslich Wurde
sie bei Chickamanga diuch eine Kanonenkugel zerrissen. Grosse
militärische Tüchtigkeit erwies auch Charlotte C u 's h m a n ,
eine Schauspielerin, die in dem Bürgerkriege Spionendienste
leistete und nach gefahrvoller Gefangenschaft vom General
Garfield zum a ,i o r ernannt wurde. Es ist tlieselbt'. derer
wir oben beieits unter den Darstellerinnen mäimlicher
Rollen auf der Bühne rühmend gedaehten. Keine Frau aber
hat sich in den amerikanische)! Bürgerkriegen in so viel
facher Art betätigt, als 3 r i d g e t i; i v e r s , gewuhn’i,
„die irische Bidd“ genannt. Ai< .laikotendtri,!;. Kranken
pflegerin. Hospitalköchin, später als Soldat und als Aizt,
tat sie ausgezeichnete Dienste. Sie war eirm vorzügliche
Reiterin und im Kami'A wurden drei Pferde unter ih^ gp-
tötet. Eine andere Heidin war 1 r a ■ T n r c h i n
Gattin des Generals Turchin. Tm Jahre 1882, als ihr uatr
schwer krank darniederlag. leitete sie ie Bew’egungen der'
Truppen, und gab die nöTigeu Befehle, während sie zti-
gleich ihren Mann pflegte.“
Den letzten Krieg der Amerikaner gegen Spanien machte
in einem Chikagoer Reiterregiment Nicolai de R a > 1 a n mit,
dessen Geschlecht sich, als er im Dezember 1906 an Tuber-
kulose starb, zum Erstaunen nicht am werdgsten seiner Ehe-
irau ais w e i b 1 i c h erwies. Er war die letzten 13 Jahre seinef.
Lebens als Sekretär am russischen Konsulat in CMkagc
gestellt und hatte mindestens 18 Jahre al? Mann gelebt,
benahm sich wie ein vollendeter Kavalier und da er ". id-m
sehr hübsch w'ar, hatte er vuel Glück bei Frauen. E; war
nicht weniger als dreimal verheil atet, hatte aber voihtr
ausbedungen, ..dass mit Rücksicht auf sein I'uugenleiden d_ie
Ehekontrahenten nach der Hochzeit nur dem. Namen nach
wie Mann und Frau zusaiTimenleb''n soilt"u ‘ Das war v-mhl.
der Grund, dass zwei Frauen -ich bald wieder von ihm
scheiden Hessen, während die dritte, die ihn uberleblc rmd
vergöttert hatte, erst nach seinem ^ erscheidon erfuhr,
dass er wie sie selbst eine Frau war. Nicolo.i de Itaylan
hinterlicss ein nicht unbeträebtliches ä ermögeii, das er
seiner IVitwe bestimmt hatte. Da aber noch die Muvter des
oder richtiger der Verstorbenen in der russischen Stadt Kiew
lobte, wurde entschieden, da.^-s nur diese als Erbe des äer-
mögens der Toenter gelten Könne und die bedauernswerte
Gattin hatte für ihre Treue, ihre Unschuld und die Sorg-
samkeit, mit der sic Nicolai gepflegt hatte, das Nach-
541
-iehen. Noch vor kurzcni. (März 07) wurde auf dem amen
karüsi‘,hen Kriegsschiff Vermont ein M a h r o s e als verkleidete
Frau entlarvt. Sie war als der Matrose John Wilkinson
eingetragen, um) da sie als eiu ordentlicher, sauberer Bi-rsche
galt, warne sie zum Dienste bei der Offiziersmesse abkom-
inandie; ' . Kiniaal wai die „Verment“ in den fiafen von
Bcstoi) Ci.ugelaufen. John Vdilkinson, der sonst unerl annt
mit bsiuen Kameraden gehaust hatte, nahm ein Bad, und
hierbei wurde cntdeHit, o.iss die schmucke- Offiziersordonnanz
0!'i Madch.^ii war. Ijov lalschc John. Wilkiobon, dei keinen
(}’-and für seinen me.rkvrürdigen Schriet auzugeben wusste,
wuide vorläufig den Üafenbehörclei' .lucrgeben.
Unter den Wonian-solcdeis der englischen Armee \erd'ieut
an erster Steile Christi na Davis genannt zu werden, die im
•lahre 1739 starb, nachdem sie viele Jahre im 2. Dragouer-
regimeni, das später wegen seiner Grauschimmel den Namen
dci „Schottischen Grauer“ erhielt, gedient hatte. Sie wmr
1G6~ gebo‘‘en und hatte in sehr imigem Alter einen Mann,
nam.ens Welsch gehUi ai:ec. Emeb Tages wurde irr Gatte
zvrangs'veise zani Heere eingezegen und nach 'Hollami ge
sandt. Chüstina veiklc.-dete sich daraufhin selbst als Manu
und lifess sich bei einem Infantcric-Regirar-iit einscliieiben,
um ihrem Manne nachzafelgea. Nach vielen Abeuceuera.
unter die amT; ihre Teilnahme au der Schlacht \oii Landen
fiel, wurde sie verwundet, gefangen ganomrurv; und dann
wieder ausgevechselt. Sie geriet weiterhiii ln einen Liebes-
]'.aridei und h.ati.j deev/egeu ein Duel' auozutechteii l.ioes
sich später bei der Kavallerie anweihen und machte die Be-
lagen.iiig vor Namur mit. Nach dem Frieden von Bijswick
kehrte sie nach Irland zurück, ohne iliren Gatten ge
funden zu haben. Sie hatie sich aber au das Soldjicidebeu
(ie. .rt „gewöhnt“ dass sie hei de- uaehstcu Kriegßerklärung
wieder in das Heer einiraf. Nach de-' Schlacht von Bleu-
ucim fand sii , als Wache bei den Gefangener- befohlen,
endlich ihren Gatten w.ic.'cr. de’- sie. rei-, l uige-j. für tot
gehalten hatm. Sie beschlösse)! nun, s-ich als Brüdei aus-
zügeberi lo.j weiter hüm Heere zu bieilieu Bei Ramilliee
'. 'iirdc ri, ,Jn* (-J- vo.fWMindet nnc, dabei wurde ibi Ge-
542
schlecht entdeckt. Ihr Gatte fiel bei Malplaquet, aber sie
heiratete später noch zweimal. Nach ihrem Tode wurde sie
mit militärischen Ehren begraben. (Jhb. V. 1212.)
Im britischen Museum zu London befindet sich ein
Bildnis von H a n n a h S n e 1 1, welche ebenfalls ihrem Geliebten
Billy Tailor in Männerkleidung gefolgt war. Er war für
die Marine angeworben und sie kämpfte an seiner Seite;
ihr Geschlecht blieb unentdeckt, bis sie eine Kugel in
die Brust traf, bei deren Entfernung ihr Geheimnis ent-
hüllt wurde.
Dass Frauen wiederholt sich durch Tapferkeit in Kriegen
hervorgetan haben, ist bekannt. Weniger bekannt dürfte
sein, dass verkleidete Frauen auch als Militärärzte
fungiert haben. So war zum Beispiel der Militärarzt M a c -
1 0 d , der in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhun-
derts in der indischen Armee diente, ein sehr geschickter und
erfahrener Praktiker. Seine Kollegen spotteten zuweilen über
seine grosse Mässigkeit. wofür er gewöhnlich nur ein Achsel-
zucken hatte; als aber einmal ein junger Leutnant die
spöttische Bemerkung fallen Hess, Maclod führe die
Lebensweise einer alten Jungfer, riss ihm die Ge-
duld; er, versetzte dem Beleidiger eine derbe Ohrfeige und
die Folge war ein Duell, in dem der Leutnant fiel. Maclod
erhielt infolgedessen den Abschied; er kehrte nach England
zurück und liess sich in der Nähe Londons nieder. Erst
nach seinem Tode stellte es sich heraus,
dass der tüchtige Chirurg eine Frau ge-
wesen war, die aus einer der ältesten Familien Englands
stammte.
Eine der merkwürdigsten Erscheinungen im englischen
Heere war Dr. James Barry, „die“ als General-Inspektor der
englischen Militär-Lazarette im Jahre 1865, 75 Jahre alt,
starb. „Fräulein Anne Barry war eine Verwandte Lord Fitzoy
Sommersets, und dessen Einflüsse hatte sie es zu verdanken,
dass sie nicht wegen ihrer wiederholten Verstösse gegen die
Disziplin aus der Armee entlassen wurde. Um die \ or-
schriiien kümmerte sie sich wenig, und ihre scharfe Zunge
brachte sie häufig in Konflikt mit den Behörden und ein-
543
zelnen Offizieren. Einmal geriet sie mit einem Adjutanten
in Wortwechsel, und da damals noch Duelle an der Tages-
ordnung waren, zögerte „Dr. Barry“ keinen Augenblick, sich
ihrem Gegner mit der Pistole in der Hand zu stellen. Das
Duell verlief zwar unblutig, verschaffte Dr. Barry aber Ruhe
vor den Hänseleien der jungen Offiziere. Sie tat Dienst in
England, Indien, Kanada usw. und starb in London eines
plötzlichen Todes. Einmal sagte ein Offizier, der mit ihr
ritt, plötzlich zu ihr: „Sie sehen wahrhaftig mehr wie eine
Frau, als wie ein Mann aus!“ Dafür bekam er einen
Peitschenhieb über das Gesicht, und auf seine Beschwerden
beim Gouverneur wurde er nach Tristan d’Acunha versetzt.
Dass sie eine Frau gewesen, war nur wenigen bekannt, und
auch ihr Grabstein verrät es nicht.*)
*) Eingehend gedenkt ihrer Major Arthur G r i f f i t h s in seinem
kür7.1ich erschienenen Buche „Fifty years of public Service.“ Oliver Gold-
smith hat in dem zehnten seiner Essays: „Female Warriors" den Vor-
schlag gemacht, englische Amazoneu-Regimcnter einzurichten. Er erinnert
an die Amazonen des Altertums, und zwar an die, welche in Kappa-
dozien hausten, an Penthesilea, Königin der Amazonen, die nach Homer
im trojanischen Kriege mit Priamus im Bündnisse war, an Thalestris,
die Alexander dem Grossen hundert bewaffnete Amazonen zum Geschenk machte,
an D i 0 d 0 r u s S i c u 1 u s, der von einer Nation weiblicher Krieger in
Afrika berichtet, die gegen den lybischen Herkules fochten, ferner daran, dass
in den Reisen des Kolumbus zu lesen sei, dass eine der Caraiben-Inseln von
einem Stamme weiblicher Krieger gehalten wurde, die alle Nachbarinseln in
Furcht erhielten; er erwähnt die zwei bekannten Seeräuberinnen Mary
Read und Anne Bonny und sagt, er habe selbst die Ehre gehabt,
mit Anne Cassin und anderen Kriegerinnen zu trinken, die sich in amerikani-
schen Kämpfen ausgezeichnet hätten, auch habe er mit Moll Davis ge-
sprochen, die in allen Kriegen der Königin Anna als Dragoner gedient hatte
und in Chelsoa Invalidenpension bezog. „Der letzte Krieg mit Spanien (ge-
schrieben 1762) und selbst der jetzige haben Beispiele von Frauenzimmern
hervorgebracht, die sowohl für den Land- wie für den Seedienst angeworben
mit bemerkenswerter Tapferkeit fochten, in der Kleidung des an-
dern Geschlechtes. „And who has not heard of the celebratej
Jenny Cameron, and some other enterprising ladies of North Britain,
who attended a certain ailventurer in all his expedition, and headed their
respective clans in a military character?“ Es ist nicht recht ersichtlich, ob
Oliver Goldsmiih seinen Vorschlag nur satyrisch gemeint hat. ln der Tat
würde es in den meisten Ländern ohne grosse Schwierigkeiten möglich, sein,
ein aus weiblichen Soldaten bestehendes Regiment zusamnienzubringen.
544
Auch aus niederländischer Vergangenheit seien zwei Bei-
spiele angeführt; „Im Jahre 1633 wurde Barbara Adriaens
auf 24 Jahre aus der Stadt Amsterdam und 24 Meilen im
Umkreis verbannt, weil sie sich in Männerkleidern als Sol-
dat „Willem Adriens" hatte einschreiben und sich später in
der Kirche mit einer Frau hatte öffentlich trauen lassen.
Diese hatte ihren „Ehemann“ nach der Entdeckung wegen
Betrugs angezeigt.“
FrancinaGunningh war mit der Witwe eines franzö-
sischen Kapitäns als weiblicher Dienstbote nach Paris ge-
reist und benutzte auf deren Rat zur Rückreise ^länner-
kleidung, in der sie gefahrloser würde heimkehren können.
Da sie jedoch völlig ohne Papiere war, wurde sie als mut-
masslicher Deserteur nach Cherbourg gebracht und in die
Armee eingestellt. Es gelang ihr, nach einiger Zeit nach
Deutschland zu entfliehen, sie blieb aber Soldat und diente
unter Blücher. Im Kriege verwundet, entdeckte man im
Spital, dass sie ein Mädchen war. Sie wurde entlassen,
reiste als Mann weiter und wurde, weil sie jemanden um
Geld und Kleider betrogen hatte, in Zwolle 1813 zu drei
Monaten Gefängnis verurteilt. Nach Verbüssung ihrer Strafe
verschaffte sie sich wieder Militärkleider und beteiligte sich
als tapferer Soldat an der Vertreibung der Franzosen aus
den Niederlanden und diente bei der Belagerung von
Kämpen, Coevorden und Deventer unter dem Landsturm. Um
sich ein gutes Kosthaus während dieser Zeit zu sichern, ver-
sprach sie dem Dienstmädchen eines Landbauers, Alida
Landeei, die Heirat. Nach dem Kriege konnte sie die Alida
nicht los werden, sie reisten nach Apeldoorn zusammen,
wo der Vater der Alida Kupferschmied war. Dort blieben
sie einige Zeit und sie Hess sich zur Heirat einschreiben.
Sie nannte sich „Franz Gunningh Sloet junior, Herr von
Amerongen, 26 Jahre alt, geboren zu Alkmaar, wohnhaft zu
Deventer, Sohn von Hans Sloet und von seiner Gattin (im
holl, steht: „vrouwe“) Amalie Gunningh“. Am 15. und
22. Mai 1814 wurden sie aufgeboten, aber als sie die
Papiere nicht zeigen konnte, wurde sie wegen Heirats-
prellerei verhaftet. In der Nacht vom 17. zum 18. August
545
entfloh sie mit zwei mäm .ichen Gefangenen; ihr Sig--
naiement (immer als Mann) wurde bekannt gemacht; sie
wurde auf gefunden und weil der Staatsanwalt Verdacht
schöpfte, am 7. September 1814 von Aerztcn untersucht und
als Weib befunden. Am 28. Dezember wurde sie zu Zulfen
wegen Betrugs zu drei Jahren Gefängnisstrafe und Fl. 25
Geldstrafe verurteilt. (Z. f. S. p. 255.)
Ein sehr abenteuerliches Leben, das in verschiedener Hin-
sicht an das Vagantenleben unserer Bertha Weiss erinnert,
führte eine spanische Kriegerin.
Catalina deErauso, genannt la Monja (= die Nonne)
Alferez, wurde im Jahre 1585 in San Sebastian geboren.
Als Kind gab man sie einer Verwandten, dij Aebtissin
eines Klosters war, zur Erziehung und bis zu ihrem 15.
Jahre trug sie Nonnenkleidung. „Man erwartete, dass sie
den Schleier nehmen würde, doch Catalina war eine wider-
spenstige Novize; sie schlug und prügelte sich mit den
Schwestern herum und beschloss schliesslich, aus dem
Kloster zu fliehen, um ein weltliches Leben zu führen. Sie
verbarg sich nach ihrer Flucht einige Tage in einem Ge-
hölz, nachdem sie sich die Kleidung eines jungen Burschen
verschafft hatte. Als sie wieder auf tauchte, war Catalina
de Erauso verschwunden und an ihre Stelle ein junger Mann,
der sich Francisco Loyola nannte, getreten. Sie war toll-
kühn genug, sofort wieder nach San Sebastian ‘zurückzu-
kehren und eine Stellung als Diener in der Familie eines
angesehenen Bürgers anzunehmen. Unerkannt in Identität
und Geschlecht blieb Catalina auf diesem Posten, bis eines
Tages ihr Vater bei ihrer Herrschaft zum Besuch erschien,
wobei das vielbesprochene Verschwinden seiner Tochter den
Hauptgesprächsstoff bildete. Ihr Vater erkannte sie nicht,
als er mit ihr auf dem Flur zusammentraf, doch sie fühlte
sich von da ab nicht mehr sicher bei ihrem Brotherrn
und hielt es für klüger, aus dem Hause und San Sebastian
zu verschwinden; vorher nahm sie noch eine ansehnliche
Summe Geldes (das ihr nicht gehörte) mit, um für die
Reise versehen zu sein. Sie wurde dann Schiffsjunge auf
einer grossen Gallione, die ihrem Onkel, Kapitän Esteban
Hirachleld, Die Tranavesüten. 35
546
Eguino, gehörte, der sie kaum ]e gesehen und sie weder
als Verwandte noch als junges Mädchen erkannte. Er ge-
wann Catalina — oder vielmehr Francisco — ausserordent-
lich lieb und machte sie zu seinem persönlichen Diener. Als
sie aber eines Tages in einer Hafenstadt Anker warfen,
rückte sie ohne Kündigung aus, wiederum nicht ohne eine
beträchtliche Zwangsanleihe. Sie schiffte sich nach Süd-
amerika ein und kam nach Panama. Ihr weiteres Leben ver-
brachte sie zunächst auf der westlichen Halbkugel. Catalina
war in dieser Zeit zu einer schönen männlichen Er-
scheinung herangewachsen. Sie ging als Diener und Ver-
walter bei verschiedenen Herren in Stellung. Ueberall hatte
man sie sehr gern, obwohl sie sich beständig mit ihren
Mitangestellten herumprügelte. Man machte ihr verschiedent-
lich Heiratsanträge, die sie jedoch ablehnte. Später kam
sie nach Lima in Peru= In der Stadt Concepcion traf sie
ihren Bruder, der als Sekretär beim Gouv^erneur angestellt
war. Hier beginnt eine der absonderlichsten romantischen
Episoden in Catalinas Lebenslauf. Ihr Bruder kannte sie
nicht. Es bemächtigte sich seiner eine Leidenschaft für
den gut aussehenden Burschen, den er bei einem Ver-
gnügen kennen gelernt hatte. Beide wurden treue Ge-
fährten. Da brach ein Krieg mit einem der Eingeborenen-
stämme aus und Catalina liess sich anwerben. Sie kämpfte
mit Auszeichnung und als sie eine schon verloren ge-
gangene Standarte wieder eroberte, avancierte sie zum
Fähnrich. Ihr Bruder stand bei demselben Truppenteil.
Fünf Jahre lang blieb Catalina im aktiven Dienst. Sie er-
wies sich auf dem Schlachtfelde und im Kreise der Kame-
raden als „Mann von scharfem und kühnem Geiste“. Sie
hatte bereits verschiedene Duelle gehabt, als sie eines aus-
focht, bei dem es besonders heftig zuging; es fand bol
völliger Dunkelheit statt. Catalina liess ihren Gegner tot
auf dem Platze. Als ihr in der Nähe weilender Bruder
kam, um ihr beim Verbinden ihrer schweren Verv/undungen
behilflich zu sein, enthüllte sie ihm das Geheimnis ihres
Geschlechts und dass sie seine Schwester Catalina de Erauso
sei. Nicht lange darauf desertierte Catalina. Sie ging nach
547
Tucuman in Argentinien, hatte viel Ungemach durchzii-
machen, bis es endlich anfing, ihr besser zu gehen. Ein-
mal verliebte sich die Tochter eines reichen einheimischen
Gutsbesitzers in sie; just zu derselben Zeit hatte sie aber
ein hochgestellter Geistlicher des Landes als Ehemann für
seine Nichte erwählt. Catalina verlobte sich mit den beiden
jungen Damen, wurde mit Geschenken überhäuft, doch als
der zur Vermählung bestimmte Tag herannahte, entfloh sie
wieder. Nach vielen weiteren Abenteuern, neuen Kriegs-
fabrten, Verbindungen mit Räubern und Banditen (zweimal
wurde sie zum Tode verurteilt, einmal erst unter dem
Galgen begnadigt) geriet sie in eine wüste nächtliche
Schlägerei in einer Spielhölle in Guamanga. Sie sollte fest-
genommen werden, doch sie wehrte sich sehr energisch
und nahm das Asylrecht des dortigen Bischofs in An-
spruch, der sie unter seinen Schutz stellte. Diesem Bischof
beichtete sie ihre ganze Lebensgeschichte. Zuerst bekannte
sie, sie sei ein Weib und erzählte ihre Herkunft und ihre
Abenteuer. Aber der Bischof wollte ihres Geschlechtes sicher
sein, und zwei Hebammen untersuchten sie und schwuren,
sie hätten sie als Jungfrau befunden, wie am Tage ihrer
Geburt. Der fromme Mann wurde von tiefer Erschütterung
und Bewunderung ergriffen. Er drang in Catalina, wieder
das Leben eines Weibes aufzunehmen. Sie gab schliesslich
ihre Einwilligung und trat in ein Kloster in Lima ein.
Nach zwei Jahren stiller Zurückgezogenheit beschloss sie,
nach Spanien zurückzukehren. Unterwegs schrieb sie ihre
Biographie. Es liegt kein Grund vor, deren Einzelheiten
für übertrieben zu halten; viele der seltsamsten Tatsachen
haben sich bei Nachprüfung als wahr herausgestellt. In
Spanien wurde sie als eine Art Weltwunder angestaunt
und in ganz Europa wurden ihre Erlebnisse besprochen. Sie
wandte sich nach Rom und wurde vom Papst Urban VIII.
empfangen, unterhielt ihn mit ihrer Autobiographie, emp-
fing Vergebung ihrer Sünden und eine päpstliche Lizenz,
männliche Kleidung zu tragen. Von Rom ging sie nach
Neapel, wurde dort in einen Strassenskandal verwickelt,
wobei sie, wie gewöhnlich, blank zog. Von der Zeit ab
35*
548
sind ihre Schicksale unbekannt. Es ist nicht aufgeklärt, ob
sie nach Südamerika zurückkehrte, noch wo sie schliesslich ihren
Tod fand. Ihre Erscheinung gelegentlich ihres Besuches in
Rom findet sich in einem Briefe des bekannten italienischen
Reisenden Pietro delle Yalle beschrieben. Er spricht von
ihr als einem schlanken, kräftigen, dunkelhaarigen Menschen
von etwa 45 bis 50 Jahren, der in keiner Weise den Ein-
druck eines Weibes machte.
Auch in dem letzten Kriege der Spanier gegen die Ver-
einigten Staaten tat sich ein Weib Kapitän Rosa
C a s t e 1 1 a n 0 s in Cuba rühmlich hervor.
Dass es auch unter den Völkern der Bal-
kanhalbinsel von der Zeit Rhodugenes, — die
auf die Nachricht vom feindlichen Einfall mit unge-
kämmtem Haar zu Pferde stieg und sie nicht eher
wieder ordnete, als bis der Feind geschlagen war —
bis in die Gegenwart nicht an verwandten Frauentypen fehlte,
bedarf nach allem Vorhergehenden wohl kaum noch der Er-
wähnung. Aus den letzten Kriegen sei eine Schilderung
wiedergegeben, die ein Berichterstatter der Frankfurter
Zeitung aus Tirnowa sandte. (Jhb. V. 1197.) „Auf
meiner Rückreise von der Schipka-Feier musste ich mich
ungezwungenerweise zwei Tage in Grabovo aufhalten, weil
es dort weder Wagen noch Pferde infolge des grossen
Bedarfs für das Fest augenblicklich gab, die mich die
45 Kilometer lange, noch eisenbahnlose Strecke nach Tirnowa
hätten befördern können. Als ich endlich einen Wagen er-
halten hatte und eben die letzten Abmachungen mit dem
Besitzer traf, betrat ein Mann das Zimmer, der die Klei-
dung eines bulgarischen Bauern trug, und an dem mir
ausser seinem bartlosen Gesichte die für einen Bauern
aussergewöhnlich kleinen Füsse auffielen. Unter der natio-
nalen Pelzmütze schaute kurz geschnittenes schwarzes Haupt-
haar hervor, und die Brust schmückte eine Reihe von Me-
daillen, die für die Teilnahme an dem russisch-türkischen
und dem bulgarisch-serbischen Kriege verliehen worden waren.
Ein Wagenbesitzer, der den Ankömmling als alten Bekannten
begrüsste, raunte mir zu: „Das ist kein Mann, sondern eine
549
Frau.‘‘ Nun \\Tirde meine Neugierde rege, und ich knüpfte
ein Gespräch mit der interessanten Person an. Sie hiess
Ivanka Marcova und war aus Hula bei Widdin gebürtig.
1877 war sie, als Mann verkleidet, in die bulgarische Legion
eingetreten und hatte mit dieser den Schipkapass ver-
teidigen helfen, weshalb sie jetzt auch der Schipka-Feier als
Veteran mit beigewohnt hatte. Nach dem Feldzuge ver-
heiratete sie sich mit einem Bauern ihres Heimatsortes.
Als aber der Krieg mit Serbien .xUsbrach, litt es sie
nicht länger daheim. Sie lief ihrem !Manne davon und trat
wieder in die bulgarische Armee ein, mit der sie die
Schlacht bei Slivnitza mitmachte. Ihr Mann Hess sich in-
folge dieser E.vtravaganz von ihr scheiden, und seitdem
trägt sie nur Männerkleidung. Ihr Gesicht zeigt ange-
nehme Formen, doch sind die Züge hart, und die Haut ist
von vielen Falten durchfurcht.“
Es ist durchaus nicht erwiesen, dass in allen diesen
Frauen, die in Reih und Glied im Felde standen oder als
Offiziere das Kommando führten, die ebenso tapfer gegen
die Türken in Ungarn vde gegen die Mauren in Spanien
Gräben und Bastionen verteidigten, die in hunderten von
Aufständen und Grenzgefechten anstatt ihr Kind die Muskete
im Arm hielten, statt der Küche die Kanonen bedienten, ich
sage, es steht keineswegs fest, dass in allen diesen weib-
lichen Soldaten, deren eigentliches Geschlecht oft erst ent-
deckt wurde, als sie schwer verwundet im Spital oder tot
auf dem Schlachtfelde lagen, der männliche Seelen-Einschlag
ein sehr erheblicher gewesen ist; in den meisten
Fällen war er es sicherlich in hohem
Masse, selbst bei den Frauen, die aus Liebe zu ihren
Männern das Kriegshandwerk ergriffen, denn wir wissen, das,s
bei der Neigung zu bestimmten Männertypen die virile Bei-
mischung durchaus nicht ausgeschlossen ist. Es sei endlich
noch bemerkt, dass Neugebauer 9 Fälle von weiblichem
Scheinzwittertum, also von Frauen, die wegen sexueller
Abweichungen ersten Grades irrtümlicherweise für
Männer gehalten wurden, zusammengestellt hat.
die als Soldaten ihrer Militärpflicht genügten.
550
Als Seitenstück zu den Frauen, die als Soldaten, gibt
es auch Soldaten, die als Frauen aufgetreten sind. Er-
innern wir uns unseres Falles IX, erinnern wir uns der
Soldaten, die in Frauenkleidern desertierten, des tapferen
Ritters d’Eon und fügen wir noch einen Bericht hinzu, der
nach einer Zeitungsnotiz vom 17. Dez. 1893 im Jhb. II.
p. 330 abgedruckt ist: „M r. James Robbins, Kommandeur
der ^Militärstation in Coopers Mills, Missouri, trägt in seiner
eigenen Behausung nur weibliche Bekleidung und setzt
seinen ganzen Stolz darin, dass seine Kleider bis in das
geringste Detail genau der letzten Mode entsprechend und
makellos sind. Rock und Taille müssen auf das Perfekteste
sitzen, ja der würdige Kommandeur trägt sogar einen
Damenhut. Keine der Frauen in ganz Coopers Mills, sogar
die der andern Offiziere, haben eine solche Auswahl an Klei-
dern, wie er sie besitzt; alle seine Kleider sind vom feinsten
Material. Er kauft nur das beste. Seine weisse Wäsche
Ist vom feinsten Leinen, mit Plissees. Einsätzen und feinen
Spitzen besetzt.“
Schlussbetrachtungen.
Man begegnet gelegentlich der Auffassung, dass das
Bunte und Schimmernde, Geputzte und Gezierte soldatischer
Uniformen mehr einer eitlen Frau als eines ernsten Mannes
würdig sei. Diese Meinung setzt einen weitverbreiteten Irrtum
voraus, nämlich den, dass in der Natur des Mannes an und
für sich ein geringeres Bedürfnis nach Körperschmuck liege.
Für die Gegenwart, in der jedoch niemand, der objek-
tiv die Geschichte und den Wechsel der aloden betrachtet,
etwas Abgeschlossenes erblicken kann, mag dies zutreffen,
im allgemeinen trifft es nicht zu. Wie sich unter den
Tieren gewöhnlich das männliche vor dem weiblichen dureli
einen grösseren Prunk von Hörnern und Mähnen,
Federbüschen und Sporen, durch mehr Glanz und Färbung
551
des Pelzes und Gefieders auszeichnet,*) so finden wir, dass
auch unter den Naturvölkern und darüber hinaus der Mann,
insonderheit der Krieger, das Weih an Bemalung und Täto-
wierung, an Federschmuck und sonstiger Verzierung „über-
strahlt“. Halten wir uns aber ausschliesslich an die
Zeiten und Völker der Kultur, so sehen wir, dass in der
Schlichtheit der Kleidung die Geschlechter selten gleichen
Schritt hielten; meist war es sogar so, dass, wenn das
eine Geschlecht sich einfach trug, das andere zu Auswüchsen
in Form und Farbe neigte. Nie war die Kleidung des
Mannes überladener, seine Haartracht grotesker, sein Hals
übertriebener eingewickelt als zu der Zeit, wo die Frauen zur
griechischen Natürlichkeit zurückgriffen und „der ganze
Damenanzug einer Berlinerin sechszehn Loth wog.“ Das
war am Ende des XVIII. Jahrhunderts; am Ende des XIX.
*) Es kommt aber auch bei den Tieren durchaus nicht vereinzelt vor,
dass männliche Tiere im weiblichen, weibliche im männlichen Haar - oder
F ederkleid erscheinen. In Edmond Rostands menschlichem Tier-
drama „Chantecler“ ist die Trägerin Jer weiblichen Hauptrolle, in
welche sich Chantecler verliebt, eine Fasanenhenne im männlichen
Prachtgefiedor. Die in Betracht kommende Stelle (Act I, Scene VIl
lautet:
P a t 0 u (der Hund)
Qui vous?
La F a i s a n e
M o i , 1 e F a i s a n
P a t 0 u , rectitiant doucement
La F a i s a n p :
La Faisane
Ma race,
Car je la reprfeente, avant pris la cuirasse
De pourpre. -Oui ce destin que longtcmps je subis
D’etre une fcuille morte ä cöte d’un rubis
M’ayant un jour sernble döcidem.erlt trop pälc,
.J’ai vole son plumage eblouissant au male.
Etj’ai bien fait.car jeleportemieuxque lui!
La palatine d'orsur moi se gonfle etluit;
•l’ai donne plusdegräceä laverteepaulette,
Et d’un simple uniforme ai fait unetoilette!
(Zu deutsch: „Ich habe das schillernde Gefieder dem Männchen ent
wendet und ich habe recht daran getan, denn ich trage es besser wie er;
war es umgekehrt; wer wollte v'oraussageu, wie es :..w Eo.i-
des XX. sein wird.
Als hauptsächlichstes IJntersch.eiduugsiDerkuiai
männlichei und weiblicher Tracht hat sich in fast allen
Kol turiäudern nun schon s e \ r vielt o. J a h r h a -
eierten die Bekleidung des Untt ikor^ers hcrausge-
bildet: das männliche Beinkleid — die Rose — im
Gegensatz zu dem weiblichen über beide Beine g e -
meinsam fallenden Kleid"' u’oek Das .V'rkai’te dir-
Unterschiedes kommt auch chi rin zum •Uu'ic - .i.-k, dao.s eine
Frau, ohne als verkleideter Mann zu gelten, die mär.;) a, che
Oberkörperkleidung- Hut, Kragen. Weste, Jacke fas< un-
verändert übernehmen kann, die Hosen nicht; di"^ folhlo-
ristische Bildersprache kägt n Rcchtnmg, indem sic von
einem recht energisch auftretenden Weibe die symbolistische
Redensart gebraucht: „Die Frau hat die Hosen an,‘' ven
einem sich gegensätzlich verhaltenden Mann: „Der Mann ■
mein Goldschweif dehnt sich und glänzt; Ich habe ücn grünen .S- . i v.
mehr Grazie verliehen m d'-r hr:'. T r fc.- v. "irce T.-.dC;;
G h a n t e c 1 e r.
Mais c.’est qu’ elie cst fetourdissante : (sie ’st sinr.herauscbend
P a t o n , ä part
Saprbail
n ne va pourtant pas aimer u n t r a e s t i !
Solche Abweidiungeu von G°schb''.chtstyj)en wi .?'? lui r P’V ' -Dd
Fasania beilegt, sind nicht nur bei den YögJn. sOL.df,.;i at! h von iu- ■
und den meisten anderen Tierspezies beschrieben; natürlich gthor.en eie, -.vi-ie.
sie auch rein äusserlich transvestitische Frscbeinungeu darstellc.i. doch mc. r
in die Geschlechtsübcrgänge zw'-iten Grades, die nicht d.s? Seelenieben,
sondern den r 1 l g o m e i n e K ö r n e r b a u bo'ref'-:n. Leber .Urr-e v-: '’ Oee
Gruppe der Zwischcastulen, für die ;u?n meines 1 '.rächten^ ‘ Uein den Au-:
„Androgynie“ reservieren sollte, fehlt bisher noch ein grösseres zn-
sammenfassendes 'A’'erk. das e-iue weseniriche Ij ü c k e m der Lreenttur
auaiüllen wurde, nachdem w .her d.ie Z'vn.schenstufen ersten ijrrades in
Neugebauers mehri.acb erwähnieiu >.'.'imr'e' ■’ nr!. über >ii’; Zwischersturen
dritten Grades m den zahlreichen Monographien über den T -anismos.
über die vierten Grades n a. in dem n orliegcnden Puche ein-'c i re Spe-
zialarbeiten besitzen.
liöi L In den Unterrock.“ Da wir wieder einmal clabei halten,
wie sich Gedanken in Wcrtpetrei’acten wiedersp’.egeln, sei noch
darauf hingewiesen, dass es für der Sprachpsychologen auch
lohnend ist, darüber naebruderken, weshalb derselbe
Name ,,R,ock“ beim Manne die Bekleidung des 0 b e r k'irpcT-s,
bin der Drau die des Unterkörpers bezeiclmet.
Lassen wir die so mannigfach wechselnden Bilder der
Kustümgeschiebte vor unseren Augen vorüberziehen, so wird
jeder leicht erkennen, wie es Länder und Perioden V’bt, in
(ici-. ; sich die fuodon de. Geseb .ochP r sehr einander ijühern
man denke der griechischen Zeit — und dann wieder
audere Epochen, wo sie sich, wie in der jetzigen, weit
Y 0 e 1 TI a n d e ) eiitferriL haben Ueber die Moden der Minne-’
zoli; schreibt E. Cüntiier:*) „D i e m ä n n 1 i c h c T r a c h i
s i B t e i n e I f e m i n i n e n C li a r a k t e r auf, der
Schmuck des Bartes ist veipönt. Dagegen sollen die
Locken, v/elche in blonder Farbe am schönsten er-
achtet werden, mit sonst nur bei den Frauen dern
gesehener I'ülic auf die Schultern hcrabfalien Oie Klei-
duug PTScheiul prächtig und wi'-kt lebhaft auf das Auge
ein, selbst die Büstung, welche nur im Kample getragen
wird, entbehrt gar oft nicht des phantastischen Beiwerkes
INjorgeiiländische Kosmotika und v ohlriechende warme Bäder
spielei bei der Toilette eine .Fauntrolle; Korsetts und Ent-
haarangsirdttei sebcineii ebenfalls nichf allzu selten gebrauebt
v'or <1 sein.' Yd. Fied^'*) sagt: ,,lm 15 Jahrhundert,
eu- . durhunöcrt vö’ijgster Moderarrhei; 'lekoHetieT'OT'.
i ä u n e r ihre Solmitern, Nacken und Arme, w i e
■■ ’ i b 1 e j n , und die Tracht soll inithelfen die Kö^-per
der beiden Geschlechtei’ einander ähnlich zu geetalten Je.
es gibt • lalsche Brüste für die Männer.“ Tn einer
Modezcituue, aus dem Jahre IbSü, dem „deutsch-trar zö-
mschen Iilodegeist“ findet sieb folgende Stelle: „Und mein,
was haben docti die Männer vor Rlcidong. welche die
VYeiber idcht alh n a c h a t f o ii , dje Uöcke, TVämm.se:’
’■< -dltiirg:-. ;ui'
|v T'
iie: Licbo-
d.'i ivV'df
.Berlin .1900.
d ‘i ■
p. ■164.
ncraiKf ■
0. J. V.;!,
■ ’.Ui
554
Mützen, Hosen, Muff, Handschuhe, Leihröcke, Schlafpelze
u. dgl. ; sobald des Mannes Volk runde Aufschläge hat, so-
bald muss sie das Frauenzimmer auch tragen.“ —
In allen Schilderungen, welche von einer Annäherung
der männlichen an die weibliche Mode und umgekehrt
handeln, mischt sich immer unverkennbar der Unterton, dass
diese Nachahmung doch eigentlich etwas recht Ver-
werfliches wäre. So heisst es in Sebastian
B r a n t s berühmtem Narrenschiff:*) „Es ziehen die weiber
jetzund daher gleich wie die mannen, vnd henken das
Haar dahinden hinab biss auff die Hüfft, mit auffge-
setzten baretlin und hütlin gleich wie die männer. P f u
der schand vnd vnzucht. 0 mensch was
spieglest du dein lang Haar herfür, das voller leuss vnd
niss ist? Ist diss dein Schatz, dein Gott, welchen du vor
andern ehrest vnd liebest? Gedenk, dass Holofernes durch
den geschmuck der Judith ^'Tnbkommen ist, vnd dass Absalon
mit dem Haar ist an der Eychen blieben hangen vnd vnib-
kommen.“ In ähnlicher Weise ereifert sich lange Zeit
später Retif de la Bretonne. Er schreibt : **)
„Sollte ich wirklich hier stille schweigen, wenn ich sehe,
wie verblendet jetzt die Frauen, ihrem eigensten
Interesse zuwider, Kleider nach männlichem Zu-
schnitt tragen, wie sie auf niedrigen Hacken einher-
stampfen, während die Modeherrchen auf hohen stelzen, wie
sie ihre Haare verschneiden, wie sie auf die ge-
schnürte Taille verzichten? . . . . Nein! Nein!
ich sage den Frauen: Den Männern zu gleichen in Schuh-
werk, in Kleidung, in Nachlässigkeit, das heisst euren
Schmuck herabwürdigen, das heisst ihm seinen Geschlechts-
charakter nehmen.“ Noch mehr forderte es stets zu verächt-
lichen Bemerkungen heraus, wenn die Männer tracht der Zeii
ein weibliches Gepräge trug; schon Vergil in seiner
Äneide hält sich über die weibliche Tracht und Lebensweise
der Phrygier mit folgenden Worten auf: „Euch machen saf-
•) Ausgabe von Zarncke. Leipzig 1854. 306tf.
**) Vgl. Retifs Schuhgeschichten, übersetzt von Elsa Lafiere.
— 555 —
rangestickte, in Purpur erschimmernde Kleider Freude, Ihr
schlendert tänzelnd einher. Eure Kriegsröcke haben Aermek
Eure Hüte niedliche Schnürchen, P h r y g i e r i n n e n seid
Ihr, nicht P h r y g i e r , lasst doch die Waffen den
Männern, begebt Euch des Eisens.“
Literaturbelege, welche ähnliche Auffassungen wieder-
geben, liessen sich von den antiken bis zu den modernen
Schriftstellern und Sittenschilderern in grosser Anzahl bringen.
Die beissendsten Satyren und Karrikaturen haben aber nie-
mals vermocht, einer Männer- oder Frauenmode — mochte sie
auch noch so ausschweifend sein — den Garaus zu machen.
Der von einer Mode ausgehende Zwang — mag er mehr sug-
gestiv oder bewusst wirken — ist eben ein ganz ungemein
starker; in höherem Masse vermag sich nach verhältnismässig
kurzer Zeit ihrer „Herrschaft“ ihr fast niemand zu entziehen.
Wollte jemand in seiner Tracht sich nur von hygienischen
Rücksichten leiten lassen — dann und wann wurde das von
einzelnen versucht — oder würde heute ein Mann oder eine
Frau in der Tracht auf der Strasse erscheinen, die vor 100
Jahren oder nur vor einem halben Jahrhundert allgemein
Mode war, sie würden bald in den Verdacht einer Psychose ge-
raten, zum mindesten für recht arge Sonderlinge gehalten
werden, und nicht nur Kinder, sondern auch "Tlrwachsene würden
den „sonderbaren Heiligen“ in Scharen folgen. Dieser unifor-
mierende Zwang gilt nicht nur von der Tracht als Ganzem,
sondern wenn gleich bei weitem nicht in so hohem Grade
auch von den einzelnen Kleidungs-„Stücken“. Während ich
dies schreibe, lese ich gerade in einer verbreiteten Berliner
Tageszeitung*) einen nach dieser Richtung bemerkenswerten
Artikel von Dr. M. Pollaszek über die „Krawatte“; trotz
mancher spöttisch gefärbten Uebertreibungen trägt der Auf-
satz einen ernsteren Charakter, gibt zum mindesten d i e
Anschauung sehr weiter Kreise wieder. Der
Verfasser knüpft an das bekannte Buch Balzacs,
den wir bereits oben als einen feinen Kleidungspsy-
chologen zitierten,**) „über die Kunst, die Krawatte auf
) Morgenpoät v. 28. 11. 09.
••) pag. 260.
556
28 Arten zu binden" an und entwirft eine anecliau-
liche Geschichte dieses Kleidungsstücks von der Zeit,
als es die K r o w a t e n in Europa einführten , bis zu den
sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts,
in denen die nicht lange zuvor noch in Byron-Manier so
stolz geschlungene Krawatte zum Shlips „dieser Spottgeburt
aus Zeugstoffrestchen und Pappe“ herabsank, um sich dann
wieder in unseren Tagen in das gebundene Halstuch zu ver-
wandeln. Der Autor sagt im Beginn seiner Abhandlung:
,,Man stelle zwei Figuren nebeneinander, die eines „Tramp“
in schäbig-zerschlissenem Kostüm, aber mit tadellos ge-
bundener Krawatte, und die eines Mannes im eleganten
Anzug, mit schlecht gebundener oder gar — Gott behüte —
genähter Krawatte, und die Wahl wird garnicht zweifel-
haft sein, der Tramp ist der Gentleman, und der andere ist
ein Kuli“, und kommt am Ende zu dem Schluss: „Freilich,
nicht ohne Wehmut muss man feststellen, dass die gebundene
Krawatte noch nicht allein regiert, dass es noch Menschen
gibt, die sich nicht entblöden, konfektionierte Shlipse
zu tragen. Aber habeant sibi, gerade dadurch wird eine Scheide-
wand gezogen zwischen den „Eugeneis“ den — Wohlgeborenen,
und der — misera plebs.“
Einige Stände und Gesellschaftsschichten gab es aller-
dings stets, denen selbst die enragiertesten und strengsten
Anhänger der jew’ eiligen Tracht etwas toleranter gegenüber-
standen; das waren diejenigen Männer und Frauen, die
durch besondere Leistungen auf geistigem Gebiet in Kunst,
Ethik und Wissenschaft, als Vertreter gleichsam der alten
Trias des Schönen, Guten und Wahren, aus der ^lenge her-
vorragten, über ihr standen. Auch in Zeiten, wo alle Männer
die Haare kurz geschnitten, die Kleider eng anschliessend
trugen, durften sich Künstler und Gelehrte längere Haare und
wallende 5Iäntcl erlauben und auch heute noch billigt man den
Künstlerinnen und studierten Frauen noch am ehesten kurzen
männlichen Haarschnitt und stärkere individuelle Abweichungen
von der regierenden Mode zu. Aehnlich verstattete man auch
stets den Magiern, Zauberern, Priestern, Richtern und an-
deren „mittierischen“ Ständen bei fast allen Völkern mehr ge-
OD i
schlechtslose Berufsgewänder, Talare und Roben. Darüber
hinaus aber verdient die Mode, welche jeweils „das Scepter
führte“ in hohem Grade das ihr so oft erteilte Beiwort;
tyrannisch.
Diejenigen, welche sich .gegen bestimmte Moden
wandten, besonders auch gegen das zeitweise Auftreten eines
stark weiblichen Gepräges der Herrenmode oder eines männ-
lichen Charakters in der Frauenmode, bedienten sich, wie wir
an verschiedenen Beispielen sahen, zumeist der Geissei des
Spottes, des scharfen Witzes, aber auch ernste eindringliche
Stimmen gewichtiger Persönlichkeiten fehlten nicht, von denen
ich hier vor allem noch eine anführen möchte. Der be-
rühmte Jurist Jhering schreibt in seinem geistvollen tief-
schürfenden Werk: „Der Zweck im Recht“*) folgendes;
„Bei allen Kulturvölkern wird der Unterschied des Ge-
schlechts äusserlich durch eine Verschiedenheit der Kleidung
kundgegeben, und dies ist nicht etwa blosser Brauch, Ge-
wohnheit, sondern Sitte, d. h. eine Einrichtung zwingen-
der Art. Ein Mann darf öffentlich nicht in Weibertracht,
ein Weib nicht in Männertracht erscheinen. Warum? Der
ästhetischen Rücksicht wegen? Es ist richtig, dass die Ver-
schiedenheit der anatomischen Struktur beider Geschlechter
eine Verschiedenheit der Gewandung bedingt, und der ästhe-
tische Gesichtspunkt mag ausreichen, um die Tatsäch-
lichkeit dieser Verschiedenheit zu erklären, aber das
*) Bd. II. 1886. pag. 311 ff. Auch der folgende Passus aus dem
bekannten Werk: „die Familie“ von W. H. E i e h 1 (^Stuttgart 1861, pag. 18)
verdiente noch erwähnt zu werden; „Die große Hauptscheidung der Tracht
in männliche und weibliche findet sich bei allen Völkern und in allen
Perioden der Geschichte. Hier ist ein wahrer Consensus gentium. Die
Zivilisation hat diesen Unterschied nicht entfernt auszugleichen vermocht.
Die besondere Frauentracht ist der handgreifliche Protest
aller Nationen gegen die Berufung von Frauen und Männern
zu gleichem Wirken. Die Frauen halten nicht mit Unrecht so viel auf
ihr Kostüm : es ist das Wahrzeichen ihrer Eigenai'tigkeit; und ein echter
Sozialist muß beim Anblick jedes Weiberrockes in die Zähne knirschen,
denn solange es noch besondere Weiberröcke gibt, ist es auch noch nichts
mit seinem folgerechten Sozialismus.“ Riehl verrällt hier in dieselben durch
irrtümliche Voraussetzungen begründeten Trugschlüsse wie Ihering.
zwingende Gebot der Sitte erklärt er uns nicht. Das Motiv
der Sitte ist nicht ästhetischer, sondern praktischer
oder ethischer Art. — — — Man male sich einmal
einen Zustand der Gesellschaft aus, in dem die Geschlechter
an der Tracht nicht zu unterscheiden wären, und man
wird über den Sinn einer Einrichtung nicht im Zweifel sein,
welche den Gegensatz des Geschlechts sofort äusserlich er-
kennbar macht. Die \ erschiedenheit der männlichen und weib-
lichen Tracht gehört zu den fundamentalsten und unerläss-
lichsten Einrichtungen der sittlichen Ordnung der Gesell-
schaft, denn sie erinnert nicht bloss das einzelne Individuum
unausgesetzt an die Rücksichten, die es im Verkehr mit dem
anderen Geschlechts zu beobachten hat, an die Schranken,
die ihm gesetzt sind in Wort und Rede und Benehmen, son-
dern sie gewährt zugleich der Gesellschaft das sicherste und
leichteste Mittel der öffentlichen Ueberwachung des Verkehrs
der beiden Geschlechter. Wir haben darin also abermals ein
Stück Sicherheitspolizei des Sittlichen vor uns, die Sitte in
ihrer sittlich - prophylaktischen Funktion.
Hätte nicht die Sitte selber in richtiger Erkenntnis von
deren Unerlässlichkeit diese zuchtpolizeiliche Sicherungs-
massregel getroffen, die staatliche Polizei
müsste es tun, und verlöre jemals die Sitte
die Macht, sie aufrecht zu erhalten, letztere müsste
an ihrer Statt die Sache in die Hand nehmen.*)
*) Hier findet sich bei Ihering eine Anmerkung, die lautet: -Wie dies von
Seiten der mosaischen Gesetzgebung ausdrücklich geschehen ist, 5. ilos. 22, ö;
„Ein Weib soll nicht Mannes Gerät tragen, und ein Mann soll nicht Wciber-
kleider antun, denn wer solches tut, ist dem Herrn, deinem Gott, ein Greuel.“
Mich aelis, Mosaisches Recht IV, § 22 verweist bei Besprechung dieser
Bestimmung auf einen Fall in London, „wo eine Mannsperson sich als Dienst-
mädchen in eine Boardingschool, darin junge Frauenzimmer erzogen wurden,
vermietet hat, wovon die Folgen nach einigen Monaten sichtbar wurden.“
Dieselbe Bestimmung ist in den letzten Dezennien in Japan getroffen.“
Dieser Anmerkung Jherings sei hinzugefügt, dass erst kürzlich aus bhaug-
h a i berichtet wurde, dass eine Chinesin wegen Tragens von Männer-
kleidung zum Tode verurteilt wurde: in Yuenwo war ein „Mann“ festge-
nommen worden, der sich wegen Kindesraubes zu verantworten hatte. Als
an ihm die zudiktierte Prügelstrafe mit Bambusstöcken vorgenonunen werden
559
Bei Kindern in dem ersten Lebensjahre pflegt das Ge-
schlecht durch die Tracht noch nicht unterschieden zu
werden, aber kaum haben sie die Kinderschuhe ausgetreten,
so beginnt bereits der Gegensatz der Tracht. Warum? Von
einer sexuellen Gefahr kann hier noch keine Kede sein.
Aber die Weisheit der Sitte hat auch hier abermals, das'
Richtige getroffen. Die Einrichtung hat einen ernsten päda-
gogischen Zweck. Die Knaben- und Mädchentracht ist der
erste Anfang der sexuellen Zucht.“
dem Bisherigen ergibt sich, in welchem Sinne wir
vom sittlichen Standpunkt aus die Bestrebungen zu beurteilen
haben, den Gegensatz der männlichen und weiblichen Tracht
zu einer Art von Hermaphroditentum in der
Tracht abzuschwächen. Von Seiten des männlichen Ge-
schlechts sind sie nicht zu befürchten, die Annäherungsver-
suche gehen stets nur vom weiblichen aus, und in der heutigen
Zeit haben sie einen Grad erreicht, dass man beim Anblick
sollte, stellte es sich heraus, dass der Delinquent ein Weib war. Obwohl sie
erklärte, Manneskleider angelegt zu haben, weil sie sich nach dem Tode ihres
Gatten nicht habe ernähren können, wurde sie „wegen Schändung der öffent-
lichen Moral“ zum Strang verurteilt. Diese Härte der beiden grossen mongo-
lischen Nationen dem Geschlechtsverklcidungstrieb gegenüber ist um so ver-
wunderlicher, als sich diese bekanntlich seit altersher den auf die R i c h t u n g
des Geschlechtstriebes sich beziehenden Anomalien gegenüber grosser Toleranz
befleissigen. Zu dem, was ich in dem Kapitel über „Geschlechtsverkleidung
und Strafgesetz“ (pag. 343ff.) anführte, sei hier noch erwähnt, dass sich
auch Prof. Dr. Näcke gegen ein Verbot •andersgeschlechtlicher Verkleidung
gewandt hat. Er tut dies in einem Nachwort zu einer in dem Archiv für
Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik (Bd. XIV. pag. 57) von Amtsge-
richtsrat Dr. Wilhelm erschienenen Arbeit, in welcher dieser bekannte
Jurist in sehr beachtenswerter Weise über die Prozessgeschichte eines im
Jahre 1902 in Strassburg i. E. verhafteten Mannes schreibt, der daselbst
längere Zeit als weibliche Prostituierte sein Unwesen getrieben hat, nachdem
er sich angeblich vorher 9 Jahre und 4 Monate in der Schweiz als Kellnerin
aufgchalten hat. In dem soeben erschienenen grossen Werke „Der Sexual-
verbrecher“ fpag. 572) äussert sich Staatsanwalt Dr. Wulffen da-
hin, dass „das Anlegen von Kleidern die dem eigenen Geschlecht wider-
sprechen, als Verübung groben Unfugs angesehen werden kann, wenn es
öffentlich geschieht und eine Belästigung oder Beunruhigung des
Publikums hervorruft.“
560
mancher weiblichen VVcBeu glauben möchte, sie hä-ten eins
Herreiigarderobe geplündert Nur e t n W e i b , da;, d a ^
Weib in sich vergisst oder v e ^ g e £ o e r
machen möchte und die fei’e T)i-ne odci
das e m a n z i p ■ . t t e f*" r a u e n ? i m m c r k a a i e n l
den Gedanken geraten, die 8 t h r a n k c ,
welche d i e S i 1 1 e mit weisem o i b c d c. h ■.
zwischen Mann und Weih e i r i o h t, e t Lat,
11 i e d e r z u r e i 6 s e n , und nur di'* Dun) rr. ' e i i
und Urteilslosigkeit kann sich e r 1 e i t e n
lassen, ein solches Beispiel n a c h z u ä t i , o .
ln Sodom und Gomorrha mag auch das Mole gewcseu £eu!; i"
einem Gemeinwes«?u, wo noch 7ucht und Sitte herrscht,
sollte man jedes solcher Begiuncn m 1 < \ e r a c L t ■ n g
strafen.“
Dieser Aufwand von Faihoi und Entrüstung is nrht
angebracht, bipr •>!Tüluritc Een : r- isn u rh-du Gesetze zeigt
' ,1:: zL, orten Worte, dm^s ihm t - "s. L:
die Kleidung als Ausdrucksform seelischer /liudae-..:
gebend sind, nicht geläufig w a r o n. Soir Ih usi uu:;
Eifer ist ebenso sehr ein Aus.finss unbevussrer HubiCi<tivität,
wie der Spott Sebastian Brants im „Narrenschiff“ und das
„Du sollst“ des Deuteronomiums. Der Gharpktei eines Wcjtv''-
als einer „feilen Dirne“ oder eines ,,ema'izirier*en Frauoii-
zimmers“, um mich der Ausdrücke Jheriugs zu bedienen, ui
nicht durch ihre Kieidung bedingt; das Snrü'h-n, orl „Ivloidec
machen Leute“, w'elchco docl: um besagen will, dass ir.r.ii
durch das Kleid der Eindruck erv'eckt werde'' köu'ute, als ob
in dem reich geschmückten- Gewmnd auch eiu reicher M; im,
in der vornehmen Toilette eine vornahine Dame stecke, ist
doch nur ein Sprach l-'U' an de* 0.;'-:.-rf lache haftO'.dc üe-
müter, ebenso naiv, als wollte imin eine Walle veraiil>.n-b
lieh machen für den, der sit. fiihrttc ,.Das IlerTnaphroditentuc
in der Tracht“, die stärkere Annäherung also der weibiiehen an
die männliche Kleidung bei einzelnen Itcrscnen hui. rnit Zuchi
und Moral eines Gemeinwesens nichts zu tun. „Dieses llei-
m a p h r 0 d i t e n t u m in der Tracht“ — die Be-
zeichnung ist von Jhering trelfe'ud gewählt — deutet nur au,
561
dass i be-stjirimten Menschen die männliche und weibliciie
Fsycim Korüpiiyderter j^emischd auft.ritt, als ln anderen,
Sprache imd Schrift, die Bewegung und die
K. 1 c 1 d • n g des Menschen haben das gemeinsam dass sie
rwar a, sich etwas Erlerntes sind, das der eine von
(1:..': andein übernimmt, jeder aber nach seiner ludi-
%' 1 d u a 1 i t ä t II ü a ü z i e r t. Wohl sieht eine Person
dei andern die Vokale und Konsonanten, die Auf- und Ab-
atri^’be uej- Puciisiaben, die Beugung und Streckung der
r'iicder, dis Formen der Mode ab; und doch gibt sin jeder
diesen Dingen ein persönliches chaiakte-
r i s t i R c h e s Gepräge, bered'.' für den, der es zu lesen
versteht. Die Kleiinng und Verklädang sind in dic^eni Snme
auf der einen Seite Gel weniger ä u s s e r 1 i c h als sie
sche.b^'^n, da sie ein gutes leil des inneren Menschen
w I d 0 r 8 p i e g e 1 n ; sie sind andererseits aber auch
v,drd 'i ir n ä u s s e r 1 i c h e r , als wir giauber, da sie doch
eben nur Abbi!d;r, Symbole, äussere Projektion ' . b 1;!?^:
denen als stationäres, ausschlaggebendes Gebiidc dc' Mensch
in ?.ein‘.T i ii n e e n Eigen arc steht. Dieses Wesen
d . r P G r B ö n ' ‘ h k c i t zu e r g r ü n u e n i s t ei r j
0 e r wie h t i g - 1 e n A u f g a b s n , u in e i ii a u d s ^
V ! ■ e li t n n d g e r e ■ ; h t beurteilen z v. k 5 i'i n e n .
.'dierzu möchte dieses Buch em Beitrag sein.
hVir können uns alle n^ciit davon freisprecheu, die
?t'erisihoj. viel zu sehr generalisiert, viel zu lauge nach der
•h c h a b ] o n e , :.asi j.uöciiti ich sagen, als Duizei)u\\me ue-
i.'.undelt za haben; wir haben dadmeh vielen Unrecht get<ari,
viel Scüones lai Keime vernichtet, vdei Guter- a n u ro g e -
s e t ; t everkümraern lassen und so den Fortschritt des Gan/cu
f’L'be-r!;ui., W i i h b e r n ; c h i d a s P. e c h t . M ■; n -
s e n ? ü V -M- d a ni Ul c u , ci i e w i r n i c n t h 1 1 c u .
denen wir nicht einmal helfen können. W’ir
haben 'nicht da.ö Recht, jeniandoii ?.a rmbten, weil uns seine
Eigenart fiemd, unverstäuddich. viGkidii sogar unangenehm
ist. Eiueu Krieger de’’ eio:;r) Kameradon um seiuer Ver-
wi..idung 'wühm sohat-zt. w^orde luan g;aosa:n nennen;
Gst et;em.u g'ausar' ist et scebsch Y^undr, (ich sage nicht
; V b. 0 D i 1 -1 ,
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'i M r r-u .vr,otiti. ..
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Kranke), die nur zu oft Opfer der Vererbung sind, „mit
Verachtung zu strafen,“ "wie es Jhering fordert.
Zwei Erscheinungen gibt es, in der Natur, wunderbarer
und wundervoller als alle biblischen Wunder zusammen: die
Vererbung und die Mannigfaltigkeit, das Ge-
meinsame und das Besondere, das Bleibende
und das Wechselnde. Die Wunder der Vererbung, ge-
bunden an zwei Keimzellen, von denen die w e i b 1 i c h e die
Grösse einer Stecknadelspitze hat, die männliche 1700
Mal kleiner ist, sind in den letzten Generationen viel, wenn
auch bei weitem noch nicht ausreichend
studiert worden*). Noch viel weniger aber wissen wir bisher
von den Gesetzen der Mannigfaltigkeit, vom Wesen der Per-
sönlichkeit.
Die hier gegebenen Beispiele aus der Transvestiten-
gruppe sind augenfällige, markante, wenn auch ver-
hältnismässig seltene Fälle; ihre Bedeutung liegt aber nicht
so sehr in ihnen selbst als darin, dass uns die stär-
keren Grade die leichteren verständlich machen. Nach der
einen Richtung sahen wir den Geschlechtsverkleidungstrieb
sich noch bis zum Geschlechtsverwandlungswahn steigern,
auf der andern Seite stehen aber die ungleich zahlreicheren
Personen, in denen derselbe andersgeschlechtliche Einschlag
geringfügiger, aber doch erkenntlich und sicher-
lich der Beachtung wert in die Erscheinung tritt.
Je mehr wir uns in das Wesen der Persönlichkeit ver-
tiefen, in um so höherem Masse werden wir erkennen, dass
in dieser an Naturschönheiten und Sehenswürdigkeiten gewiss
reichen Welt nichts anziehender ist und wür-
diger, erkannt und erlebt zu werden, als
der Mensch.
*) Neben Darwin verdient hier vor ailem der Brunner Prälat Gregor
Mendel (1822—1844) genannt zu werden, dessen Versuche und Anschau-
ungen über die gesetzmässige Bedeutung individueller
Eigenschaften für die Vererbung in Deutschland bisher
wenig Beachtung gefunden haben, während sie in England unter dem Namen
„M endelismus“ bereits seit längerer Zeit im Vordergründe des biolo-
gischen Interesses stehen. (Vgl. u. a. R. C. Punnett: jMendelism.*
n. edition, Cambridge, Bowes and Bowes 1909.)
Im gleichen Verlag sind erschienen:
(Die Transvestiten)
Von Dr. Magnus Hirschfeld und Max Tilke
Illustrierter Teil
2. Auflage
Ein Band mit 54 Tafeln auf Kunstdruckpapior
mit ca. 125 hochinteressanten Abbildungen
Preis gebunden 10 M.
I. Ethnographisch-historischer Teil
II. Allgemeiner Teil.
ii€ Mali3r^€§di€ Her
Eine "-emeinverständliche Untersuchung über den
Liebes-Eindruck, Liebes-Drang und Liebes-Ausdruck
von
Dr. Magnus Hirschfeld
Mit 2 erläuternden Abbildungen
Preis broschiert 4 M., elegant gebunden 6 M.
2. Auflage
In dieser hochinteressanten Publikation untersucht der bekannte
Sexualforscher die Gesetze, nach denen in uns Liebe und Haß, Zu-
neigung und Abneigung ihre folgenreiche Wirksamkeit entfalten.
In fließender und lercht verständlicher Sprache reißt der beliebte
Verfasser durch seine packenden Ausführungen den Leser mit sich
fort, mit steigender Spannung liest man dieses eigenartige und bedeut-
same Buch schnell bis zu Ende, um alsdann ruhiger zu Lieblings-
abschnitten zurückzukehren.
Der bekannte Publizist Dr. Plenske berichtet über das Buch:
„Das hochinteressante Werk des bekannten Sexualforschers: , Natur-
gesetze der Liebe* darf nicht nur dem berühmten Buche Mantegazzas:
Physiologie der Liebe' ebenbürtig an die Seite gestellt werden. — es
überragt sogar — was die lebenswahre und klare Darstellung der bis
zur Gegenwart mit bewundernswürdiger Feinheit auegeführten Essays an-
bütrifft, alles bisher aufdem Geschlechtsgebiete Erschienene.
Rs ist ein Werk von ungewöhnlichem Interesse, von höchst wissen-
schaftlichera Werte und doch so populär geschrieben, daß es voll und
ganz dazu geeignet ist, Gemeingut der gebildeten Menschheit
zu werden.“
Ira gleichen Verlage ist erschienen:
Qeschieditsüöergänge
jVIiseliungen
männlicher und weiblicher Geschleclitscharaktere
Sexuelle Zwischenstufen
Erweiterte Ausgabe eines auf der 76. Naturforscher-
Versammlung zu Breslau gehaltenen Vortrages
von
Dr. Magnus Hirschfeld
Mit ausführlicher Beschreibung und Würdigung zweier neuer Fälle
von Hermaphroditiamus sowie 83 Abbildungen, zwei Texttiguren
und einer farbigen Tafel (größtenteils Originale)
Preis elegant broschiert 6 M.
In dieser Arbeit gibt Dr. Hirschfeld eine zusammenhängende
textliche und bildliche Darstellung der zwischen Männern und Frauen
vorkommendon Zwischenformen. Im ersten Teil begründet der Ver-
fasser die Gesetze, welche für das Wesen und die Entstehung der
Gcschlechtsunterschiede in Betracht kommen. Als besonders wichtig
stellt er zwei Gesetze auf: einmal, daß in jedem Lebewesen, das
aus der Vereinigung zweier Ge.schlechtsweaen hervorgegangen ist,
neben den Zeichen des einen Ge.schlechts die des anderen in sehr
verschiedenen Gradstufen Vorkommen, und dann, daß die Mannig-
faltigkeit der Individuen in somatischer und psychischer Hinsicht in
erster Linie von dem sehr variablen Mischungsverhältnis männlicher
und weiblicher Attribute abhängt. Nachdem er dann im zweiten
Teil zwei Fälle besonders starker Mischung der Geschlechtscharaktere
eingehend beschrieben hat, stellt er auf 32 Tafeln mit Erklärungen
die Haupttypen des Hermaphroditismus dar. Beginnend mit makro-
skopischen und mikroskopi.schen Photographien echter menschlicher
Zwitterdrüsen, schildert er die verschiedenen Arten des Scheinzwittcr-
tums, gibt Beispiele von Umkehrungen auf dem Gebiete der sekun-
dären Geschlcchtscharaktere , wie Männer mit weiblichen Brüsten,
Frauen mit männlichem Gesichtsausdruck, Frauen mit stattlichen
Vollbärten. Männer, bei denen — mit Ausnahme der Sexualorgane —
anatomisch alles weiblich ist. Hirschfeld beendet den Zyklus durch
.Abbildungen einiger berühmter urnischcr Freunde.spaare.
Das Buch Hirschfelds ist von größter Bedeutung für die Erkenntnis
und Würdigung des menseldicheu Seelen- und Trieblebens, zugleich
aber auch ein Bilderatlas, wie er bisher nicht geboten wurde.
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